Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Spezialdossiers, Aufsichtsanzeige 12T.1/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
12T_1/2016

Entscheid vom 6. April 2016
Verwaltungskommission

Besetzung
Bundesrichter Kolly, Präsident,
Bundesrichter Meyer,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Generalsekretär Tschümperlin.

A.________,
Anzeiger,

gegen

Bundesverwaltungsgericht, Verwaltungskommission, Postfach, 9023 St. Gallen.

Gegenstand
Aufsichtsanzeige (BGG) : Koordination der Rechtsprechung.

Sachverhalt:

A. 
A.________ vertrat die Familie B.________ aus Russland im Asylverfahren und im
Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (Verfahren 1). Die Familie
B.________ suchte im Jahr 2010 um Asyl nach, welches das Bundesamt für
Migration (BFM) mit Verfügung vom 31. März 2011 ablehnte. Die dagegen erhobene
Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 30. Juli 2013 ab.
Am 2. Januar 2014 reichte A.________ für den minderjährigen Sohn A. B.________
ein "Erst-Asylgesuch" und für seine Eltern und dessen jüngeren Bruder ein
Wiederwägungsgesuch beim BFM ein. Zusätzlich ersuchte A.B.________ in einer
separaten handschriftlich verfassten Eingabe vom 7. Januar 2014
höchstpersönlich um Asyl nach. Das BFM trat mit Verfügung vom 19. Februar 2014
auf das Wiedererwägungsgesuch wegen Nichtbezahlung des Gebührenvorschusses
nicht ein. Das Gesuch von A.B.________ prüfte es nicht. Die gegen den Entscheid
betreffend dem Gesuch von A.B.________ erhobene Rechtsverweigerungsbeschwerde
vom 27. Februar 2014 hiess das Bundesverwaltungsgericht am 17. März 2014 gut
und wies das BFM an, das Asylgesuch von A.B.________ vom 2. Januar 2014 zu
behandeln (Verfahren E-1158/2014). Mit Verfügung vom 21. August 2014 lehnte das
BFM das Asylgesuch ab und ordnete die Wegweisung aus der Schweiz sowie den
Vollzug an. Die dagegen erhobene Beschwerde vom 22. September 2014 hiess das
Bundesverwaltungsgericht bezüglich des Wegweisungsvollzugs mit Urteil vom 23.
April 2015 gut und wies sie in den übrigen Punkten ab (Verfahren E-5380/2014).

B. 
A.________ vertrat auch die Familie C.________ aus Nigeria im Asylverfahren und
im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (Verfahren 2). Die Familie
C.________ ersuchte im Jahr 2012 beim BFM um Asyl. Das BFM lehnte das Gesuch
ab. Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit
Urteil vom 15. Mai 2013 ab. In der Folge stellte die Familie fünf
Wiedererwägungsgesuche. Diese wies das BFM bzw. das Staatssekretariat für
Migration (SEM) allesamt ab. Die dagegen erhobenen Beschwerden wies auch das
Bundesverwaltungsgericht ab (zuletzt in: D- 7958/2015).

C.
A.________ vertrat zudem die minderjährigen Kinder der Familie D.________ im
Asylverfahren und im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (Verfahren 3).
Die Mutter der Kinder suchte im Jahr 2010 erstmals für sich und ihre Kinder um
Asyl in der Schweiz nach. Dieses lehnte das BFM ab. Eine dagegen erhobene
Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 15. September 2011
ab. Dasselbe geschah mit dem zweiten und dritten Asylgesuch der Familie. In der
Folge reichten die Kinder D.________ am 3. Mai 2015 eigene Asylgesuche ein. Das
SEM überwies am 7. Mai 2015 das Gesuch an das Bundesverwaltungsgericht zur
weiteren Behandlung. Dieses schickte die Eingabe am 13. Mai 2015 mit formloser
Verfügung zur gutscheinenden Beantwortung, respektive Behandlung wieder zurück
an das SEM (E-2931/2015). Das SEM lehnte daraufhin die Asylgesuche mit
Verfügung vom 13. November 2015 ab. Das Bundesverwaltungsgericht wies in seiner
Zwischenverfügung vom 29. Dezember 2015 die Gesuche um Gewährung der
unentgeltlichen Prozessführung und unentgeltlicher Verbeiständung wegen
Aussichstlosigkeit des Beschwerdeverfahrens ab (E-8011/2015).

