Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 933/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_933/2015

Urteil vom 9. Juni 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
 Helsana Versicherungen AG, Recht, Postfach, 8081 Zürich Helsana,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Basel-Landschaft, Hauptstrasse 109, 4102 Binningen,
Beschwerdegegnerin,

 A.________,
handelnd durch seine Eltern.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom
9. Juli 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die Eltern des am 1. August 2004 geborenen A.________ meldeten ihren Sohn im
März 2013 unter Hinweis auf "ADS/ADHS" (Aufmerksamkeitsdefizit-
[Hyperaktivitäts-]Störung) bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an,
wobei sie namentlich um Abgabe des Medikamentes Ritalin ersuchten. Nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens, an dem auch die Helsana Versicherungen
AG (nachfolgend: Helsana) als obligatorische Krankenpflegeversicherung des
A.________ teilnahm, verneinte die IV-Stelle Basel-Landschaft mit Verfügung vom
19. Januar 2015 das Vorliegen eines Geburtsgebrechens (Ziff. 404 des Anhangs
zur Verordnung vom 9. Dezember 1985 über Geburtsgebrechen) und einen Anspruch
auf medizinische Massnahmen.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde der Helsana wies das Kantonsgericht
Basel-Landschaft mit Entscheid vom 9. Juli 2015 ab.

C. 
Die Helsana beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten,
unter Aufhebung des Entscheids vom 9. Juli 2015 sei die IV-Stelle zu
verpflichten, Kostengutsprache für die notwendigen medizinischen Massnahmen zu
erteilen; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an das kantonale
Gericht zurückzuweisen.

Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) schliessen auf
Abweisung der Beschwerde. A.________ lässt sich nicht vernehmen.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

2.

2.1. Versicherte haben bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf die zur
Behandlung von Geburtsgebrechen (Art. 3 Abs. 2 ATSG) notwendigen medizinischen
Massnahmen (Art. 13 Abs. 1 IVG). Die Geburtsgebrechen sind in der Liste im
Anhang zur Verordnung vom 9. Dezember 1985 über Geburtsgebrechen (GgV; SR
831.232.21) aufgeführt (Art. 1 Abs. 2 GgV i.V.m. Art. 13 Abs. 2 IVG).

Als Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff. 404 Anhang GgV gelten Störungen des
Verhaltens bei Kindern mit normaler Intelligenz, im Sinne krankhafter
Beeinträchtigung der Affektivität oder Kontaktfähigkeit, bei Störungen des
Antriebes, des Erfassens, der perzeptiven Funktionen, der Wahrnehmung, der
Konzentrationsfähigkeit sowie der Merkfähigkeit, sofern sie mit bereits
gestellter Diagnose als solche vor der Vollendung des 9. Altersjahres auch
behandelt worden sind.

2.2. Liegt sowohl die medizinische Untersuchung, anlässlich welcher ein POS
(resp. eine AD[H]S in Verbindung mit den weiteren in Ziff. 404 Anhang GgV
genannten Störungen; vgl. Medizinischer Leitfaden zum GG 404, erstmals
publiziert im IV-Rundschreiben Nr. 298 vom 14. April 2011 und mit Gültigkeit ab
1. März 2012 übernommen in Anhang 7 zum Kreisschreiben des BSV über die
medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung [KSME],
insbesondere Zusammenfassung in dessen Ziff. 2.2) festgestellt wird, als auch
der Behandlungsbeginn vor dem neunten Geburtstag der versicherten Person, gilt
das Gebrechen als rechtzeitig diagnostiziert im Sinne von Ziff. 404 Anhang GgV,
auch wenn der entsprechende Untersuchungsbericht, welcher erstmals die Diagnose
"POS" enthält, nach dem neunten Geburtstag datiert (SZS 2012 S. 454, 8C_23/2012
E. 5.1). Darüber hinaus kommt die Rechtsprechung den diagnostischen
Schwierigkeiten insofern entgegen, als die beweisrechtliche Frage, ob die
rechtzeitig gestellte Diagnose eines POS zutrifft, auch mit erst nach dem
neunten Altersjahr vorgenommenen ergänzenden Abklärungen beantwortet werden
darf (dazu ausführlich BGE 122 V 113 E. 2f S. 117; bestätigt in SZS 2012 S.
454, 8C_23/2012 E. 5.2.2).

