Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.542/2016
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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2C_542/2016            

 
 
 
Urteil vom 27. November 2017  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Seiler, Präsident, 
Bundesrichter Zünd, 
Bundesrichterin Aubry Girardin, 
Gerichtsschreiber Errass. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, vertreten durch 
Rechtsanwalt Peter Wicki, 
 
gegen  
 
Amt für Migration des Kantons 
Luzern, 
Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Luzern. 
 
Gegenstand 
Ausländerrecht, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern, 4. Abteilung, vom 6.
Mai 2016 
(7H 15 270/7U 15 40). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ (Türke) wurde am 9. Januar 1970 in der Schweiz geboren. Ab 1972
lebte er abwechslungsweise bei seinen Grosseltern in der Türkei oder aber in
der Schweiz; in der Türkei besuchte er die Grundschule. Ab 8. August 1982
wohnte er in der Schweiz und erhielt im Rahmen des Familiennachzugs seiner
Eltern eine Niederlassungsbewilligung. Er war zweimal verheiratet und hat aus
erster Ehe einen volljährigen Sohn. 
Am 14. September 2000 verwarnte das Amt für Migration und Integration des
Kantons Aargau A.________. Anlass bildeten seine Schulden. Im Rahmen des
Kantonswechsels drohte ihm das Amt für Migration des Kantons Luzern am 6.
Januar 2011 den Widerruf der Niederlassungsbewilligung an, weil er mehrere
strafrechtliche Verurteilungen aufwies und seine Verschuldung zugenommen
hatte. 
 
B.  
Am 4. September 2014 wurde A.________ des mehrfachen Betrugs, der mehrfachen
Urkundenfälschung und der Nichtabgabe der entzogenen Kontrollschilder und des
Fahrzeugausweises trotz behördlicher Aufforderung schuldig gesprochen und zu
einer bedingten Freiheitsstrafe von zwölf Monaten bei einer Probezeit von drei
Jahren verurteilt. Am 20. April 2015 widerrief das kantonale Migrationsamt die
Niederlassungsbewilligung von A.________ und wies ihn aus der Schweiz weg. Die
dagegen erhobene Verwaltungsbeschwerde hiess das Justiz- und
Sicherheitsdepartement nur in Bezug auf die unentgeltliche Rechtspflege gut, im
Übrigen wurde sie aber abgewiesen. Das in der Folge angerufene
Verwaltungsgericht wies die Verwaltungsgerichtsbeschwerde am 6. Mai 2016 ab. 
 
C.  
Vor Bundesgericht beantragt der Beschwerdeführer, das Urteil des
Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 6. Mai 2016 mit Ausnahme der
Gutheissung der unentgeltlichen Rechtspflege aufzuheben und ihm die
Niederlassungsbewilligung zu belassen. Eventualiter sei die Sache zur weiteren
Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem verlangt er unentgeltliche
Rechtspflege. 
Das Bundesgericht hat die Akten beigezogen. 
Mit Verfügung vom 15. Juni 2016 erteilte der Präsident der II.
öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts der Beschwerde
aufschiebende Wirkung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Auf die Beschwerde ist einzutreten (Art. 82, Art. 83 [BGE 135 II 1 E.
2.1.1 S. 4] i.V.m. Art. 86 Abs. 1 lit. d, Art. 89 Abs. 1, Art. 90, Art. 100
Abs. 1 und Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG).  
 
1.2.  
 
1.2.1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, wie die
Vorinstanz ihn festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann diesen - soweit
entscheidrelevant - bloss berichtigen oder ergänzen, wenn er offensichtlich
unrichtig oder in Verletzung wesentlicher Verfahrensrechte ermittelt wurde (
Art. 105 Abs. 2 BGG). Nach Art. 99 Abs. 1 BGG können neue Tatsachen und
Beweismittel im bundesgerichtlichen Verfahren nur so weit vorgebracht werden,
als der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt. Echte Noven, d.h. nach dem
Datum des vorinstanzlichen Entscheids entstandene Tatsachen oder Beweismittel,
sind vor Bundesgericht unzulässig (BGE 139 II 120 E. 3.1.2 S. 123; 136 II 497
E. 3.3 S. 500 f.).  
 