D. 
A.________ vertrat des weiteren die am 11. Juli 2006 geborene E.________ aus
Nigeria im Asylverfahren und im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht
(Verfahren 4). Deren Eltern stellten am 1. November 2012 in der Schweiz
Asylgesuche. Mit Verfügung vom 1. November 2013 lehnte das BFM die Asylgesuche
ab und ordnete die Wegweisung und den Vollzug an. Eine gegen den
Wegweisungvollzug erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit
Urteil vom 24. Februar 2014 ab. Im weiteren Verlauf stellte die Familie vier
Wiedererwägungsgesuche, welche das BFM bzw. SEM allesamt abwies. Das
Bundesverwaltungsgericht wies die dagegen erhobenen Beschwerden ebenfalls ab.
Am 27. August 2015 stellte A.________ ein "Erst-Asylgesuch" für die Tochter
E.________. Parallel dazu stellte die Mutter wiederum ein
Wiedererwägungsgesuch. Das SEM schenkte beiden Eingaben keine weitere
Beachtung. Dagegen erhob der Anzeiger mit Eingabe vom 31. Dezember 2015,
ergänzt am 11. Januar 2016, beim Bundesverwaltungsgericht
Rechtsverweigerungsbeschwerde und beantragte unter anderem die Gewährung der
Akteneinsicht. In seiner Zwischenverfügung vom 13. Januar 2016 forderte das
Bundesverwaltungsgericht das SEM auf, das Akteneinsichtsgesuch der
Beschwerdeführerin zu behandeln (E 1/2016).

E. 
A.________ reichte am 20. Januar 2016 beim Bundesgericht als administrativer
Aufsichtsbehörde über das Bundesverwaltungsgericht eine Aufsichtsanzeige wegen
Verletzung der Koordinationspflicht ein.

F. 
Das Bundesverwaltungsgericht beantragt in seiner Vernehmlassung vom 29. Februar
2016, der Aufsichtsanzeige keine Folge zu geben.

Erwägungen:

1. 
Beim vorliegenden Verfahren handelt es sich um eine Aufsichtsanzeige im Sinne
von Art. 1 Abs. 2Bundesgerichtsgesetz (BGG; SR 173.110), Art. 3 lit. f
Aufsichtsreglement des Bundesgerichts (AufRBGer; SR 173.110.132) und Art. 3
Abs. 1 Verwaltungsgerichtsgesetz (VGG; SR 173.32) i.V.m. Art. 71 Abs. 1
Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren (VwVG; SR 172.021).