2.3. Der Untersuchungsgrundsatz zählt zu den in Art. 95 BGG erwähnten
bundesrechtlichen Vorschriften. Die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und
der Beweiswürdigung nach Art. 61 lit. c ATSG ist eine Rechtsfrage (BGE 132 V
393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.), die das Bundesgericht im Rahmen der den Parteien
obliegenden Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG) frei überprüfen kann (Art.
106 Abs. 1 BGG). Der Verzicht der Vorinstanz auf weitere Abklärungen oder
Rückweisung der Sache an die IV-Stelle zu diesem Zwecke verletzt etwa dann
Bundesrecht, wenn der festgestellte Sachverhalt unauflösbare Widersprüche
enthält oder wenn eine entscheidwesentliche Tatfrage auf unvollständiger
Beweisgrundlage beantwortet wird (SZS 2012 S. 454, 8C_23/2012 E. 5.2.4 mit
weiteren Hinweisen).

3. 
Die Vorinstanz hat auf die Berichte der Frau Dr. med. B.________ und Frau Dr.
med. C.________, beides Fachärztinnen für Kinder- und Jugendmedizin, vom 26.
August 2013 resp. 14. Februar 2012 verwiesen und festgestellt, dass die
interessierende Störung vor dem vollendeten neunten Lebensjahr als ADHS
diagnostiziert, dokumentiert und auch behandelt worden sei. Sodann hat sie
erwogen, es sei fraglich, ob alle leistungsspezifischen Symptome rechtzeitig
ärztlich festgestellt wurden. Zwar sei eine Einschränkung in der auditiven
Wahrnehmung und Merkfähigkeit vor Vollendung des neunten Lebensjahres vorhanden
gewesen. Indessen sei deren Ursache unklar: Der Versicherte leide unter
Beeinträchtigungen des Gehörs, die im März und Dezember 2012 chirurgische
Eingriffe erfordert hätten; auch 2014 habe noch eine leicht- bis mittelgradige
Schallempfindungs-Schwerhörigkeit bestanden. Für die Annahme eines
Geburtsgebrechens nach Ziff. 404 Anhang GgV müsse eine "periphere Hörstörung",
d.h. eine Beeinträchtigung der Hörfunktion aufgrund einer Störung des Aussen-,
Mittel- oder Innenohres, ausgeschlossen werden. Dies sei aber nicht
(rechtzeitig) erfolgt. Ausserdem ergebe sich eine Beeinträchtigung des Antriebs
erstmals aus dem Bericht der Frau Dr. med. B.________ vom 26. August 2013, der
erst nach Vollendung des neunten Lebensjahres des Versicherten erstellt worden
sei. Demnach seien nicht alle notwendigen Symptome rechtzeitig ärztlich
festgestellt worden. Folglich hat das kantonale Gericht ein Geburtsgebrechen im
Sinne von Ziff. 404 Anhang GgV und einen entsprechenden Anspruch auf
medizinische Massnahmen verneint.

4.

4.1. Was die Störung des Antriebs anbelangt, so ist das kantonale Gericht zu
Unrecht davon ausgegangen, dass sie zu spät festgestellt worden sei (E. 2.2) :
Die dem Bericht der Frau Dr. med. B.________ vom 26. August 2013 zugrunde
liegenden Untersuchungen des Versicherten erfolgten, bevor dieser das neunte
Lebensjahr vollendete.

4.2. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin sind die vorinstanzlichen
Feststellungen betreffend das Vorhandensein einer auditiven Wahrnehmungs- und
Merkfähigkeitsstörung nicht widersprüchlich: Das kantonale Gericht hat eine
solche - verbindlich (E. 1) - bejaht, ist aber gleichzeitig davon ausgegangen,
dass diese Beeinträchtigung im Zusammenhang mit einer "zentralen" Hörstörung
stehen müsse und eine "blosse" Schallleitungs- resp. "periphere" Hörstörung für
die Annahme des hier interessierenden Geburtsgebrechens nicht genüge. Folglich
hat es den Ausschluss einer Schallleitungsstörung als Ursache der auditiven
Probleme "im Sinne einer Differenzialdiagnose" gefordert (vgl. dazu auch Ziff.
2.2 des Medizinischen Leitfadens zum GG 404).