1.2.2. Der Beschwerdeführer rügt zunächst eine offensichtlich unrichtige
Feststellung des Sachverhalts in Bezug auf folgende zwei Aspekte: er sei als
Ausländer zweiter Generation zu behandeln und die Ausführungen der Behörde bei
der Verlängerung des Ausweises sei eine verbindliche Zusage. Diesbezüglich
handelt es sich indes nicht um Sachverhaltsfeststellungen, sondern um Fragen
der Rechtsanwendung. Diese werden deshalb dort behandelt.  
Der Beschwerdeführer macht sodann geltend, dass die Vorinstanz aktenwidrig die
Summe der offenen Verlustscheine festgestellt habe. Dies ist zutreffend und zu
korrigieren (Art. 105 Abs. 2 BGG) : Die Vorinstanz hält zwar die korrekte
Anzahl der offenen Verlustscheine (24) fest, offensichtlich hat sie die Beträge
aber falsch zusammengerechnet. Der Betrag beläuft sich im Zeitraum vom Januar
2011 (zweite Verwarnung) bis 28. Mai 2015 (Ausstellungsdatum
Betreibungsregisterauszug) somit auf rund Fr. 180'000.--. 
 
1.2.3. Der Beschwerdeführer reicht sodann Unterlagen ein, welche auf seine
schwieriger als erwartet verlaufenden gesundheitlichen Probleme hinweisen und
welche belegen, "dass nach wie vor keine neuen Betreibungen laufen". Die
Unterlagen sind echte Noven und deshalb nicht zulässig. Daran ändert auch
nichts, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sporadisch auf die
weitere Entwicklung abstellt, wie der Beschwerdeführer geltend macht.  
 
2.  
Der Beschwerdeführer macht geltend, dass mangels einer beantragten mündlichen
Anhörung vor kantonalen Instanzen der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt
und der Sachverhalt unvollständig festgestellt worden sei. Wie bereits die
Vorinstanz ausgeführt hat, räumt Art. 29 Abs. 2 BV keinen Anspruch auf eine
mündliche Anhörung ein (BGE 134 I 140 E. 5.3 S. 148; BGE 5A_510/2016 vom 31.
August 2017 E. 4.2, zur Publikation vorgesehen). Der Anspruch auf rechtliches
Gehör kann durch kantonales Verfahrensrecht zwar über die Minimalgarantie von 
Art. 29 Abs. 2 BV hinaus ausgedehnt werden, was der Beschwerdeführer aber nicht
geltend macht (Art. 106 Abs. 2 BGG). Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist sodann nicht
anwendbar (vgl. BGE 137 I 128 E. 4.4.2 S. 133). 
 
3.   
 
3.1. Der Beschwerdeführer rügt ferner eine Verletzung des Grundsatzes von Treu
und Glauben. Das verfügende Amt habe im Rahmen der Verlängerung des Ausweises
für die Niederlassungsbewilligung deren Widerruf geprüft und dabei angekündigt,
dass nur - aber immerhin - dann fremdenpolizeiliche Massnahmen geprüft würden,
falls eine relevante strafrechtliche Verurteilung erfolgen sollte.  
 
3.2. Das Gebot von Treu und Glauben kennt mehrere Ausprägungen: Im vorliegenden
Fall stehen der Grundsatz des Vertrauensschutzes einerseits und das Verbot
widersprüchlichen Verhaltens andererseits im Vordergrund (zu den Ausprägungen
TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2014, § 22
Rz. 2; DUBEY/ ZUFFEREY, Droit administratif général, 2014, S. 258 ff.). Die
Vorinstanz behandelt die Angelegenheit eher unter dem Grundsatz des 
Vertrauensschutzes und kommt zum Schluss, dass eine Vertrauensgrundlage fehle.
Der Beschwerdeführer moniert dagegen eher eine Verletzung des  Verbots
widersprüchlichen Verhaltens (zur engen Beziehung zwischen dem Vertrauensschutz
des Bürgers und dem an die Behörden gerichteten Verbot, sich widersprüchlich zu
verhalten, THOMAS GÄCHTER, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, 2005, S.
187). Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens untersagt folgewidriges und
schwankendes Handeln. Behörden dürfen von einem Standpunkt, den sie in einer
bestimmten Angelegenheit einmal eingenommen haben, nicht ohne sachlichen Grund
abweichen (dazu TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, a.a.O., § 22 Rz. 21). Die Abgrenzung
zwischen den beiden Ausprägungen ist allerdings umstritten. In jedem Fall sind
die Voraussetzungen gleich: Voraussetzung für eine Berufung auf
Vertrauensschutz ist danach, dass die betroffene Person sich berechtigterweise
auf die Vertrauensgrundlage verlassen durfte und gestützt darauf nachteilige
Dispositionen getroffen hat, die sie nicht mehr rückgängig machen kann. Die
Berufung auf Treu und Glauben scheitert sodann, wenn ihr überwiegende
öffentliche Interessen entgegenstehen (dazu BGE 137 I 69 E. 2.5.1 S. 72 f.).  
 
