Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.311/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
2C_311/2016

Urteil vom 23. Mai 2016

II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Seiler, Präsident,
Bundesrichterin Aubry Girardin,
Bundesrichter Donzallaz,
Gerichtsschreiber Kocher.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch
Rechtsanwalt Andreas Auer, Schoch, Auer & Partner, Rechtsanwälte,

gegen

Eidgenössische Steuerverwaltung.

Gegenstand
Mehrwertsteuer 1. Quartal 2008 bis 4. Quartal 2009 (Ermessenseinschätzung; 2.
Rechtsgang),

Beschwerde gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, Abteilung I, vom 1.
März 2016.

Sachverhalt:

A. 
Von Februar 2008 bis Mai 2010 betrieb A.________ (nachfolgend: der
Steuerpflichtige) in U.________/TI als Einzelunternehmer ein Restaurant.
Anlässlich einer Kontrolle prüfte die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) im
Frühjahr 2011 vor Ort die Mehrwertsteuerperioden von Anfang 2008 bis Ende 2009
und stellte dabei fest, dass das Verhältnis zwischen Wareneinkauf und Umsatz
gegenüber den Erfahrungszahlen vergleichbarer Restaurationsbetriebe auffallend
abweiche. Den formell einwandfreien Büchern zufolge hatte sich der Wareneinkauf
auf Fr. 298'482.-- und der Warenverkauf (Gastronomieumsatz) auf Fr. 612'668.--
belaufen. Über die beiden Sparten "Getränke" und "Küche" belief sich der
Umsatzanteil der Einkäufe daher auf 48,7 Prozent, dies bei einem
gesamtschweizerischen Mittelwert von rund 32 Prozent. Im Kanton Tessin
herrschen Mittelwerte von 31,5 Prozent bei Gourmetrestaurants und 33,0 Prozent
bei Landgasthöfen.

B. 
Die ESTV schätzte - trotz an sich formell einwandfreier Buchführung - die
Umsätze nach pflichtgemässem Ermessen und fakturierte Mehrwertsteuern von Fr.
22'800.--. Nach erfolgloser Einsprache (Einspracheentscheid vom 23. Januar
2012) gelangte der Steuerpflichtige an das Bundesverwaltungsgericht. Er machte
geltend, er habe das Restaurant ohne genügende Vorkenntnisse eröffnet und dem
wenig erfahrenen Personal zu hohe Löhne bezahlt. Es seien Jahresverluste von
rund Fr. 460'000.-- bzw. Fr. 360'000.-- eingetreten, weshalb er den Betrieb
schon Mitte 2010 habe einstellen müssen. Mit Urteil A-1017/2012 vom 18.
September 2012 hiess das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gut, hob es
den angefochtenen Einspracheentscheid auf und wies es die Sache zu neuem
Entscheid an die ESTV zurück. Es erwog im Wesentlichen, die ESTV habe ihre
Begründungspflicht dadurch verletzt, dass sie dem Steuerpflichtigen die
Grundlagen ihrer Erfahrungswerte vorenthalten habe. Auf die gegen den
Rückweisungsentscheid gerichtete Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten der ESTV trat das Bundesgericht mangels Vorliegens eines nicht
wieder gutzumachenden Nachteils nicht ein (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; Urteil
2C_1048/2012 vom 14. April 2014).

C. 
Mit Entscheid vom 22. Juli 2015 hiess die ESTV die seinerzeitige Einsprache
teilweise gut und setzte sie die Steuerforderung auf Fr. 12'848.-- herab. Im
Einzelnen nahm sie folgendes an:

