Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.526/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
2C_526/2016

Urteil vom 30. Juni 2016

II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Seiler, Präsident,
Bundesrichter Zünd,
Bundesrichter Haag,
Gerichtsschreiberin Mayhall.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwältin Clivia Wullimann,

gegen

Migrationsamt des Kantons Solothurn,

Haftgericht des Kantons Solothurn.

Gegenstand
Ausschaffungshaft,

Beschwerde gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 17. Mai 2016.

Sachverhalt:

A.
A.________ ist senegalesischer Staatsangehöriger. Infolge Heirat mit einer
schweizerischen Staatsangehörigen wurde ihm im Januar 2003 eine erste
Aufenthaltsbewilligung und, nach erfolgter Trennung und einer zweiten Heirat,
im Dezember 2006 erneut eine Aufenthaltsbewilligung erteilt. Aus der zweiten
Ehe ging ein gemeinsamer Sohn hervor. Im Jahr 2010 trennte sich das Ehepaar,
worauf das Migrationsamt des Kantons Solothurn A.________ im Juli 2015 aus der
Schweiz wegwies. Ein gegen diese Wegweisung geführtes Rechtsmittelverfahren
blieb erfolglos. Das kantonale Migrationsamt setzte A.________ im November 2015
eine weitere Frist zur Ausreise bis Ende Dezember 2015 an. Kurz vor Ablauf
dieser Frist hielt sich A.________ in einer psychiatrischen Klinik auf und
tauchte anschliessend unter. Am 22. Januar 2016 meldete er sich beim kantonalen
Migrationsamt und wurde in Ausschaffungshaft versetzt; seine
Hafterstehungsfähigkeit wurde gutachterlich bestätigt.

B.
Mit Entscheid vom 29. März 2016 wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Solothurn eine Beschwerde von A.________ gegen die Ausschaffungshaft ab. Ein
erster Vollzug der Ausschaffung scheiterte am 6. April 2016 am Widerstand von
A.________. Mit Verfügung vom 20. April 2016 ordnete das kantonale
Migrationsamt die Verlängerung der Ausschaffungshaft für sechs Monate an. Vom
21. bis 22. April 2016 verbüsste A.________ eine eintägige
Ersatzfreiheitsstrafe. Mit Entscheid vom 22. April 2016 genehmigte das
Haftgericht die Verlängerung der Ausschaffungshaft vom 22. April 2016 bis 21.
Oktober 2016. Die dagegen von A.________ ohne Anwalt geführte Beschwerde wie
auch sein Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung wurden vom kantonalen
Verwaltungsgericht mit Urteil vom 17. Mai 2016 abgewiesen.
Mit als Beschwerde bezeichneter Eingabe vom 6. Juni 2016 wendet sich der damals
nicht anwaltlich vertretene A.________ gegen die "Entscheidungen des kantonalen
Haftgerichts bzw. des kantonalen Verwaltungsgerichts vom März 2016, vom 17. Mai
2016 und vom 27. Januar 2016". Er macht sinngemäss geltend, die Anordnungen zu
seiner Versetzung in Ausschaffungshaft und deren Verlängerung seien ohne
anwaltliche Vertretung und damit in Missachtung seiner Grundrechte erfolgt.
Die Vorinstanz, das kantonale Migrationsamt und das Staatssekretariat für
Migration (SEM) schliessen auf kostenfällige Beschwerdeabweisung, soweit darauf
eingetreten werden könne. In zwei weiteren eingereichten Stellungnahmen vom 20.
Juni 2016 und vom 23. Juni 2016 lässt sich der Beschwerdeführer zur Sache
vernehmen. In einer Eingabe vom 24. Juni 2016 ersucht die am 24. Juni 2016
mandatierte Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers um Akteneinsicht und
Verlängerung der Vernehmlassungsfrist. Mit dem vorliegenden Urteil wird dieses
Gesuch gegenstandslos.

Erwägungen:

1.
Gegen letztinstanzliche kantonale richterliche Entscheide betreffend
Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht und damit verbundene Verfügungen betreffend
die Verbeiständung ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
zulässig (Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG), weshalb die Eingabe des
Beschwerdeführers vom 6. Juni 2016 als solche entgegen genommen werden kann,
soweit sie sich gegen das Urteil der Vorinstanz vom 17. Mai 2016 richtet. Auf
die frist- und formgerechte (Art. 100 Abs. 1, Art. 42 BGG) Beschwerde des
Beschwerdeführers, welcher am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen hat und
mit seinen Anträgen unterlegen ist (Art. 89 Abs. 1 BGG), ist in diesem Umfang
einzutreten.

2.
Dass die gesetzlichen Haftvoraussetzungen grundsätzlich erfüllt sind (Art. 76
Abs. 1 lit. b Ziff. 3 und 4 AuG) und die maximale Haftdauer von 18 Monaten noch
nicht erreicht ist (Art. 79 Abs. 1 und 2 lit. b AuG), wird in der vom
Beschwerdeführer selbst verfassten Beschwerdeschrift nicht in Frage gestellt.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens, welcher sich nach dem angefochtenen
Urteil und den Beschwerdeanträgen richtet (vgl. BGE 137 I 86 E. 4 S. 91), ist
nur die unentgeltliche Vertretung des Beschwerdeführers. Nicht weiter
einzugehen ist auf die Rüge hinsichtlich der Verlängerung der Ausschaffungshaft
wegen Unzumutbarkeit des Vollzugs auf Grund von Krankheit, wurde doch eine
Verletzung von Art. 3 EMRK nicht in einer den Anforderungen der qualifizierten
Rügepflicht (Art. 106 Abs. 2 BG) genügenden Weise geltend gemacht und können im
bundesgerichtlichen Verfahren grundsätzlich keine neuen Beweismittel mehr
entgegengenommen werden (Art. 99 Abs. 1 BGG).