3.3. Das kantonale Migrationsamt hat am 24. April 2013 gegenüber dem
Beschwerdeführer Folgendes festgehalten:  
 
"Aufgrund der Aktenlage stellen wir fest, dass polizeiliche Interventionen
stattgefunden haben. Dazu werden aktuell Abklärungen getätigt. Da dieses
Verfahren noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, sind wir bereit, Ihre
Bewilligung (recte: Ausweis) bereits zum heutigen Zeitpunkt zu erneuern. Wir
machen Sie aber darauf aufmerksam, dass wir fremdenpolizeiliche Massnahmen in
Prüfung nehmen werden, falls ein pendentes Verfahren zu einer strafrechtlichen
Verurteilung führen sollte." 
 
Der Beschwerdeführer vertritt nun die Auffassung, dass die Behörde sich damit
für die Zukunft festgelegt habe, dass nur eine strafrechtliche Verurteilung zu
einer fremdenpolizeilichen Massnahme führen könne, unabhängig von zukünftig
weiterem, nicht strafrechtlichen Verhalten. Das kantonale Migrationsamt hat
indes keinen Standpunkt in Bezug auf das Verhalten des Beschwerdeführers
eingenommen, welcher dem später in der Verfügung eingenommenen Standpunkt
entgegenstehen würde. Es hat lediglich festgestellt, dass ihnen polizeiliche
Interventionen bekannt seien. Sollten diese zu einer strafrechtlichen
Verurteilung führen, so wären alsdann fremdenpolizeiliche Massnahmen zu prüfen.
Die dem Beschwerdeführer mitgeteilten Informationen im Rahmen der Erneuerung
des Ausweises umschreiben lediglich den zukünftigen Ablauf, falls sein
vergangenes Verhalten zu einer strafrechtlichen Verurteilung führen würde.
Insofern hat das Migrationsamt keine vertrauensbildenden Aussagen gemacht, die
im Widerspruch zur später erlassenen Verfügung stehen könnten. Abgesehen davon
ist nicht ersichtlich, welche nicht wieder rückgängig zu machenden
Dispositionen (aktiven Handlungen oder Unterlassungen) der Beschwerdeführer
getroffen hat. 
 
4.   
 
4.1. Nach Art. 63 Abs. 2 AuG kann die Niederlassungsbewilligung von Ausländern,
die sich seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der
Schweiz aufhalten, nur widerrufen werden, wenn der Ausländer gegen die Vorgaben
von Art. 62 Abs. 1 lit. b AuG verstossen hat oder die Ausländerin oder der
Ausländer in schwerwiegender Weise gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung
in der Schweiz oder im Ausland verstossen hat oder diese gefährdet oder die
innere oder die äussere Sicherheit gefährdet (= Widerrufsgrund von Art. 63 Abs.
1 lit. b AuG).  
 
4.2. Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer die
Voraussetzungen von Art. 62 Abs. 1 lit. b AuG nicht erfüllt. Die Vorinstanzen
haben deshalb gestützt auf Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG die
Niederlassungsbewilligung des Beschwerdeführers widerrufen. Dieser rügt indes,
dass in seinem Fall unzulässigerweise von Art. 62 Abs. 1 lit. b AuG auf Art. 63
Abs. 1 lit. b AuG ausgewichen werde. Zu prüfen ist deshalb, ob dieser
Widerrufsgrund gegeben ist.  
 