Dagegen bringt die Beschwerdeführerin einzig vor, dass schwerhörige Kinder
dadurch von Leistungen der Invalidenversicherung für das Geburtsgebrechen Ziff.
404 Anhang GgV ausgeschlossen und somit diskriminiert würden. Dem ist nicht
beizupflichten: Einerseits leuchtet ein, dass die einschlägigen Testverfahren
im hörbaren Bereich (Lautstärke und Frequenz) durchgeführt werden könnten, wie
die IV-Stelle geltend macht. Anderseits ergibt sich aus Ziff. 2.1.3 und 2.1.5
des Medizinischen Leitfadens zum GG 404, der den Konsens von Vertretern
insbesondere verschiedener Fachärztevereinigungen, der Regionalen Ärztlichen
Dienste (RAD) und des BSV wiedergibt (IV-Rundschreiben Nr. 298 S. 11), dass
perzeptive Teilleistungsstörungen nicht nur dann zu bejahen sind, wenn sie im
auditiven Bereich vorliegen; alternativ können auch visuelle oder andere
Störungen genügen (sofern sie eine gewisse Intensität aufweisen).

4.3. Die Einschätzungen der Frau Dr. med. B.________ beruhten u.a. auf
testpsychologischer Abklärung mit standardisierten Untersuchungsverfahren (vgl.
Urteil 9C_851/2013 vom 24. Juni 2014 E. 4.2), auch wenn nicht alle im
Medizinischen Leitfaden zum GG 404 genannten durchgeführt wurden. Somit wurde
das Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff. 404 Anhang GgV rechtzeitig
diagnostiziert. Das kantonale Gericht hat die Diagnose aber unter
beweisrechtlichen Aspekten und mit Blick auf die (mögliche) Ursache der
auditiven Wahrnehmungs- und Merkfähigkeitsstörung für nicht zutreffend
gehalten.

Weil der - grundsätzlich anerkannte - "Mottier"-Test vom 18. Juni 2012 vor der
Ohrenoperation durchgeführt worden sei, bezweifelte die IV-Stelle resp. der von
ihr beigezogene Dr. med. D.________ die hier interessierende Diagnose. Die
Verwaltung forderte denn auch Frau Dr. med. B.________ auf, weitere Tests
durchzuführen. Eine Antwort auf deren Frage an Dr. med. D.________, ob die von
ihr nachgelieferten Unterlagen genügten oder weitere Abklärungen gewünscht
würden, ist nicht aktenkundig. Entgegen der Annahme des BSV kann aus der
bestehenden leicht- bis mittelgradigen Schallempfindungs-Schwerhörigkeit, die
nur beim rechten Ohr festgestellt wurde (Berichte der Frau Dr. med. E.________,
Fachärztin für Oto-Rhino-Laryngologie, vom 29. April, 22. Oktober und 8.
Dezember 2014), nicht geschlossen werden, dass die auditiven Störungen
hauptsächlich darauf zurückzuführen sind. Immerhin ist in Bezug auf das Gehör
seit dem chirurgischen Eingriff - abgesehen von audiopädagogischer Therapie
(vgl. Bericht vom 30. Dezember 2013) - keine Notwendigkeit einer Behandlung
oder eines Hilfsmittels ersichtlich; zudem besucht der Versicherte die
Regelklasse und liegt auch kein Geburtsgebrechen gemäss Ziff. 664 Anhang GgV
vor.

Unter diesen Umständen wären in Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes weitere
Abklärungen angezeigt gewesen (E. 2.2 und 2.3). Die Angelegenheit geht zurück
an die IV-Stelle, damit diese gestützt auf das Ergebnis noch zu veranlassender
unabhängiger medizinischer Untersuchungen die Frage, ob die - rechtzeitig (E.
4.3) - gestellte Diagnose zutrifft, beantworte. Dabei wird sie namentlich zu
klären haben, ob relevante Teilleistungsstörungen perzeptiver Funktionen
(Störungen des Erfassens und der Merkfähigkeit) vorliegen und andere
differentialdiagnostische Störungen als hauptsächliche ätiologische Gründe für
die vorliegende Pathologie ausgeschlossen werden können (vgl. SZS 2012 S. 454,
8C_23/2012 E. 6). Hernach hat sie erneut über den Anspruch des Versicherten auf
medizinische Massnahmen zu verfügen.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat
keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 66 Abs. 3 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft vom 9. Juli 2015 und die Verfügung der IV-Stelle
Basel-Landschaft vom 19. Januar 2015 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer
Verfügung an die IV-Stelle Basel-Landschaft zurückgewiesen. Im Übrigen wird die
Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht
zurückgewiesen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, A.________, dem Kantonsgericht
Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. Juni 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Dormann

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