2. 
Der Anzeiger beschränkt seine Aufsichtsanzeige ausdrücklich auf die mögliche
Verletzung der Koordinationspflicht der Abteilungen IV und V des
Bundesverwaltungsgerichts betreffend der Umsetzung des Übereinkommens vom 20.
November 1989 über die Rechte des Kindes, insbesondere der Artikel 2, 3 und 12
(nachfolgend: KRK, SR 0.107). Er macht geltend, das Bundesverwaltungsgericht
unterlasse die administrativen Massnahmen zur Vermeidung von sich
widerstreitenden Urteilen. Dabei beruft er sich aus dem Zeitraum vom 17. März
2014 bis zum 13. Januar 2016 auf die Verfahren 1 bis 4 vor dem
Bundesverwaltungsgericht, in welchen er als Parteivertreter gewirkt und in
denen es um das Recht auf Anhörung von urteilsfähigen Kindern im Asylverfahren
ging. Die Entscheide der Abteilungen IV und V des Bundesverwaltungsgerichts
würden im Falle von Kindergesuchen bei gleichen Sachverhalten ein äusserst
weites Spektrum umfassen, was die Rechtsgleichheit der Kinder verletzen würde
und die Voraussehbarkeit der Entscheide stark einschränke. Das
Bundesverwaltungsgericht wende unter anderem eine unterschiedliche Rechtspraxis
in Bezug auf das in Art. 12 KRK normierte Recht auf Anhörung von Kindern im
Verwaltungsverfahren an. Dabei geht es hauptsächlich um Verfahren, in welchen
urteilsfähigen Kindern von Eltern mit abgewiesenem Asylgesuch im Laufe des
elterlichen Asylverfahrens keine Partizipationsrechte gewährt worden seien.
Der Anzeiger verweist dabei auf das Verfahren 1. Das Bundesverwaltungsgericht
habe in diesem Entscheid erwogen, dass Kinder zu befragen seien, wenn ein oder
beide Elternteile ein Asylgesuch gestellt haben und dieses abgelehnt wurde und
das im Asylverfahren der Eltern nicht angehörte Kind dann später bzw. nach
Erlangen der Urteilsfähigkeit ein eigenes Asylgesuch stelle. Auch im Verfahren
4 sei dieses Recht implizit bejaht worden. Der Anzeiger beanstandet, dass
demgegenüber im Verfahren 3 die Beschwerde betreffend die verweigerte Anhörung
urteilsfähiger Kinder an das SEM rücküberwiesen wurde, woraufhin eine
diesbezüglich abschlägige Verfügung erging. Im darauf folgenden
Beschwerdeverfahren sei die Beschwerde als aussichtslos erachtet worden,
obschon das rechtliche Gehör im Sinne von Art. 12 KRK im vorinstanzlichen
Verfahren unheilbar verletzt worden sei. Schliesslich sei im Verfahren 2 eine
Mitteilungspflicht einer in der Schweiz angeordneten Kindesschutzmassnahme an
die ausländische Kindesschutzbehörde verneint worden, während eine solche
implizit im Verfahren 4 zu entnehmen sei.

3. 
Eine unzulängliche Organisation oder Durchführung der Koordination der
Rechtsprechung am Bundesverwaltungsgericht fällt grundsätzlich in die
aufsichtsrechtliche Kompetenz des Bundesgerichts. Zwar liegt die
Einheitlichkeit der Rechtsprechung im Grenzbereich zwischen Rechtsprechung und
administrativer Aufsicht. Ob die Rechtsprechung im konkreten Fall entsprechend
dem Geschäftsreglement durchgeführt wird und diese zweckmässig organisiert ist,
fällt jedoch in den der Aufsicht des Bundesgerichts unterstehenden Bereich der
Organisation und Geschäftsführung. Inwieweit die Einheitlichkeit der
Rechtsprechung als solche Prüfungsgegenstand der Aufsichtsbeschwerde ans
Bundesgericht sein kann, hat das Bundesgericht dagegen offengelassen (BGE 135
II 429).
Ein aufsichtsrechtlich relevantes Koordinationsproblem liegt gemäss der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung vor, wenn eine divergierende Rechtsprechung
an einem Gericht auf organisatorische Mängel zurückzuführen ist. Dies ist
beispielsweise dann der Fall, wenn die bisherige Praxis zur einschlägigen
Rechtsfrage auch für aufmerksame Richter nicht greifbar ist oder wenn bei
erkannter Divergenz kein wirksames Koordinationsinstrumentarium zur Verfügung
steht. Von einer uneinheitlichen Rechtsprechung kann hingegen nicht gesprochen
werden, wenn verschiedenen Fällen wohl die gleiche Rechtsfrage zugrunde liegt,
die Urteile jedoch aufgrund abweichender Sachverhalte unterschiedlich
ausfallen. Aus einem einzelnen abweichenden Urteil ergibt sich noch nicht, dass
ein Koordinationsmangel in der Rechtsprechung vorliegt.