4.3. Damit Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG angewendet werden kann, muss der Ausländer
in schwerwiegender Weise gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung
verstossen haben. Ein schwerwiegender Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit
und Ordnung besteht in erster Linie, wenn die ausländische Person durch ihre
Handlungen besonders hochwertige Rechtsgüter wie namentlich die körperliche,
psychische und sexuelle Integrität eines Menschen verletzt oder gefährdet hat.
 
Nach der Rechtssprechung (vgl. Urteil 2C_106/2017 vom 22. August 2017 E. 3.2
und 3.3 [Auflistung verschiedener Konstellationen]) können indes auch
vergleichsweise weniger gravierende Pflichtverletzungen als "schwerwiegend" im
Sinne von Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG bezeichnet werden. So ist ein Widerruf der
Niederlassungsbewilligung namentlich auch dann möglich, wenn sich eine
ausländische Person von strafrechtlichen Massnahmen bzw. ausländerrechtlichen
Verwarnungen nicht beeindrucken lässt und damit zeigt, dass sie auch zukünftig
weder gewillt noch fähig ist, sich an die Rechtsordnung zu halten. Somit kann
auch eine Summierung von Verstössen, die für sich genommen für einen Widerruf
nicht ausreichen würden, einen Bewilligungsentzug rechtfertigen, wobei nicht
die Schwere der verhängten Strafen, sondern die Vielzahl der Delikte
entscheidend ist (vgl. BGE 139 I 16 E. 2.1 S. 19; 137 II 297 E. 3.3 S. 303).
Auch das Nichterfüllen von öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen
Verpflichtungen kann gegebenenfalls einen schwerwiegenden Verstoss gegen die
öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen, wenn die Verschuldung mutwillig
erfolgt ist (Art. 80 Abs. 1 lit. b der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über
Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit [VZAE; SR 142.201]). Werden weniger
gravierende Pflichtverletzungen als "schwerwiegend" betrachtet, so ist indes im
Auge zu behalten, dass die weniger gravierenden Pflichtverletzungen unter
Berücksichtigung zusätzlicher Elemente insgesamt gleich gewichtig sein müssen
wie ein schwerwiegender Verstoss. 
 
4.4. Mit Verfügung vom 6. Januar 2011 hat das Migrationsamt des Kantons Luzern
den Zuzug des Beschwerdeführers vom Kanton Aargau in den Kanton Luzern
gutgeheissen und diesem den Widerruf der Niederlassungsbewilligung angedroht
für den Fall, dass sein Verhalten künftig erneut zu Klagen Anlass geben oder
dieser erneut straffällig werden sollte, und ihn deshalb eindringlich verwarnt.
Gestützt auf die verschiedenen strafrechtlichen Verfehlungen und Schulden ist
das Migrationsamt zum Schluss gekommen, dass der Widerrufsgrund nach Art. 63
Abs. 1 lit. b AuG zwar gegeben sei, der Widerruf aber den Umständen
entsprechend noch nicht angemessen gewesen wäre, weshalb dem Beschwerdeführer
eine letzte Chance zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, um die Schulden
abzubauen bzw. keine mehr anzuhäufen, gegeben werden sollte. Das Migrationsamt
hat sich somit bereits in der Verfügung vom 6. Januar 2011 auf den
Widerrufsgrund nach Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG gestützt. Diese Verfügung ist in
Rechtskraft erwachsen (dazu 2C_1018/2016 vom 22. Mai 2017 E. 3.2).  
Genügten somit bereits die in der Verfügung vom 6. Januar 2011 aufgeführten
Verfehlungen, um den Widerrufsgrund von Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG zu erfüllen,
bedarf es für die erneute Erfüllung dieses Widerrufsgrundes nur noch geringerer
Anforderungen. Dies bedeutet zwar nicht, dass bei jedem noch so geringfügigen
weiteren Delikt eine aufenthaltsbeendende Massnahme ergriffen werden müsste,
doch hat sie zur Folge, dass die Eingriffsschwelle abgesenkt wird gegenüber
einem erstmaligen Setzen von Widerrufsgründen (vgl. 2C_451/2015 vom 28. April
2016 E. 5). Dabei ist auf Sinn und Zweck der Verwarnung zu achten: Personen
sollen nach der Verwarnung einen Entwicklungs- und Reifeprozess durchgemacht
haben. Insgesamt soll ein tragfähiges Zukunftsprojekt ersichtlich sein, welches
eine allfällige Rückfallgefahr auf ein hinzunehmendes Mass reduziert (vgl.
Urteil 2C_503/2016 vom 8. Dezember 2016 E. 3.4). 
 
