Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.112/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
2C_112/2016

Urteil vom 19. Februar 2016

II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Zünd, Präsident,
Bundesrichterin Aubry Girardin,
Bundesrichter Haag,
Gerichtsschreiberin Hänni.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,

gegen

Migrationsamt des Kantons Zürich,

Bezirksgericht Zürich, Zwangsmassnahmengericht.

Gegenstand
Bestätigung Ausschaffungshaft,

Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, 1.
Abteilung, Einzelrichterin,
vom 19. Januar 2016.

Sachverhalt:

A.

A.a. A.________ (geb. 1965) stammt aus Afghanistan. Er reiste 1986 in die
Schweiz ein, wurde rund drei Jahre später als Flüchtling anerkannt und erhielt
die Niederlassungsbewilligung. A.________ wurde namentlich am 8. November 2000
vom Bezirksgericht U.________ wegen sexueller Nötigung, sexuellen Handlungen
mit einem Kind sowie versuchter Nötigung zu einer Gefängnisstrafe von sechzehn
Monaten verurteilt. Am 9. Juli 2010 erfolgte durch das Obergericht Zürich eine
weitere Verurteilung wegen mehrfacher Vergewaltigung, mehrfacher sexueller
Nötigung, mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern sowie Pornographie zu
einer Freiheitsstrafe von acht Jahren.

A.b. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte mit Urteil E-1249/2012 am 28.
Oktober 2013 den Widerruf des Asyls durch das Staatssekretariat für Migration
(SEM). Mit Amtsbericht vom 20. Februar 2013 teilte das SEM den zürcherischen
Behörden mit, der Vollzug der Wegweisung sei zulässig. Daraufhin widerrief das
Migrationsamt des Kantons Zürich am 9. Oktober 2015 die
Niederlassungsbewilligung von A.________. Den Widerruf bestätigte die
Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich. Auf eine gegen deren Rekursentscheid
vom 23. November 2015 erhobene Beschwerde trat das Verwaltungsgericht des
Kantons Zürich infolge Nichtleistung des Kostenvorschusses nicht ein. Eine
gegen den Nichteintretensentscheid des Verwaltungsgerichts vom 20. Januar 2016
geführte Beschwerde ist beim Bundesgericht hängig (Verfahren 2C_139/2016).

B.
Am 26. November 2015 verfügte das Migrationsamt die Überführung von A.________
vom Strafvollzug in die Ausschaffungshaft bis zum 2. März 2016 zwecks
Sicherstellung des Wegweisungsvollzugs. Am 3. Dezember 2015 wurde die
angeordnete Ausschaffungshaft angetreten. Das Zwangsmassnahmengericht des
Bezirksgerichts Zürich bestätigte die Rechtmässigkeit der angeordneten
Ausschaffungshaft am 4. Dezember 2015. Hiergegen erhob A.________ am 22.
Dezember 2015 (eingegangen am 29. Dezember 2015) Beschwerde an das
Verwaltungsgericht des Kantons Zürich und beantragte sinngemäss die Bestellung
eines unentgeltlichen Rechtsbeistands sowie die sofortige Haftentlassung und
eine Entschädigung infolge unrechtmässig verbüsster Haft. Mit
Präsidialverfügung vom 29. Dezember 2015 wurde er darauf hingewiesen, dass es
ihm obliege, bei Bedarf einen Rechtsvertreter zu beauftragen. Mit Eingabe vom
11. Januar 2016 ersuchte A.________ zur Hauptsache erneut um sofortige
Haftentlassung. Mit Schreiben vom 17. Januar 2016 ersuchte er wieder um
amtliche Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsanwalts. Das Verwaltungsgericht
hat die Eingaben vom 22. Dezember 2015 und vom 11. Januar 2016 vereinigt und
mit Urteil vom 19. Januar 2016 abgewiesen.

C.
Mit Eingabe vom 30. Januar 2016 beantragt A.________ dem Bundesgericht, es sei
ihm ein unentgeltlicher Pflichtverteidiger beizugeben. Sodann sei er aus der
Haft zu entlassen. Schliesslich sei ihm eine Entschädigung für die erstandene
Haft auszurichten.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich beantragt, die Beschwerde sei
abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das SEM beantragt, die Beschwerde
sei abzuweisen. Der Beschwerdeführer hält sinngemäss an seinen Anträgen fest.

Erwägungen:

1.
Gegen letztinstanzliche kantonale richterliche Entscheide betreffend die
Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht steht die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten offen, soweit der Betroffene am
vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen hat, durch den angefochtenen Entscheid
besonders berührt ist und an der Beurteilung seiner Eingabe ein aktuelles
praktisches Interesse hat (Art. 86 Abs. 1 und 2, Art. 89 Abs. 1 BGG). Der
Beschwerdeführer befindet sich gestützt auf den hier angefochtenen Entscheid
bis zum 2. März 2016 in Ausschaffungshaft. Er hat ein aktuelles Interesse,
entlassen zu werden. Ein Ausschlussgrund ist nicht ersichtlich (Art. 83 BGG).
Auf die frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten.