- Der Materialanteil (gemessen am Umsatz) belaufe sich im konkreten Fall
weiterhin auf 49 %; gesamtschweizerisch liege der Anteil bei rund 32 %, nämlich
32,0 % bei schweizerischen Gourmetrestaurants, (mindestens 19,3 %, höchstens
40,9 %), 32,3 % bei schweizerischen Landgasthöfen (mindestens 19,0 %, höchstens
44,6 %), 31,5 % bei Gourmetrestaurants im Kanton Tessin (mindestens 25,2 %,
höchstens 38,2 %) und 33,0 % bei Landgasthöfen im Kanton Tessin (mindestens
25,2 %, höchstens 40,0 %).
- Abzustellen sei nicht mehr auf das Zahlenmaterial zu den Gourmetrestaurants,
sondern auf jenes zu den Landgasthöfen.
- Die bereits ermittelten Zuschlagssätze für die verschiedenen Getränkearten
(189 % für Wein, 278 % für Mineralwasser, 288 % für Bier/Spirituosen) seien
zutreffend und könnten weiterhin herangezogen werden.
- Der geschätzte Zuschlagssatz für Kaffee betrage 900 % (abgerundeter
Minimalwert gemäss der Auswertung nach den Landgasthöfen im Tessin). Eine
Schätzung erachtete die ESTV als unumgänglich, nachdem sowohl aufwand- wie
ertragsseitig zum Kaffee gar kein oder kein verlässliches Zahlenmaterial
vorliege.
- Bislang sei einzig auf die Mittelwerte abgestellt worden; nunmehr würden auch
die Minimal- und Maximalwerte herangezogen. Der Materialanteil des
streitbetroffenen Betriebs liege mit 49 % klar ausserhalb der Bandbreite.
- Die Abweichung lasse sich auch mit den vom Steuerpflichtigen vorgebrachten
Gründen (verdorbene Waren, schlechter Geschäftsgang) nicht erklären. Zugunsten
des Steuerpflichtigen sei von Warenverlusten von 10 % für die Getränke (Wein,
Bier, Spirituosen; je 5 % für Schankverluste und Freigetränke) auszugehen sowie
von 30 % für die Küche (5 % für verdorbene Waren nebst 25 % für "Misswirtschaft
infolge Naivität").
- Der Warenaufwand für Getränke (Fr. 155'155.--) sei, soweit Wein und Bier/
Spirituosen betreffend, gemäss diesen Grundsätzen zu kürzen, was zu einem
massgebenden Getränkeeinkauf von noch Fr. 106'823.-- führe. Unter
Berücksichtigung der genannten Zuschlagssätze (189 % für Wein, 278 % für
Mineralwasser, 288 % für Bier/Spirituosen, 900 % für Kaffee) resultiere ein
geschätzter Getränkeumsatz von Fr. 415'982.--.
- Ausgehend von verbuchten Warenverkäufen von Fr. 612'668.-- belaufe sich der
Küchenumsatz, nach Abzug des Getränkeumsatzes von Fr. 415'982.--, auf Fr.
196'686.--. Bei bereinigten Lebensmitteleinkäufen von Fr. 128'329.--,
herrührend aus dem um 30 % gekürzten verbuchten Aufwand von Fr. 183'327.--,
führe dies zu einem Zuschlagssatz von rund 53 %.
- Sachgerecht wäre aber, so die ESTV weiter, ein Zuschlagssatz von 185 %.
Massgebend hierfür sei der Mittelwert der Landgasthöfe. Diese wiesen
gesamtschweizerisch einen Wert von durchschnittlich 188,4 % (mindestens 88,3,
höchstens 403,6 %) auf. Im Kanton Tessin beliefen sich die Werte für
Landgasthöfe auf durchschnittlich 207,2, mindestens 93,5 und höchstens 330 %.
Mit Blick auf das Angebot des Steuerpflichtigen seien die Landgasthöfe (und
nicht Gourmetrestaurants) heranzuziehen. Der Durchschnitt (und nicht der
Minimalwert) erweise sich deshalb als sachgerechte Vergleichsbasis, weil im
konkreten Fall bereits Abzüge auf dem Wareneinkauf von 10 % (alkoholische
Getränke) und 30 % (Küche) erfolgt seien.
- Bei einem um 30 % verminderten Küchenaufwand von noch Fr. 128'329.-- und
einem Zuschlagssatz von 185 % erreiche der geschätzte Küchenumsatz nunmehr Fr.
365'737.-- aus. Unter Einbezug des geschätzten Getränkeumsatzes von Fr.
415'982.-- sei daher von einem Gesamtumsatz von Fr. 781'720.-- auszugehen.