4.5. Beim Beschwerdeführer sind  nach der Verwarnung keine positiven
Entwicklungen bzw. Reifungen erkennbar. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall:  
 
- Mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Emmen vom 4. Januar 2012 wurde der
Beschwerdeführer wegen pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall mit Fremdschaden
(Nichtgenügen der Meldepflicht), Nichtbeherrschens des Fahrzeuges (mangelnde
Aufmerksamkeit mit Personenwagen, begangen durch Bedienen eines Mobiltelefons),
Überlassens eines Personenwagens an einen Führer, der den erforderlichen
Führerausweis nicht besitzt, Überlassens des Fahrzeuges an einen nicht
fahrfähigen Führer, unsachgemässen Bedienens des Fahrzeuges durch Erzeugen von
übermässigem Lärm (begangen durch fortgesetztes unnötiges Herumfahren in
Ortschaften) und Begünstigung zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je Fr.
50.00, bedingt ausgesprochen mit einer Probezeit von 2 Jahren, sowie einer
Busse von Fr. 1'800.00 bestraft; 
- Mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft vom 4. Juli 2012 wurde er wegen
Nichttragens der Sicherheitsgurten durch die Fahrzeugführerin oder den
Fahrzeugführer mit einer Busse von Fr. 60.00 bestraft; 
- Mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft vom 15. Oktober 2012 wurde er wegen
Parkierens innerhalb des signalisierten Parkverbots bis 2 Stunden mit dem PW zu
einer Busse von Fr. 40.00 bestraft; 
- Mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Luzern vom 5. Februar 2014 wurde er
wegen Benützens eines öffentlichen Verkehrsmittels ohne gültigen Fahrausweis
mit einer Busse von Fr. 60.00 bestraft; 
- Mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Luzern vom 27. Februar 2014 wurde er
wegen Benützens eines öffentlichen Verkehrsmittels ohne gültigen Fahrausweis
mit einer Busse von Fr. 80.00 bestraft; 
- Mit Urteil des Kriminalgerichts des Kantons Luzern vom 4. September 2014
wurde er wegen mehrfachen Betrugs, mehrfacher Urkundenfälschung, wegen
Nichtabgabe der entzogenen Kontrollschilder und des Fahrzeugausweises mit einer
Freiheitsstrafe von 12 Monaten bedingt vollziehbar mit einer Probezeit von 3
Jahren verurteilt. 
 