2.

2.1. Wurde ein erstinstanzlicher Weg- oder Ausweisungsentscheid eröffnet, kann
die zuständige Behörde den betroffenen Ausländer zur Sicherstellung von dessen
Vollzug unter anderem in Ausschaffungshaft nehmen bzw. in dieser belassen, wenn
er andere Personen ernsthaft bedroht oder an Leib und Leben erheblich gefährdet
und deshalb strafrechtlich verfolgt wird oder er wegen eines Verbrechens
verurteilt worden ist (Art. 76 Abs. 1 lit. b Ziff. 1 in Verbindung mit Art. 75
Abs. 1 lit. g und lit. h AuG; Urteile 2C_749/2012 vom 28. August 2012 E. 1;
2C_304/2012 vom 1. Mai 2012 E. 2.2.1; 2C_455/2009 vom 5. August 2009 E. 2.1, je
mit Hinweisen). Der Wegweisungsentscheid muss dabei nicht bereits rechtskräftig
sein; es genügt, dass sein Vollzug (z.B. wegen fehlender Papiere) noch nicht
möglich, jedoch absehbar erscheint. Der Vollzug der Weg- oder Ausweisung darf
sich nicht aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen als undurchführbar
erweisen (vgl. Art. 80 Abs. 6 lit. a AuG) und muss mit dem nötigen Nachdruck
verfolgt werden (Art. 76 Abs. 4 AuG: "Beschleunigungsgebot"). Die
ausländerrechtliche Festhaltung hat zudem als Ganzes verhältnismässig zu sein (
BGE 134 I 92 E. 2.3.2 S. 97; Urteile 2C_765/2015 vom 18. September 2015 E. 5.3;
2C_334/2015 vom 19. Mai 2015 E. 2.2; 2C_218/2013 vom 26. März 2013 E. 5.1).

2.2. Vorliegend ist unbestritten, dass die gesetzlichen Haftvoraussetzungen
grundsätzlich erfüllt sind (Art. 75 Abs. 1 lit. h und Art. 76 Abs. 1 lit. b
Ziff. 1 AuG) und die maximale Haftdauer von 18 Monaten noch nicht erreicht
wurde (Art. 79 Abs. 2 AuG). Der Beschwerdeführer stellt den angefochtenen
Entscheid indessen bezüglich der von ihm beantragten unentgeltlichen
anwaltlichen Vertretung in Frage. Bestritten wird sodann die Rechtmässigkeit
der Ausschaffungshaft mit Blick auf die tatsächliche und rechtliche
Durchführbarkeit der Wegweisung (vgl. Art. 80 Abs. 6 lit. a AuG). Er bringt
sinngemäss vor, die Rückkehr in sein Heimatland sei ihm infolge seiner
gesundheitlichen Situation sowie aufgrund von Kriegsgeschehen in Afghanistan
unzumutbar.

2.2.1. Gemäss Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die
erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn
ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer
Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen
Rechtsbeistand. Nach Art. 31 Abs. 2 BV muss jede Person, welcher die Freiheit
entzogen wird, die Möglichkeit haben, ihre Rechte - in einer den Umständen
angemessenen, wirksamen Weise - geltend zu machen (BGE 134 I 92 E. 3.2.3 S.
100). Nicht aussichtslos ist im Bereich der ausländerrechtlichen
Administrativhaft namentlich ein Fall, der in rechtlicher und tatsächlicher
Hinsicht schwierig ist (Urteil 2C_906/2008 vom 28. April 2009 E. 2.2.2 f.).
Unabhängig von den Erfolgsaussichten der Begehren darf einem bedürftigen
Häftling spätestens nach drei Monaten Haft auf Gesuch hin der unentgeltliche
Rechtsbeistand regelmässig nicht (mehr) verweigert werden (BGE 139 I 206 E.
3.3.1 S. 214; 134 I 92 E. 3.2.2 und 3.2.3 S. 100; Urteile 2C_332/2012 vom 3.
Mai 2012 E. 2.3.1; 2C_548/2011 vom 26. Juli 2011 E. 4.2.2).