- Gegenüber der Selbstveranlagung (verbuchter und deklarierter Umsatz von Fr.
612'668.--) zeige sich ein Fehlbetrag von rund Fr. 169'053.--, der dem
Normalsatz (7,6 %) unterliege. Dies führe zu einer Steuerforderung von Fr.
12'848.--.

D. 
Dagegen erhob der Steuerpflichtige wiederum Beschwerde an das
Bundesverwaltungsgericht, welche dessen Abteilung I mit Urteil A-5175/2015 vom
1. März 2016 abwies. Es erwog im Wesentlichen, die Voraussetzungen zur Vornahme
einer Ermessenseinschätzung seien gegeben (E. 3), die ESTV habe ihr Ermessen
pflichtgemäss ausgeübt (E. 4.1-4.3) und dem Steuerpflichtigen sei es
misslungen, die offensichtliche Unrichtigkeit der Schätzung nachzuweisen (E.
4.4-4.5).

E. 
Mit Eingabe vom 11. April 2016 erhebt der Steuerpflichtige beim Bundesgericht
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, verbunden mit dem Antrag,
der angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Der Abteilungspräsident als
Instruktionsrichter hat den Aktenbeizug angeordnet; von einem Schriftenwechsel
und weiteren Instruktionsmassnahmen hat er abgesehen.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde richtet sich gegen den verfahrensabschliessenden Entscheid
einer letzten kantonalen Instanz in einer Angelegenheit des öffentlichen
Rechts. Die Voraussetzungen der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten liegen vor (Art. 82 lit. a, Art. 83, Art. 86 Abs. 1 lit. a,
Art. 89 Abs. 1, Art. 90 BGG [SR 173.110]). Am 1. Januar 2010 ist das
Bundesgesetz vom 12. Juni 2009 über die Mehrwertsteuer (MWSTG 2009; SR 641.20)
in Kraft getreten (vgl. Art. 116 Abs. 2 MWSTG). Es sieht keine
spezialgesetzlichen Vorschriften zum bundesgerichtlichen Verfahren vor.

1.2.

1.2.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann
insbesondere die Verletzung von Bundes- und Völkerrecht gerügt werden (Art. 95
lit. a und b BGG). Bei der Prüfung verfügt das Bundesgericht über
uneingeschränkte (volle) Kognition und wendet es das Recht von Amtes wegen an
(Art. 106 Abs. 1 BGG; BGE 140 III 86 E. 2 S. 88). Dennoch ist im Hinblick auf
Art. 42 Abs. 2 BGG unerlässlich, dass die Beschwerde auf die Begründung des
angefochtenen Entscheids eingeht und im Einzelnen aufzeigt, worin eine
Verletzung von Bundesrecht liegt (BGE 140 III 115 E. 2 S. 116).

1.2.2. Die Verletzung von Grundrechten prüft das Bundesgericht in jedem Fall
nur, falls eine solche Rüge in der Beschwerde überhaupt vorgebracht und
ausreichend begründet worden ist (qualifizierte Rüge- und Begründungspflicht
gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 140 IV 57 E. 2.2 S. 60). Wird keine
Verfassungsrüge erhoben, kann das Bundesgericht eine Beschwerde selbst dann
nicht gutheissen, wenn eine Verfassungsverletzung tatsächlich vorliegt (BGE 141
I 36 E. 1.3 S. 41). Auf bloss allgemein gehaltene, appellatorische Kritik am
vorinstanzlichen Entscheid geht das Bundesgericht nicht ein (BGE 141 IV 317 E.
5.4 S. 324; 141 IV 369 E. 6.3 S. 375).

1.2.3. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz, wozu auch die Beweiswürdigung zählt (BGE 141 IV
369 E. 6.3 S. 375; 140 III 264 E. 2.3 S. 266), nur berichtigen oder ergänzen,
soweit sie offensichtlich unrichtig - das heisst willkürlich - sind oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen (Art. 105 Abs. 2 BGG;
BGE 142 V 2 E. 2 S. 5; 141 V 657 E. 2.1 S. 659 f.).

