Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 913/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_913/2015

Urteil vom 14. Juni 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Bischoff,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 29. Oktober 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1959 geborene A.________ zog sich bei einem Verkehrsunfall im November 1996
verschiedene Verletzungen zu, worauf er sich am 24. November 1997 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug anmeldete. Gestützt auf die
getroffenen Abklärungen ermittelte die IV-Stelle des Kantons Zürich für die
Zeit von November 1997 bis Januar 1999 einen Invaliditätsgrad von 70 %, weshalb
sie ihm vom 1. November 1997 bis 30. April 1999 eine befristete ganze
Invalidenrente zusprach. Die vom Versicherten hiegegen eingereichte Beschwerde
hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich dahin gut, dass es die
angefochtene Verfügung insoweit aufhob, als damit der Anspruch auf eine halbe
Invalidenrente ab 1. Mai 1999 sowie auf berufliche Massnahmen verneint worden
war, und die Sache an die Verwaltung zurückwies, damit diese nach zusätzlichen
Abklärungen im Sinne der Erwägungen neu verfüge (Entscheid vom 19. Januar
2001). Eine Verfügung der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA),
welche für die Folgen des Verkehrsunfalls ab 1. Dezember 1999 eine
Invalidenrente auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von 40 % zugesprochen
hatte, focht A.________ ebenfalls beschwerdeweise an. Mit Entscheid vom 19.
Januar 2001 hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die
Beschwerde im gleichen Sinn wie die invalidenversicherungsrechtliche Beschwerde
gut. Mit Verfügung vom 20. September 2001 sprach die IV-Stelle dem Versicherten
rückwirkend ab 1. Mai 1999 auf der Grundlage eines Invaliditätsgrades von 50 %
eine halbe Invalidenrente zu.
Im Juni 2012 leitete die IV-Stelle ein Revisionsverfahren ein. Sie ordnete eine
polydisziplinäre Abklärung durch das Medizinische Gutachtenzentrum Region St.
Gallen GmbH, Rorschach (MGSG), an. Die Expertise wurde am 2. November 2013
erstattet und am 24. Februar sowie am 4. März 2013 ergänzt. Mit Verfügung vom
11. Mai 2015 hob die IV-Stelle die ursprüngliche Verfügung vom 20. September
2001 wiedererwägungsweise auf und hob die laufende Rente per Ende Juni 2015
auf. Da die gerichtlich angeordneten Abklärungen unterblieben waren, sei die
damalige Verfügung vom 20. September 2001, mit welcher ab 1. Mai 1999 eine
halbe Invalidenrente zugesprochen wurde, in Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes ergangen und damit zweifellos unrichtig, was deren
Aufhebung im Rahmen einer Wiedererwägung rechtfertige.

B. 
A.________ liess Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren um Aufhebung der
Verwaltungsverfügung. Mit Entscheid vom 29. Oktober 2015 wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt der Versicherte
beantragen, der vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung der IV-Stelle vom
11. Mai 2015 seien aufzuheben.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Die Vorinstanz bestätigte die am 11. Mai 2015 im Rahmen einer Wiedererwägung
erfolgte Aufhebung der Rentenverfügung der IV-Stelle vom 20. September 2001.
Unter Hinweis auf Art. 53 Abs. 2 ATSG und die Rechtsprechung zu den
Voraussetzungen, unter denen die Wiedererwägung einer rechtskräftigen Verfügung
zulässig ist (BGE 125 V 368 E. 2 S. 369; Urteile 9C_121/2014 vom 3. September
2014 E. 3.2.2, 9C_762/2013 vom 24. Juni 2014 E. 4.2), legte sie dar, dass die
ursprüngliche Verfügung zweifellos unrichtig gewesen sei. Die IV-Stelle habe
den Invaliditätsgrad des Beschwerdeführers entgegen den Anordnungen im
kantonalen Gerichtsentscheid vom 19. Januar 2001 vergleichsweise, ohne
rechtskonforme Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und Durchführung eines
Einkommensvergleichs, festgesetzt. Zwar sei es den Parteien aufgrund des
Rückweisungsentscheides nicht verwehrt gewesen, den für den Rentenanspruch ab
1. Mai 1999 massgebenden Invaliditätsgrad vergleichsweise festzulegen; indessen
sei die Beschwerdegegnerin auf jeden Fall verpflichtet gewesen, vorgängig die
vom Gericht für eine materielle Prüfung des Invalidenrentenanspruchs als nötig
erachteten Sachverhaltsabklärungen durchzuführen. Denn ohne diese Abklärungen
tauge der Sachverhalt, der zu dem mit der Verfügung vom 20. September 2001
festgesetzten Invaliditätsgrad von 50 % führte, nicht als zeitliche
Vergleichsbasis für die Beurteilung einer allfälligen späteren
anspruchserheblichen Änderung des Invaliditätsgrades. Gemessen an den
Anforderungen an eine nachvollziehbare Rentenrevisionsverfügung sei die
Verfügung vom 20. September 2001 als zweifellos unrichtig im Sinne von Art. 53
Abs. 2 ATSG zu betrachten. Gemäss gutachterlicher Feststellung sei der
Beschwerdeführer in der angestammten Tätigkeit seit Juni 1997 zu 20 %
arbeitsunfähig, während er in einer angepassten Arbeit nicht eingeschränkt sei.
Die wiedererwägungsweise Aufhebung der laufenden Invalidenrente gemäss
angefochtener Verfügung der IV-Stelle vom 11. Mai 2015 sei daher rechtens.

3.