Alle den strafrechtlichen Verurteilungen zugrunde liegenden Handlungen sind
nach der Verwarnung erfolgt: Innerhalb von rund zweieinhalb Jahren somit sechs
sanktionierte Verfehlungen. Ins Gewicht fällt vor allem die Verurteilung wegen
der beiden Straftaten Betrug und Urkundenfälschung (letzter Punkt der oben
aufgeführten Liste), die er  nur rund ein halbes Jahr nach der ausgesprochenen
Verwarnung begangen hatte. Allerdings zeigen auch die SVG-Delikte, dass der
Beschwerdeführer sich von strafrechtlichen Massnahmen bzw. ausländerrechtlichen
Verwarnungen nicht beeindrucken lässt und in Zukunft nicht gewillt ist, sich an
die Rechtsordnung zu halten. Er schliesst damit nahtlos an sein Verhalten vor
der Verwarnung an.  
Daneben sind  nach der Verwarnung auch verschiedene Betreibungen und offene
Verlustscheine hinzugekommen. Der Beschwerdeführer gibt indessen an und hat
auch bereits vor Vorinstanz darauf hingewiesen, dass diese aus älteren Schulden
resultierten. Die Vorinstanz hat sich damit nur rudimentär auseinandergesetzt,
was allerdings nicht schadet: Denn offensichtlich basieren gewisse Betreibungen
auf nach der Verwarnung vorgenommenen Handlungen wie auch die Vorinstanz zu
Recht festgestellt hat. Dazu gehören zum einen kleinere Beträge und zum anderen
die Betreibungen der beiden Banken von insgesamt Fr. 82'000.--. Die diesen
zugrunde liegenden Schulden sind zudem als mutwillig entstanden zu
qualifizieren. Dass diese beiden Beträge dem Migrationsamt bei der Ausstellung
des Niederlassung  ausweises bekannt gewesen seien, ist wie bereits ausgeführt
nicht relevant. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass bei Betreibungen, die erst
jetzt erfolgen, die Schuld zwar vor der Verwarnung entstanden sein kann, das
für die Betreibung auslösende Element aber erst nach der Vermutung
stattgefunden haben könnte, indem der Beschwerdeführer etwa seiner
Zahlungsverpflichtung erst nach der Verwarnung nicht nachgekommen ist oder ihm
bis nach diesem Zeitpunkt ein Zahlungsaufschub zugestanden wurde.  
Angesichts der zahlreichen neuen strafrechtlich relevanten Handlungen und dem
zahlreichen Nicht-Nachkommen seiner finanziellen Verpflichtungen ist bei ihm
nach der Verwarnung vom 6. Januar 2011 weder eine positive Entwicklung noch
eine Reifung festzustellen. Insgesamt ist damit der Widerrufsgrund von Art. 63
Abs. 1 lit. b AuG erfüllt (siehe auch die Kasuistik im Urteil 2C_106/2017 vom
22. August 2017 E. 3.3). 
 
5.   
 
5.1. Der Widerruf muss verhältnismässig sein (Art. 96 Abs. 1 AuG), was sich
auch aus Art. 8 Ziff. 2 EMRK ergibt (vgl. BGE 135 II 377 E. 4.3 S. 381). Dies
erfordert eine Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten
Interessen, bei welcher namentlich die Schwere des Verschuldens, der Grad der
Integration bzw. die Dauer der bisherigen Anwesenheit sowie die dem Betroffenen
und seiner Familie drohenden Nachteile zu berücksichtigen sind (vgl. BGE 139 I
145 E. 2.3 und 2.4 S. 148 f.). Die Niederlassungsbewilligung eines Ausländers,
der sich - wie der Beschwerdeführer - schon seit langer Zeit im Land aufhält,
soll praxisgemäss nur mit Zurückhaltung widerrufen werden (vgl. BGE 139 I 16 E.
2.2.1 S. 19).  
 
