Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.1093/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
2C_1093/2016       

Urteil vom 29. Mai 2017

II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Seiler, Präsident,
Bundesrichter Donzallaz,
Bundesrichter Stadelmann,
Gerichtsschreiberin Genner.

Verfahrensbeteiligte
1. A.A.________,
2. B.A.________,
Beschwerdeführer,
beide vertreten durch Rechtsanwalt Hans Werner Meier,

gegen

Migrationsamt des Kantons Thurgau,

Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau.

Gegenstand
Familiennachzug,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 5. Oktober 2016.

Sachverhalt:

A.
Der aus der Türkei stammende A.A.________ (geb. 1970) heiratete am 20. Januar
1993 eine 23 Jahre ältere Schweizerin. Nach der erleichterten Eingebürgerung am
18. Februar 1997 verfügte er über die türkische und die schweizerische
Staatsbürgerschaft. Die Ehe wurde am 20. November 1998 geschieden.
Am 9. März 1999 heiratete A.A.________ in der Türkei B.A.________ (geb. 1976),
mit der er zwei Töchter hatte (geb. im September 1994 und im September 1995).
Ein im Jahr 2004 gestelltes Gesuch um Nachzug von Ehefrau und Kindern wurde am
21. Februar 2005 abgewiesen. Der Entscheid erwuchs in Rechtskraft, nachdem auf
den Rekurs infolge Nichtbezahlens des Kostenvorschusses nicht eingetreten
worden war.

B.
Im November/Dezember 2014 stellte A.A.________ ein Gesuch um Familiennachzug
für seine Ehefrau. Das Migrationsamt des Kantons Thurgau wies das Gesuch am 12.
August 2015 ab. Die dagegen von den Eheleuten A.________ erhobenen kantonalen
Rechtsmittel blieben erfolglos (Entscheid des Departements für Justiz und
Sicherheit des Kantons Thurgau vom 24. Februar 2016, Urteil des
Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 5. Oktober 2016).

C.
A.A.________ und B.A.________ erheben am 30. November 2016 Beschwerde beim
Bundesgericht mit den Anträgen, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und
B.A.________ die Einreise in den Kanton Thurgau zu ihrem Ehegatten zu
gestatten.
Das Verwaltungsgericht, das Departement für Justiz und Sicherheit sowie das
Migrationsamt schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Staatssekretariat
für Migration hat auf Vernehmlassung verzichtet. A.A.________ und B.A.________
haben am 30. Januar 2017 repliziert und neue Unterlagen eingereicht.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten steht offen gegen
letztinstanzliche kantonale Gerichtsentscheide auf dem Gebiet des
Ausländerrechts betreffend Bewilligungen, auf die das Bundesrecht oder das
Völkerrecht einen Anspruch einräumt (vgl. Art. 82 lit. a BGG, Art. 83 lit. c
Ziff. 2 BGG e contrario, Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG, Art. 90 BGG). Die
Beschwerdeführer berufen sich auf Art. 42 Abs. 1 AuG (SR 142.20) i.V.m. Art. 47
Abs. 4 AuG (nachträglicher Familiennachzug aus wichtigen familiären Gründen)
sowie auf Art. 8 EMRK. Diese Ansprüche fallen potenziell in Betracht, weshalb
die Beschwerde zulässig ist.

1.2. Die Beschwerdeführer haben am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen,
und als Ehegatten haben sie ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung des
angefochtenen Entscheids. Sie sind gemäss Art. 89 Abs. 1 BGG zur
Beschwerdeführung legitimiert. Auf die frist- (Art. 100 Abs. 1 BGG) und
formgerecht (Art. 42 BGG) eingereichte Beschwerde ist einzutreten.

2.

2.1. Ausländische Ehegatten von Schweizerinnen und Schweizern haben Anspruch
auf Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, wenn sie mit diesen
zusammenwohnen (Art. 42 Abs. 1 AuG [SR 142.20]). Der Anspruch auf
Familiennachzug muss innerhalb von fünf Jahren geltend gemacht werden; Kinder
über zwölf Jahre müssen innerhalb von zwölf Monaten nachgezogen werden (Art. 47
Abs. 1 AuG). Die Fristen beginnen bei Familienangehörigen von Schweizerinnen
und Schweizern nach Art. 42 Abs. 1 AuG mit deren Einreise oder mit der
Entstehung des Familienverhältnisses (Art. 47 Abs. 3 lit. a AuG). Ist das
betreffende Ereignis vor Inkrafttreten des AuG am 1. Januar 2008 erfolgt,
beginnt (übergangsrechtlich) die Frist mit diesem Datum zu laufen (Art. 126
Abs. 3 AuG).