3.1. Das Bundesverwaltungsgericht führt in seiner Stellungnahme aus, die
Rechtsprechung hinsichtlich Art. 3 und 12 KRK, namentlich zum Anhörungsrecht
von Kindern im Asylverfahren, sei bereits in einem Grundsatzurteil (BVGE 2012/
31) koordiniert worden. Daraus wird ersichtlich, dass die Rechtsprechung
bezüglich des Anhörungsrechts von Kindern im Asylverfahren klar ist. Die
Vertretung der Kinder durch die Eltern genügt, sofern sich deren Interessen
decken und diesfalls auf eine Anhörung der Kinder verzichtet werden kann, wenn
ihr Standpunkt in den schriftlichen Eingaben genügend zum Ausdruck gekommen
ist. Des Weiteren verweist das Bundesverwaltungsgericht auf das Reglement vom
28. August 2013 über die Zusammenarbeit der Abteilungen IV und V des
Bundesverwaltungsgerichts (ZASAR), welches die Koordination der
Verfahrensabläufe und der Rechtsprechung auf dem Gebiet des Asylrechts regelt.

3.2. Entgegen den Vorbringen des Anzeigers kann weder den Urteilen im Verfahren
1, noch der Zwischenverfügung in Verfahren 4 entnommen werden, die gerade
urteilsfähig gewordenen Kinder seien im Rahmen einer Befragung zu den
Asylgründen anzuhören, nachdem das Asylgesuch der Eltern in einem vorgängigen
Verfahren abgelehnt worden war. Was die Instruktionen in den genannten
Verfahren anbelangt, so ist festzustellen, dass diese verschiedene
Sachverhaltsumstände aufweisen und sich im Rahmen der Praxis des
Bundesverwaltungsgerichts bewegen. In keinem der genannten Verfahren wird auch
nur implizit ein Anhörungsrecht der Kinder statuiert, da in keinem eine gemäss
der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts umschriebene Ausnahmesituation
divergierender Eltern-Kind-Interessen vorliegt. Schliesslich ist auch keine
koordinationsrechtlich relevante Divergenz betreffend einer Mitteilungspflicht
von inländischen Kinderschutzmassnahmen an ausländische Kindesschutzbehörden
durch die Asylbehörden auszumachen. Eine Solche geht auch nicht aus der
Zwischenverfügung in Verfahren 4 hervor.

3.3. In den vom Anzeiger erwähnten Verfahren lässt sich keine
koordinationsrechtlich relevante Divergenz feststellen. Aus dem
unterschiedlichen Ausgang der Verfahren oder aus einem einzelnen abweichenden
Urteil kann nicht auf eine mangelnde Koordination der Rechtsprechung
geschlossen werden. Es bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte für einen Mangel
in der Organisation oder Durchführung der Koordination der Rechtsprechung.
Der Aufsichtsanzeige ist daher keine Folge zu geben.

3.4. An diesem Ergebnis ändern auch die Ergänzungen der Aufsichtsanzeige vom 7.
und 22. März 2016 nichts.

4. 
Aufsichtsbeschwerden sind grundsätzlich kostenlos. Die Voraussetzungen für eine
Ausnahme gemäss Art. 10 der Verordnung über Kosten und Entschädigungen im
Verwaltungsverfahren (SR 172.041.0) sind vorliegend nicht gegeben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Der Aufsichtsanzeige wird keine Folge geleistet.

2. 
Es werden keine Kosten erhoben.

3. 
Dieser Entscheid wird dem Bundesverwaltungsgericht, Verwaltungskommission,
schriftlich mitgeteilt. Dem Anzeiger wird eine Orientierungskopie zugestellt.

Lausanne, 6. April 2016

Im Namen der Verwaltungskommission
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kolly

Der Generalsekretär: Tschümperlin

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