5.2. Die vorinstanzliche Interessenabwägung hält einer rechtlichen Prüfung
stand: Zu den bereits aufgelisteten zahlreichen neuen strafrechtlich relevanten
Handlungen und den zahlreichen nichterfüllten finanziellen Verpflichtungen sind
in der Zeit zwischen 1996 und 2010, also  vor seiner zweiten Verwarnung 2011,
rund 18 Strafbefehle, fünf Strafverfügungen und ein Urteil sowie offene
Verlustscheine im Umfang von rund Fr. 160'000.-- und Betreibungen von rund Fr.
300'000.-- zu vermerken. Die strafrechtlichen Verfehlungen betreffen vor allem
SVG-Delikte und den Ungehorsam in Betreibungs- und Konkursverfahren. Mit dem
erwähnten Urteil ist der Beschwerdeführer vor allem wegen Diebstahls und
betrügerischen Missbrauchs einer Datenverarbeitungsanlage zu zwei Monaten
Gefängnis verurteilt worden. Die jeweiligen Strafen sind zwar mit Ausnahme
derjenigen für Betrug und Urkundenfälschung (12 Monate) gering, allerdings ist
die Anzahl von 30 Strafen innerhalb von 20 Jahren hoch. Hinzu kommt, dass seine
letzte Tat eine massive Steigerung zu den vorhergehenden Taten darstellt. Auch
die gesamten Verlustscheine und Betreibungen (ca. Fr. 380'000.--) sind sehr
hoch. Zu Recht hat deshalb die Vorinstanz das Gewicht des öffentlichen
Interesses insgesamt als hoch eingestuft.  
Beim privaten Interesse ist vor allem seine lange Aufenthaltsdauer von ca. 35
Jahren in der Schweiz von erheblichem Gewicht. Ob der Beschwerdeführer, der
hier geboren, bis im Alter von zwei Jahren hier aufgewachsen ist, zwischen dem
dritten und zwölften Lebensjahr abwechselnd in der Schweiz und in der Türkei
gelebt sowie die Grundschule in der Türkei besucht und ab dem zwölften
Lebensjahr in der Schweiz gelebt hat und hier ausgebildet wurde, dabei als
Ausländer der zweiten Generation anerkannt werden kann, wie er fordert, ist ein
Streit um einen  nicht-rechtlichen Begriff  ohne Konturen : So wird als
Ausländer zweiter Generation eine ausländische Person bezeichnet, die in der
Schweiz geboren ist und ihr ganzes Leben hier verbracht hat (z.B. Urteil
2C_1032/2016 vom 9. Mai 2017), die "né et élevé en Suisse" (z.B. Urteil 2C_974/
2015 vom 5. April 2016), die hier geboren, während zwei Jahren abwechselnd in
der Schweiz und im Ausland aufwuchs und danach dauerhaft in der Schweiz blieb
(Urteil 2C_399/2015 vom 22. Februar 2016), die hier geboren, aber zwischen dem
zehnten und zwölften Jahr im Ausland die Schulen besuchte und danach wiederum
in der Schweiz lebte (Urteil 2C_1046/2014 vom 5. November 2015), die nicht hier
geboren, aber mit eineinhalb (Urteil 2C_608/2015 vom 1. Februar 2016), mit zwei
(Urteil 2C_896/2014 vom 25. April 2015), mit vier (Urteil 2C_514/2014 vom 8.
Dezember 2014), mit fünf (Urteil 2C_387/2014 vom 3. März 2015), mit sechs
(Urteil 2C_520/2014 vom 16. Dezember 2014) oder erst mit acht Jahren (2C_496/
2013 vom 15. November 2013 A. i.V.m. E. 3.2) in die Schweiz einreiste.
Umgekehrt gilt eine ausländische Person nicht als "Ausländer der zweiten
Generation", die hier nicht geboren und nicht aufgewachsen ist, auch wenn sie
nachher während mehreren Jahrzehnten in der Schweiz gelebt hat (z.B. Urteil
2C_481/2012 vom 1. März 2013 E. 3.2) oder die ersten zehn Jahre nicht hier
verbracht hat (Urteil 2C_474/2012 vom 7. Dezember 2012 E. 3.4). Auch Art. 66a
Abs. 2 Satz 2 StGB ("Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung
zu tragen, die in der Schweiz  geboren oder aufgewachsen sind") bringt
diesbezüglich keine Klärung. Mit dem Begriff "Ausländer zweiter Generation"
wird lediglich ein gewisses Gewicht einer Gesamtbetrachtung der Kriterien
"Geburt in der Schweiz", "Sozialisierung in der Schweiz" und "Anwesenheitsdauer
in der Schweiz" ausgedrückt (vgl. BGE 130 II 176 E. 4.4 S. 189 ff.; Urteile des
EGMR i.S.  Emre gegen die Schweiz [Nr. 42034/04], Ziff. 65 ff., 77; i.S. 
Maslov gegen Österreich [Nr. 1638/03], Ziff. 68 ff.; ANDREAS ZÜND/THOMAS HUGI
YAR, Aufenthaltsbeendende Massnahmen im schweizerischen Ausländerrecht,
insbesondere unter dem Aspekt des Privat- und Familienlebens, EuGRZ 2013, S. 1