2.

2.1. Der Steuerpflichtige ist der Auffassung, die konkreten Sachumstände
liessen keine Umsatzschätzung nach pflichtgemässem Ermessen zu. Dementsprechend
sieht er davon ab, sich zur Ermessensbetätigung, das heisst der Umsatzschätzung
als solcher, zu äussern. Mit Blick auf die streitbetroffene Kontrollperiode ist
in der Sache selbst das vorrevidierte Mehrwertsteuerrecht (Bundesgesetz vom 2.
September 1999 über die Mehrwertsteuer; AS 2000 1300, nachfolgend MWSTG 1999)
anwendbar.

2.2.

2.2.1. Der bundesgerichtlichen Praxis zufolge gilt, dass eine formell richtige
Buchhaltung vermutungsweise auch materiell richtig ist. Von Gesetzes wegen ist
die ESTV freilich gehalten (Art. 60 MWSTG 1999), eine pflichtgemässe Schätzung
der massgebenden Umsätze vorzunehmen, falls entweder überhaupt keine oder nur
unvollständige Aufzeichnungen vorliegen (erste Tatbestandsvariante, Verstoss
gegen die  formellen Regeln der Buchführung) oder die ausgewiesenen Ergebnisse
mit dem wirklichen Sachverhalt offensichtlich nicht übereinstimmen können
(zweite Tatbestandsvariante, Verstoss gegen die  materiellen Regeln der
Buchführung; Urteil 2C_812/2013 vom 28. Mai 2014 E. 2.4.1, in: ASA 83 S. 63).

2.2.2. Im Fall einer Schätzung nach pflichtgemässem Ermessen ist hinsichtlich
der Kognition des Bundesgerichts wie folgt vorzugehen: Beim Sachverhalt
einschliesslich der Beweiswürdigung handelt es sich um eine  Tatfrage (Art. 105
Abs. 1 BGG; vorne E. 1.2.3), die als solche nur im Rahmen von Art. 106 Abs. 2
BGG gerügt werden kann (vorne E. 1.2.2). Vom Bundesgericht frei überprüfbare 
Rechtsfrage (Art. 95 lit. a BGG; vorne E. 1.2.1) ist, ob der so ermittelte
Sachverhalt die gesetzlichen Voraussetzungen der Einschätzung nach
pflichtgemässem Ermessen erfüllt. Bei der zweiten Tatbestandsvariante ist
deshalb mit uneingeschränkter Kognition zu klären, ob die festgestellten
Ergebnisse mit dem wirklichen Sachverhalt offensichtlich nicht übereinstimmen.

2.2.3. Zeigt sich, dass die ausgewiesenen Ergebnisse und der wirkliche
Sachverhalt im genannten Sinne "offensichtlich nicht übereinstimmen", ist als
weitere  Rechtsfrage zu klären, ob die Vorinstanz eine sachgerechte
Bewertungsmethode herangezogen hat. Davon ist auszugehen, wenn sie ein Vorgehen
gewählt hat, das nachvollziehbar, plausibel, anerkannt ist, in vergleichbaren
Fällen verbreitete Anwendung findet und nach allgemeiner Auffassung besser oder
mindestens ebenso bewährt ist wie andere Methoden und den Verhältnissen im
konkreten Einzelfall Rechnung trägt (Urteil 2C_1012/2014 vom 14. November 2014
E. 2.1).

2.2.4. Die eigentliche Bewertung oder Schätzung, die aufgrund dieser Methoden
vorzunehmen ist, gehört zu den  Tatfragen. Infolge dessen prüft das
Bundesgericht das Ergebnis einer Bewertung oder Schätzung nur zurückhaltend,
das heisst auf offensichtliche Fehler und Irrtümer hin. Es obliegt der
steuerpflichtigen Person, die Unrichtigkeit der Schätzung zu beweisen. Erhebt
die steuerpflichtige Person Beschwerde, kann sie sich vor Bundesgericht nicht
darauf beschränken, die Kalkulationsgrundlagen der Ermessensbetätigung
allgemein zu kritisieren; sie muss vielmehr nachweisen, dass die von der ESTV
vorgenommene Schätzung offensichtlich unrichtig ist (zit. Urteile 2C_812/ 2013
E. 2.4.3 und 2C_1012/2014 E. 2.2).