2.2.2. Es stellt sich die Frage, ob die Vorinstanz dem Beschwerdeführer einen
unentgeltlichen Rechtsbeistand hätte beigeben müssen. Die Vorinstanz hat in
ihrem Urteil vom 19. Januar 2016 festgestellt, der Beschwerdeführer sei nicht
mittellos. Er selbst weist in seiner Eingabe an die Vorinstanz auf Ersparnisse
im Umfang von Fr. 11'000.-- hin. Im Rahmen der Überprüfung des Widerrufs der
Niederlassungsbewilligung geht das Verwaltungsgericht nur einen Tag nach dem
hier angefochtenen Urteil in einem Nichteintretensentscheid davon aus, der
Beschwerdeführer sei erheblich verschuldet (Verfahren 2C_139/2016). Es stellte
zahlreiche offene Verlustscheine im Betrag von über Fr. 45'000.-- fest, wobei
der Beschwerdeführer "alleine der Zürcher Justiz Fr. 25'551.70" schulde. Indem
die Vorinstanz die Mittellosigkeit verneinte, hat sie den Sachverhalt
offensichtlich unrichtig festgestellt (Art. 105 Abs. 2 BGG); die Vorinstanz
hätte die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers bejahen müssen. Die kantonale
Beschwerde liess sich sodann angesichts der besonderen Schwierigkeiten in
rechtlicher oder tatsächlicher Natur nicht zum Vornherein als aussichtslos
bezeichnen (vgl. hiervor E. 2.2.1 in fine). Dies ergibt sich namentlich aus dem
Umstand, dass der Beschwerdeführer im Rahmen des Strafverfahrens lange
inhaftiert war. Die Behörden sind bereits während des Strafvollzugs
verpflichtet, eine anschliessende Wegweisung beförderlich vorzubereiten, um die
Entstehung eines Haftgrundes im Sinne von Art. 75 f. AuG und damit eine weitere
Freiheitsbeschränkung möglichst zu vermeiden oder die Dauer einer allfälligen
Administrativhaft kurz zu halten (BGE 130 II 488 E. 4.1 S. 492; 124 II 49 E. 3a
S. 51 mit Hinweisen). Vorliegend fällt zudem ins Gewicht, dass der
Beschwerdeführer nach Afghanistan - einem Land mit prekärer Sicherheitslage -
weggewiesen werden soll. Schliesslich wurde dem Beschwerdeführer das Asyl
widerrufen, es bestehen jedoch keine Hinweise darauf, dass er die
Flüchtlingseigenschaft verloren hätte; dies weist auf eine komplexe
verfahrensrechtliche Situation hin (vgl. Urteil 2C_906/2008 vom 28. April 2009
E. 2.2.2 f.; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-1249/2012 vom 28. Oktober
2013 Sachverhalt lit. D und E. 6). Vor diesem Hintergrund durfte es die
Vorinstanz nicht bei der Aussage bewenden lassen, es obliege dem
Beschwerdeführer selbst, einen Rechtsvertreter beizuziehen. Vielmehr wäre sie
verpflichtet gewesen, das rechtzeitig eingereichte Gesuch sorgfältig zu prüfen
und dem Beschwerdeführer den beantragten Rechtsbeistand zu bestellen. Der
Beschwerdeführer dringt mit seiner sinngemässen Rüge der formellen
Rechtsverweigerung in Bezug auf die unentgeltliche Verbeiständung durch (Art.
29 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 3 BV).

3.

3.1. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde begründet. Das Urteil des
Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, Einzelrichterin, vom 19. Januar 2016
wird aufgehoben. Die festgestellte formelle Rechtsverweigerung rechtfertigt es
nicht, den Beschwerdeführer sofort aus der Haft zu entlassen (vgl. Urteil
2C_1089/2012 vom 22. November 2012 E. 4.1 mit Hinweis auf BGE 121 II 105 E. 2c
S. 109). Hingegen hat die Vorinstanz dem Beschwerdeführer einen unentgeltlichen
Rechtsbeistand zu bestellen und die Streitsache - unter Berücksichtigung seiner
Beschwerdeergänzung - neu zu beurteilen. Die Streitsache wird in diesem Sinne
zur Fortführung des Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen. Der beantragte
Entschädigungsanspruch aufgrund ungerechtfertigt angeordneter Ausschaffungshaft
bildet nicht Gegenstand des Verfahrens.

3.2. Bei diesem Ausgang sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4
BGG). Dem Beschwerdeführer sind keine Vertretungskosten entstanden. Das auch
für das bundesgerichtliche Verfahren gestellte Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung wird gegenstandslos.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, und das Urteil des Verwaltungsgerichts des
Kantons Zürich, Einzelrichterin, vom 19. Januar 2016 wird aufgehoben. Die Sache
wird zur Fortführung des Verfahrens und zur Neubeurteilung im Sinne der
Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Es werden keine Kosten erhoben.

3. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird als
gegenstandslos abgeschrieben.

4. 
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des
Kantons Zürich, 1. Abteilung, Einzelrichterin, und dem Staatssekretariat für
Migration schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 19. Februar 2016

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Zünd

Die Gerichtsschreiberin: Hänni

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