2.1. Während sich der Anspruch einer bedürftigen Partei auf unentgeltliche
Verbeiständung ausschliesslich aus Art. 29 Abs. 3 BV ableitet und somit von der
Voraussetzung fehlender Aussichtslosigkeit des Rechtsmittels abhängt, besteht
im Bereich des Freiheitsentzugs Anspruch auf eine wirksame Geltendmachung der
Rechte. Nach Art. 31 Abs. 2 Satz 2 BV muss jede Person, welcher die Freiheit
entzogen ist, die Möglichkeit haben, ihre Rechte in einer den Umständen
angemessenen, wirksamen Weise geltend zu machen, weshalb das Erfordernis der
fehlenden Aussichtslosigkeit bei einem Freiheitsentzug von einer gewissen
Intensität bzw. Dauer sachgerecht zu relativieren und differenziert zu
handhaben ist (BGE 134 I 92 E. 3.2.3 S. 100; Urteil 2C_906/2008 vom 28. April
2009 E. 2.2.2). Während bei der ersten Haftprüfung (Art. 80 Abs. 2 AuG),
besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten vorbehalten, an sich
noch nicht durchwegs eine Verbeiständung geboten ist, droht dem Ausländer bei
einer  Inhaftierung von einer Dauer von über drei Monateneine schwere
Freiheitsbeschränkung, die ihn ohne anwaltliche Hilfe vor nicht mehr lösbare
Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art stellt (BGE 139 I 206 E.
3.3.1 S. 214; 134 I 92 E. 3.2.3 S. 100; Urteile 2C_112/2016 vom 19. Februar
2016 E. 2.2.1; 2C_906/2008 vom 28. April 2009 E. 2.2.2);  massgeblich für die
Verbeiständung ist somit der Zeitpunkt, in welchem diese Dauer erreicht ist.
Zur Wahrung ihrer Rechte ist einer ausländischen Person somit bei einer
erstmaligen Haftanordnung, die eine Dauer von drei Monaten übersteigt (vgl.
Art. 75 Abs. 1 AuG [Ausschaffungshaft]), bereits bei der ersten Haftprüfung
(Art. 80 Abs. 2 AuG) bzw. bei einer erstmaligen Haftanordnung von geringerer
Dauer im Falle einer diesem Zeitraum gleichkommenden Verlängerung der Haft
(vgl. Art. 78 Abs. 2 AuG [Durchsetzungshaft]; zur Höchstdauer Art. 79 Abs. 1
AuG) entweder anlässlich der Haftprüfung oder anlässlich eines
Haftentlassungsgesuches (Art. 80 Abs. 5 AuG; zur Identität des diesbezüglichen
Prüfprogramms BGE 140 II 409 E. 2.3.1 S. 412) eine Rechtsvertretung beizugeben.

2.2. Der Beschwerdeführer befand sich im Zeitpunkt der richterlichen
Genehmigung der Haftverlängerung durch den Haftrichter am 22. April 2016 seit
drei Monaten in Ausschaffungshaft, weshalb eine Verbeiständung im Verfahren vor
dem Haftrichter oder zumindest im vorinstanzlichen Beschwerdeverfahren geboten
war. Vor diesem Hintergrund durfte die Vorinstanz eine Verletzung des
verfassungsmässigen Anspruches auf eine wirksame Durchsetzung der Rechte bei
Freiheitsentzug (Art. 31 Abs. 2 Satz 2 BV) nicht mit dem Hinweis darauf
verneinen, der Beschwerdeführer sei auf die Möglichkeit einer Rechtsvertretung
und auf das solothurnische Anwaltsverzeichnis hingewiesen worden (Urteil 2C_112
/2016 vom 19. Februar 2016 E. 2.2.2), und sein im vorinstanzlichen Verfahren
gestelltes Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung wegen Aussichtslosigkeit des
Rechtsmittels abweisen.

3.
Die Beschwerde erweist sich als begründet, weshalb das angefochtene Urteil
aufzuheben ist. Die Verletzung des Anspruches auf Verbeiständung bei
Freiheitsentzug rechtfertigt es jedoch nicht, den Beschwerdeführer umgehend aus
der Haft zu entlassen (BGE 121 II 105 E. 2c S. 109, letztmals bestätigt in
Urteil 2C_112/2016 vom 19. Februar 2016 E. 3.1). Hingegen hat die Vorinstanz
dem Beschwerdeführer einen unentgeltlichen Rechtsbeistand - falls möglich in
der Person von Rechtsanwältin Clivia Wullimann - zu bestellen und die
Streitsache, unter Berücksichtigung einer allfälligen Beschwerdeergänzung, neu
zu beurteilen. Die Streitsache wird in diesem Sinne zu einer Fortführung des
Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen. Bei diesem Verfahrensausgang sind
keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG) und mangels eines Anfalls
von Vertretungskosten für die Beschwerde vom 6. Juni 2016 auch keine
Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68 Abs. 1 e contrario BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, und das Urteil
des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 17. Mai 2016 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur Fortführung des Verfahrens und zur Neubeurteilung im Sinne
der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Es werden keine Kosten erhoben.

3. 
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des
Kantons Solothurn und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 30. Juni 2016

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Seiler

Die Gerichtsschreiberin: Mayhall

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