2.3.

2.3.1. Art. 60 MWSTG 1999 ist ausgesprochen offen angelegt. In der zweiten
Tatbestandsvariante geht es darum, dass die an sich formell einwandfreien
Aufzeichnungen in "offensichtlichem" Widerspruch zum wirklichen Sachverhalt
stehen. Trifft dies zu, ist nach dem im Abgaberecht streng herrschenden
Legalitätsprinzip (hier: Erfordernis der Normfolgegebung; zum Ganzen Urteile
2C_809/2015 vom 16. Februar 2016 E. 5.1, in: ASA 84 S. 721; 2C_835/2011 vom 4.
Juni 2012 E. 2.3 mit Hinweisen) zwingend zur Schätzung nach pflichtgemässem
Ermessen zu schreiten. Wann erhobenes und mutmasslich zutreffendes Ergebnis
hinreichend auseinanderfallen, um eine Schätzung nach pflichtgemässem Ermessen
zu rechtfertigen, lässt sich indes kaum positivrechtlich umschreiben.
Generell-abstrakt eine qualitative oder quantitative, betragsmässige oder
prozentuale Umschreibung der Abweichung zwischen Büchern und "wirklichem
Sachverhalt" anzustellen, erwiese sich aber auch als wenig sachgemäss. Der
Tatbestand ruft von Fall zu Fall nach einer Gesamtbetrachtung.

2.3.2. Mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der Offensichtlichkeit beschränkt der
Gesetzgeber den Anwendungsbereich der zweiten Tatbestandsvariante auf Fälle mit
einer gewissen Tragweite. Geringfügige Abweichungen sollen keinen Anlass zu
behördlichem Einschreiten geben. Soweit ausgewiesenes und mutmasslich
zutreffendes Ergebnis aber "offensichtlich" voneinander abweichen, verbleibt
der Behörde zwangsläufig in diesem Rahmen ein gewisser Beurteilungsspielraum.
Die Ermessensschätzung oder der Ermessenszuschlag hat den tatsächlichen
Gegebenheiten möglichst nahe zu kommen. Nachdem die wahren Sachumstände aber
gerade im Dunkeln liegen, verfügt die Behörde bei der Ermittlung der
Steuerfaktoren über ein Tatbestandsermessen. Wenn es sich bei der Auslegung und
Anwendung von Art. 60 MWSTG 1999 auch um eine Rechtsfrage handelt (vorne E.
1.2.1 und 2.2.2), so erweist sich der Vorbehalt der Offensichtlichkeit doch als
eingeschränkt justiziabel. Mit Blick auf das gesetzgeberisch gewollte
Tatbestandsermessen greift das Bundesgericht nicht ohne Weiteres in die
pflichtgemässe steuerbehördliche Ermessensbetätigung ein.

3.

3.1. Die ESTV hatte ursprünglich zwecks Prüfung der materiellen Richtigkeit der
Buchhaltung auf die mittleren Erfahrungszahlen abgestellt. Im zweiten Umgang
rückte sie davon ab und bezog nun auch die Minimal- und Maximalwerte in ihre
Überlegungen ein (vorne lit. A und C). Zudem berücksichtigte sie nun
Warenverluste für Getränke und Küche (zehn bzw. 30 Prozent), was sie zu einem
Materialanteil - "über alle Sparten hinweg" - von 39,5 Prozent führte. Da aber
der Zuschlagssatz für die Getränke wesentlich höher ausfalle, liege der
Zuschlagssatz auf der Küche (53 Prozent) "klar unter dem minimalen Wert"
(angefochtener Entscheid E. 3.1). Die Vorinstanz billigt das Vorgehen und
betont, dass die prozentualen Zuschlagssätze - ausser "Küche" und "Kaffee" -
auf der Buchhaltung bzw. Belegen beruhten. Die ESTV könne sich auf eine breit
abgestützte Anzahl von Betrieben berufen. Selbst unter Berücksichtigung der
Warenverluste bewege sich der konkrete Quotient (53 Prozent) deutlich unterhalb
des Minimalwerts, was eine "offensichtliche" Abweichung darstelle und Anlass zu
einer Schätzung nach pflichtgemässem Ermessen gebe (Entscheid E. 3.2).