ff., 8), weshalb auch im vorliegenden Fall nur diese Kriterien massgebend sind.
Dabei bildet selbst eine Geburt und eine Sozialisierung zusammen mit einer sehr
langen Anwesenheitsdauer in der Schweiz - wie bereits dargelegt - nach der
Rechtsprechung keine Garantie, dass die ausländische Person hier verbleiben
kann.  
Der Beschwerdeführer ist ferner nicht verheiratet, lebt in keiner Beziehung und
zu seinem erwachsenen Sohn hat er keinen Kontakt. Zwar spricht er Deutsch, hält
sich aber vorwiegend im Kreis seiner Landsleute auf. Ökonomisch ist er
ebenfalls kaum integriert: Er ist immer wieder arbeitslos und musste mit einem
beträchtlichen Betrag an Fürsorgegeldern unterstützt werden. So hat er etwa von
April 2010 bis März 2013 wirtschaftliche Sozialhilfe im Umfang von rund Fr.
85'000.-- bezogen. Der türkischen Sprache ist er mächtig und mit den sozialen
Gepflogenheiten seines Heimatlands vertraut. Insgesamt wird das erhebliche
Gewicht des privaten Interessens einzig durch seine lange Anwesenheit bestimmt.
Die anderen Elemente vermögen dessen Gewicht nicht zu erhöhen. 
Die Interessenabwägung ergibt Folgendes: Das öffentliche Interesse ist
gewichtig. Zwar findet sich nur eine einzige Verurteilung mit einer hohen
Freiheitsstrafe, doch ist die Summe von 30 strafrechtlichen Taten und die
Kadenz deren Verübung hoch. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer trotz
Aufforderung der Ausländerbehörden, sich eine Erwerbstätigkeit zu suchen, um
Schulden abzubauen oder mindestens keine neuen anzuhäufen, mutwillig weitere
Schulden in beträchtlichem Ausmass generiert hat. Zudem musste er
Fürsorgegelder beanspruchen. Bei den privaten Interessen ist einzig das
gewichtige Interesse seiner Geburt, seiner teilweisen Sozialisierung und seiner
sehr langen Anwesenheit in der Schweiz in Rechnung zu stellen. Auch wenn der
Beschwerdeführer in der Schweiz praktisch sein ganzes Leben und auch prägende
Jahre verbracht hat, wären die drohenden Nachteile bei einer Rückkehr in die
Türkei sicherlich gewichtig, aber nicht unzumutbar, wie die Vorinstanz
überzeugend dargelegt hat. So sind keine schwerwiegenden Nachteile für eine
Rückkehr in die Türkei ersichtlich, weil er sich mit seinem Vater überworfen
habe und dieser mit ihm nicht mehr spreche (Art. 105 Abs. 2 BGG). Auch seine
Krankheit spricht nicht dagegen, nachdem die behandelnden Ärzte bestätigt
haben, dass das medizinische Angebot in der Türkei für seine medizinische
Behandlung ausreichend sei. Wie die Vorinstanz bereits zutreffend festgehalten
hat, ist bei der Ausreise dem Gesundheitszustand Rechnung zu tragen. Nichts zu
seinen Gunsten kann er zudem aus seinem Verhalten in der Zeit nach seiner
letzten Tat ableiten, ist zum einen doch der Zeitrahmen noch zu kurz, um für
das zukünftige Verhalten relevante Aussagen zu gewinnen, und zum anderen befand
sich der Beschwerdeführer wegen seiner Krankheit und Operationen in einer
besonderen Lage. Insgesamt vermag deshalb das private Interesse das öffentliche
Interesse nicht zu überwiegen. Aus Art. 8 EMRK ergibt sich zudem nichts
anderes. 
 
6.  
Demnach erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist abzuweisen. Bei
diesem Verfahrensausgang wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66
Abs. 1 BGG). Sein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ist
indes begründet, da der Beschwerdeführer bedürftig ist und das Rechtsbegehren
aufgrund der juristischen Fragen im Zusammenhang mit seiner langen Anwesenheit
in der Schweiz nicht als aussichtslos erscheinen musste (Art. 64 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird gutgeheissen, und es wird dem Beschwerdeführer Rechtsanwalt Peter Wicki
als Rechtsbeistand beigegeben. Ihm wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'000.-- ausgerichtet. 
 
3.   
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Kantonsgericht Luzern, 4.
Abteilung, und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 27. November 2017 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Seiler 
 
Der Gerichtsschreiber: Errass 

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