2.2. Ein nachträglicher Familiennachzug wird nur bewilligt, wenn wichtige
familiäre Gründe geltend gemacht werden (Art. 47 Abs. 4 erster Satz AuG).

3.

3.1. Die Frist zur Einreichung eines Gesuchs hat für die Beschwerdeführer am 1.
Januar 2008 zu laufen begonnen und am 31. Dezember 2012 geendet (vgl. E. 2.1).
Das im November/Dezember 2014 gestellte Gesuch ist somit verspätet, was die
Beschwerdeführer nicht bestreiten. Zu prüfen bleibt, ob wichtige familiäre
Gründe im Sinn von Art. 47 Abs. 4 AuG vorliegen.

3.2. Die Bewilligung des Nachzugs nach Ablauf der Fristen hat nach dem Willen
des Gesetzgebers die Ausnahme zu bleiben, soll die Fristenregelung nicht ihres
Sinns entleert werden. Ein nachträglicher Nachzug kommt nicht in Betracht, wenn
der Nachzugswillige die Einhaltung von Fristen, die ihm die Zusammenführung der
Familie ermöglicht hätte, versäumt hat und keine gewichtigen Gründe geltend
macht, um erst später einen derartigen Nachzug zu beantragen (Urteile 2C_303/
2014 vom 20. Februar 2015 E. 6.1 am Ende; 2C_205/2011 vom 3. Oktober 2011 E.
4.4 am Ende). Namentlich dort, wo die Familie selber die Trennung freiwillig
herbeigeführt hat, bedarf es stichhaltiger Gründe, die zum Wohl der Familie
eine andere Lösung erforderlich machen (Urteile 2C_914/2014 vom 18. Mai 2015 E.
4.2; 2C_900/2012 vom 25. Januar 2013 E. 3.4.1; 2C_205/2011 vom 3. Oktober 2011
E. 4.5; 2C_800/2010 vom 22. März 2011 E. 2.2). So wurde ein nachträglicher
Nachzug verweigert, wenn Ehefrau und Kinder bisher bereits im Ausland getrennt
vom Ehemann bzw. Vater lebten und weiterhin dort leben konnten (Urteile 2C_914/
2014 vom 18. Mai 2015 E. 4; 2C_205/2011 vom 3. Oktober 2011 E. 4.5). Dennoch
ist Art. 47 Abs. 4 erster Satz AuG bzw. Art. 73 Abs. 3 der Verordnung vom 24.
Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE; SR 142.201)
so zu handhaben, dass der Anspruch auf Schutz des Familienlebens nach Art. 8
EMRK bzw. Art. 13 BV nicht verletzt wird (Urteil 2C_276/2011 vom 10. Oktober
2011 E. 4.1, nicht publ. in: BGE 137 II 393; Urteile 2C_809/2016 vom 6. März
2017 E. 3.3.1; 2C_303/2014 vom 20. Februar 2015 E. 6.1; 2C_97/2013 vom 26.
August 2013 E. 2.3; 2C_132/2012 vom 19. September 2012 E. 2.3.1).

3.3. Die Vorinstanz verneinte das Vorliegen wichtiger Gründe im Sinn   von Art.
47 Abs. 4 AuG mit der Begründung, bei der Einreichung des Gesuchs im November/
Dezember 2014 seien die Töchter der Beschwerdeführer 19 und 20 Jahre alt
gewesen und die Beschwerdeführer hätten schon mehr als 15 Jahre voneinander
getrennt gelebt. Nach der Abweisung des ersten Familiennachzugsgesuchs im Jahr
2005 hätten sich die Beschwerdeführer offenkundig dafür entschieden, ein
getrenntes Familenleben zu führen, obwohl der Beschwerdeführer 1 jederzeit in
die Türkei hätte übersiedeln können. Mit der jahrelangen Trennung hätten die
Beschwerdeführer zum Ausdruck gebracht, dass ihnen an einem gemeinsamen
Familienleben nicht sehr viel gelegen sei. Im Übrigen hätten sie das Gesuch
trotz der Betreuung der beiden Töchter durch die Beschwerdeführerin 2 und den
angeblich strengen Sitten in der Türkei schon vor Ablauf der Fünfjahresfrist,
also vor dem 1. Januar 2013 einreichen können, denn in jenem Zeitpunkt sei die
jüngere Tochter schon fast 18 Jahre alt und der bevorstehende Auszug der
Töchter absehbar gewesen. Bis zu allfälligen Gesuchsbewilligung wäre sie längst
volljährig gewesen und hätte dann - wie heute - durch Verwandte betreut werden
können. Dennoch hätten die Beschwerdeführer mit der Gesuchstellung noch fast
zwei Jahre zugewartet. Darin, dass die Betreuungspflichten der
Beschwerdeführerin 2 gegenüber den Töchtern gemäss den Sitten und Bräuchen in
der Türkei erst lange nach deren Mündigkeit, durch Heirat bzw. Wohnsitznahme
beim Grossvater, weggefallen seien, könne kein wichtiger familiärer Grund für
das verspätet eingereichte Gesuch erblickt werden. Nachdem sich durch die
Nichtbewilligung des Nachzugsgesuchs an der Familiensituation nichts ändere,
sei der Entscheid auch verhältnismässig im Sinn von Art. 8 Ziff. 2 EMRK, zumal
die mittlerweile schon 39-jährige Beschwerdeführerin 2 grösste Mühe haben
würde, sich beruflich und sozial in der Schweiz zu integrieren. Das öffentliche
Interesse an einer Einwanderungsbegrenzung und das Ziel einer möglichst
frühzeitigen Integration stehe dem Familiennachzug klar entgegen.