3.1. Es trifft zu, dass die Vorinstanz nicht über die gesamten Akten der SUVA
verfügt hat. Die Aktenstücke, auf die sich der Versicherte in der Beschwerde an
das kantonale Gericht berufen hat und die diesem nicht vorgelegen haben,
betreffen jedoch keine materiellen Aspekte des Vergleichs über die
Invalidenrente. Vielmehr handelt es sich um administrative Akten wie eine
Mitteilung der IV-Stelle an die SUVA betreffend den Standpunkt des Ärztlichen
Dienstes und des Abteilungsleiters, den Versand der Akten der SUVA nach
"Luzern" sowie den vom Versicherten und von der SUVA unterzeichneten Vergleich.
Die entscheidwesentlichen SUVA-Akten hingegen befanden sich im Dossier der
Invalidenversicherung, welches dem kantonalen Gericht vorlag. Eine Missachtung
des Untersuchungsgrundsatzes nach Art. 61 lit. c ATSG liegt damit nicht vor.
Soweit die Vorinstanz davon ausgeht, die Parteien hätten einen Vergleich
geschlossen, der zur Rentenverfügung vom 20. September 2001 führte, kann ihr
nicht gefolgt werden. Dem Feststellungsblatt der IV-Stelle für den Beschluss
vom 19. April 2001, auf dem die Rentengewährung basierte, ist zu entnehmen,
dass der Fall mit der SUVA koordiniert und ein Invaliditätsgrad vereinbart
wurden. Ein Hinweis darauf, dass der Versicherte dazu sein Einverständnis
gegeben hätte, findet sich nirgends. Insofern hat das kantonale Gericht den
rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt, weshalb
das Bundesgericht nicht daran gebunden ist (E. 1 hievor). Mangels eines
Vergleichs erübrigt es sich auch, zu den beschwerdeweise vorgetragenen
Einwendungen betreffend die Voraussetzungen für die Wiedererwägung eines
Vergleichs Stellung zu nehmen.

3.2. Des Weiteren bestreitet der Beschwerdeführer die zweifellose Unrichtigkeit
der ursprünglichen Rentenverfügung, setzt sich indessen mit der Begründung der
Vorinstanz, welche diese zur Bejahung der Wiedererwägungsvoraussetzungen
veranlasste, nicht auseinander. Insbesondere vermag er nicht darzutun, weshalb
die Verfügung vom 20. September 2001 trotz Fehlens der vom kantonalen Gericht
verbindlich angeordneten (medizinischen) Abklärungen nicht als zweifellos
unrichtig zu betrachten sei.

3.3. Sodann lässt auch der Vorwurf widersprüchlichen, den Grundsatz von Treu
und Glauben verletzenden Verhaltens der Beschwerdegegnerin eine hinreichende
Begründung vermissen. Die Wiedererwägung ist in Art. 53 Abs. 2 ATSG gesetzlich
geregelt, wobei die Verwaltung auch mehr als 10 Jahre nach Erlass einer
zweifellos unrichtigen Verfügung befugt ist, auf diese wiedererwägungsweise
zurückzukommen (BGE 140 V 514 E. 3 S. 516 ff.). Inwiefern die IV-Stelle sich
widersprüchlich verhalten haben soll, indem sie 13 Jahre nach Erlass des
zweifellos unrichtigen Verwaltungsaktes wiedererwägungsweise darauf
zurückgekommen ist, lässt sich nicht erkennen.

3.4.
3.4.1 Schliesslich kann die Frage, ob auch die Voraussetzungen für eine
revisionsweise Aufhebung der Invalidenrente nach Massgabe von Art. 17 Abs. 1
ATSG erfüllt waren, offenbleiben. Die entsprechenden Vorbringen des
Beschwerdeführers, der die Revisionsvoraussetzungen verneint, sind unerheblich.
Massgebend ist einzig, dass beim Beschwerdeführer seit der Aufhebung der
Invalidenrente per 30. Juni 2015 keine rentenbegründende Invalidität vorlag,
wie das kantonale Gericht unter Berufung auf das polydisziplinäre Gutachten des
MGSG vom 2. November 2013 / 7. März 2014, einschliesslich einer Evaluation der
funktionellen Leistungsfähigkeit [EFL], das von Inkonsistenzen und fehlender
Leistungsbereitschaft des Versicherten spricht, sowie unter Hinweis auf die
Invaliditätsermittlung gemäss Verfügung der IV-Stelle vom 11. Mai 2015
festgehalten hat.
3.4.2. Der Beschwerdeführer behauptet schliesslich, die polydisziplinäre
Expertise vom 2. November 2013 / 7. März 2014 sei im Hinblick auf BGE 141 V 281
ungenügend, macht aber nicht geltend, inwiefern die neue Rechtsprechung und die
dabei massgeblichen Indikatoren in seinem Fall zu einer
Invalidenrentenzusprechung führen könnten. Der Einwand ist denn auch
unbegründet. Dem psychiatrischen Teilgutachten des Dr. med. B.________ vom 24.
Oktober 2013 lässt sich zwar die Diagnose einer anhaltenden somatoformen
Schmerzstörung entnehmen. Der Arzt stellte beim Versicherten jedoch keine
wesentlichen emotionalen Konflikte und keinen erheblichen Leidensdruck fest.
Auch sind im Gutachten keine wesentlichen diagnoserelevanten Befunde genannt.
Ferner attestierte Dr. med. B.________ dem Beschwerdeführer die notwendigen
Ressourcen für den Umgang mit den Schmerzen, was ebenso nach der geänderten
Rechtsprechung von Belang ist. Dies gilt für weitere Gesichtspunkte, auf die
hier mangels entsprechender Rügen nicht im Einzelnen eingegangen werden muss,
gleichermassen. Insgesamt gelangte der Psychiater zum Schluss, dass der
Versicherte über eine volle Arbeitsfähigkeit verfüge.

4. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. Juni 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Widmer

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