3.2. Der Steuerpflichtige gelangt, unter Berücksichtigung des verminderten
Warenaufwandes, zu einem Materialanteil von 38,4 Prozent ("über alle Sparten
hinweg"), vergleicht diesen mit den schweizweit ermittelten Maximalwerten der
Gourmetrestaurants (40,9 Prozent) und Landgasthöfe (44,6 Prozent), um
schliesslich auf die generell tieferen Zahlen in den Tessiner Betrieben
hinzuweisen. Er bekräftigt die Richtigkeit des Zuschlagssatzes für die Küche
(53 Prozent) und begründet dies mit den eingetretenen Verlusten. Deren Grund
liege insbesondere in den mangelnden Branchenkenntnissen, was es verbiete,
seinen Betrieb mit erfolgreichen Restaurants zu vergleichen.

3.3.

3.3.1. Die Vorbringen des Steuerpflichtigen überzeugen nicht. Zunächst ist ihm
entgegenzuhalten, dass seine Buchführung keineswegs als insgesamt formell
korrekt eingestuft werden kann. Wenn auch die Vorinstanz angenommen hat, es sei
die zweite Tatbestandsvariante von Art. 60 MWSTG 1999 zu prüfen, ist
festzuhalten, dass die Bücher zumindest teilweise unvollständige Aufzeichnungen
enthielten (erste Tatbestandsvariante). Verdeutlichen lässt sich dies anhand
der Überlegungen, welche die ESTV zum Kaffee anstellte. Dem Einspracheentscheid
vom 22. Juli 2015, der ergänzend herangezogen werden kann (Art. 105 Abs. 2 BGG;
vorne E. 1.2.3), ist zu entnehmen, dass sowohl aufwand- wie ertragsseitig zum
Kaffee gar kein oder zumindest kein verlässliches Zahlenmaterial vorliege
(vorne lit. C).

3.3.2. Der Steuerpflichtige stellt die Frage ins Zentrum, ob bei einem
(korrigierten) Materialanteil "über alles" von rund 38,4 Prozent (Warenaufwand
[vermindert]: Fr. 235'152.--, Warenverkauf [gemäss Erfolgsrechnung] Fr.
612'668.--) von einer offensichtlichen Abweichung im Sinne der zweiten
Tatbestandsvariante gesprochen werden dürfe. Sein Ansatz greift aber zu kurz.
So scheint er anzutönen, dass es gewissermassen eines "Anfangsverdachts"
bedarf, damit die ESTV überhaupt zu einer Schätzung schreiten könne. Weder bei
grammatikalischer noch teleologischer Auslegung lässt sich dem Gesetz eine
entsprechende Stossrichtung entnehmen. Ausgangspunkt bildet vielmehr eine
interne oder externe Kontrolle seitens der ESTV. Ergibt sich nämlich im Laufe
der Untersuchungen und bei einer Gesamtbetrachtung, wie sie von Fall zu Fall
vorzunehmen ist (vorne E. 2.3.1), dass die ausgewiesenen Ergebnisse mit dem
mutmasslich "wirklichen" Sachverhalt offensichtlich nicht übereinstimmen, kann
und muss die ESTV aufgrund des Legalitätsprinzips eine Schätzung nach
pflichtgemässem Ermessen vornehmen (auch dazu E. 2.3.1).