3.4. Diese Einschätzung kann im Wesentlichen bestätigt werden. Im Jahr 2012,
dem letzten Jahr der fünfjährigen Frist, vollendeten die Töchter der
Beschwerdeführer das 18. bzw. 17. Lebensjahr, so dass ein Wechsel der
Unterbringung noch in Ruhe hätte geplant werden können. Nach einer allfälligen
Bewilligung des (rechtzeitig gestellten) Familiennachzugsgesuchs wären sie ohne
Zweifel alt genug gewesen, um ausserhalb des mütterlichen Haushalts zu wohnen.
Ob eine Unterbringung bei Dritten angezeigt gewesen wäre, weil - wie die
Beschwerdeführer behaupten - in ländlichen Gebieten der Türkei junge ledige
Frauen über die Volljährigkeit hinaus nicht selbständig wohnen, kann
dahingestellt bleiben. Wenn die Beschwerdeführer - aus welchen Gründen auch
immer - nicht wünschten, dass ihre (erwachsenen) Töchter allein lebten, so lag
es an ihnen, für Abhilfe zu sorgen. Eine Notwendigkeit, mit der Einreichung des
Gesuchs zu warten, ist damit jedenfalls nicht verbunden, zumal dieses bei
Bedarf auch hätte zurückgezogen werden können. Die Frage der Unterbringung der
volljährigen Töchter im Fall einer Übersiedlung der Beschwerdeführerin 2 in die
Schweiz stellt keinen wichtigen familiären Grund im Sinn von Art. 47 Abs. 4 AuG
dar.
Die Interessenabwägung nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK steht diesem Ergebnis nicht
entgegen: Auch die Ehe räumlich getrennt lebender Ehegatten (ein Ehewille
vorausgesetzt) fällt unter den Schutz des Familienlebens. Durch die lange,
freiwillige Trennung erscheint das Interesse an einem Nachzug der
Beschwerdeführerin 2 in die Schweiz jedoch eher mässig. Zwar kann nicht ausser
Acht gelassen werden, dass die Beschwerdeführer im Jahr 2004 ein Nachzugsgesuch
für die ganze Familie gestellt und damit ihren Willen zur Führung eines
gemeinsamen Familienlebens in der Schweiz bekundet haben. Die Erwägung der
Vorinstanz, wonach ihnen daran nicht so viel liege, ist insofern zu
relativieren. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Beschwerdeführer nach der
Abweisung jenes ersten Gesuchs der Variante, dass der Beschwerdeführer 1 in der
Schweiz bleibt, den Vorzug gegeben haben vor der Variante, dass die ganze
Familie zusammen in der Türkei lebt. Vor diesem Hintergrund ergibt sich nicht
zwingend, dass die Ehe in der Schweiz gelebt werden muss, zumal sich am
heutigen Zustand nichts ändert. Sodann hat die Vorinstanz zu Recht auf zu
erwartende Integrationsschwierigkeiten der Beschwerdeführerin 2 in der Schweiz
hingewiesen. Aufgrund dieser Gesamtbetrachtung erscheint die Nichtbewilligung
des Nachzugs der Beschwerdeführerin 2 verhältnismässig.

4.
Nach dem Gesagen ist die Beschwerde abzuweisen. Den unterliegenden
Beschwerdeführern sind die Gerichtskosten unter solidarischer Haftung
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 und 5 BGG). Eine Parteientschädigung ist nicht
geschuldet (Art. 68 Abs. 1-3 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden den Beschwerdeführern unter
solidarischer Haftung auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des
Kantons Thurgau und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 29. Mai 2017

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Seiler

Die Gerichtsschreiberin: Genner

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