3.3.3. Selbst wenn in einem konkreten Fall der Durchschnitt "über alles" nicht
zu beanstanden ist, weil er insoweit dem Mass des Üblichen entspricht,
schliesst dies nicht aus, dass einzelne Sparten näher betrachtet und
gegebenenfalls ermessensweise korrigiert werden. Bundesrechtlich besteht kein
Anlass für die Annahme, die "offensichtliche" Abweichung müsse sich auf den
Gesamtquotient, beziehen. Eine Buchhaltung, die über mehrere Jahre geführt wird
und verschiedenste Geschäftsvorfälle abbildet, kann in mannigfacher Hinsicht
Fragen aufwerfen, selbst wenn sie formell einwandfrei und im Ergebnis als
zutreffend erscheinen mag.

3.3.4. Vorliegend hält sich der Gesamtquotient im Bereich von 39 Prozent (38,4
Prozent nach Auffassung des Steuerpflichtigen, wogegen die ESTV von 39,5
Prozent ausgeht). Der Steuerpflichtige zieht als Vergleichsgrösse die
Maximalwerte für Gourmetrestaurants (40,9 Prozent) und Landgasthöfe (44,6
Prozent) herbei. Der ESTV und mit ihr der Vorinstanz ist aber darin
beizupflichten, dass die Berechnungen bereits sehr stark individualisiert sind,
indem Schankverluste berücksichtigt wurden, die beispielsweise weit über das in
Deutschland übliche Mass hinausgehen. Selbst wenn es gilt, die Bandbreite nicht
aus dem Auge zu verlieren, erscheint es doch als nachvollziehbar, unter den
gegebenen Umständen vom Mittelwert auszugehen. Dieser liegt bei rund 32
Prozent, sodass der konkret massgebende Quotient (38,4 Prozent) um 20 Prozent
höher ausfällt als der gesamtschweizerische Durchschnitt.

3.3.5. So oder anders greift es zu kurz, wenn der Steuerpflichtige seine Kritik
hauptsächlich mit seinem angeblich einwandfreien Gesamtquotient begründet.
Erhebliche ungeklärte Auffälligkeiten im Bereich von "Küche" und "Kaffee"
(Entscheid E. 4.3.2 und 4.3.3) mussten die ESTV veranlassen, von einer
offensichtlichen Abweichung im Sinne der zweiten Tatbestandsvariante
auszugehen. Wenn sie in der Folge den Umsatz nach pflichtgemässem Ermessen
schätzte, ist dies bundesrechtlich nicht zu beanstanden.

3.4.

3.4.1. Der Steuerpflichtige hat davon abgesehen, weitere Rügen hinsichtlich der
Bewertungsmethode oder der Bewertung (dazu vorne E. 2.2.3 und 2.2.4) zu
erheben. Dazu erklärt er: "Zu den Erwägungen der Vorinstanz unter Ziff. 4 ff.
(Prüfung der Frage, ob die von der Vorinstanz zu Unrecht vorgenommene Schätzung
als nicht pflichtwidrig erfolgt gelten könne) äussert sich der Beschwerdeführer
nicht, weil seiner Überzeugung nach die Voraussetzungen zur Durchführung einer
Ermessenstaxation im vorliegenden Fall nicht gegeben sind." Da die Schätzung
damit nicht Streitgegenstand ist, ist der Frage auch nicht von Amtes wegen
nachzugehen (vorne E. 1.2.1; BGE 141 II 307 E. 6.8 S. 317).

3.4.2. Die Beschwerde erweist sich damit als unbegründet, weshalb sie
abzuweisen und der angefochtene Entscheid zu bestätigen ist.

4. 
Nach dem Unterliegerprinzip sind die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens
dem Steuerpflichtigen aufzuerlegen (Art. 65 i. V. m. Art. 66 Abs. 1 BGG). Der
ESTV, die in ihrem amtlichen Wirkungskreis obsiegt, steht keine
Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 3 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens von Fr. 2'000.-- werden dem
Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Bundesverwaltungsgericht,
Abteilung I, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 23. Mai 2016

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Seiler

Der Gerichtsschreiber: Kocher

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