Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 897/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_897/2015

Urteil vom 12. Januar 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
handelnd durch Christian und Daniela Affolter-Wälti, und diese vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. Volker Pribnow,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst,
St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
21. Oktober 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die am 1. November 2003 geborene A.________ erlitt am 28. Juli 2012 bei einem
Autounfall ein Polytrauma, insbesondere Hirnverletzungen, von denen schwere
Mehrfachbehinderungen (u.a. spastisch betonte Tetraparese, minimal conscious
state) bestehen blieben. Die Invalidenversicherung gab ihr verschiedene
Hilfsmittel ab und sprach ihr eine Entschädigung für schwere Hilflosigkeit zu.
Seit August 2014 besucht sie eine Kleinklasse in der Sonderschule B.________ wo
sie sich unter der Woche im Teilinternat aufhält. Das Gesuch ihrer Eltern
gemäss Kostenvoranschlag vom 19. November 2014, die Invalidenversicherung habe
die Kosten eines Stehgestells (Stehbrett) "Campus Physio Relax" im Betrag von
Fr. 9'817.20 zu vergüten, lehnte die IV-Stelle des Kantons Thurgau mit
Verfügung vom 2. Juni 2015 ab, weil das beantragte Stehgestell nach wie vor
primär therapeutische, behandelnde Ziele verfolge; das Stehbrett werde in der
Schulung genutzt, vermöge jedoch nicht eine solche zu ermöglichen.

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau nach Durchführung eines Augenscheins am 9. September 2015 im B.________
ab, weil das Stehbrett weder einer Ausbildung oder Schulung diene noch eine
solche ermögliche (Entscheid vom 21. Oktober 2015).

C. 
Die Eltern von A.________ als deren gesetzliche Vertreter ziehen diesen
Entscheid mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans
Bundesgericht weiter. Der Antrag lautet auf Aufhebung des kantonalen
Gerichtsentscheides und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz "zu neuem
Entscheid nach Gewährung des rechtlichen Gehörs"; eventuell sei ihr das
"Stehgestell Campus Physio Relax Grösse 3" als Hilfsmittel zuzusprechen.

Erwägungen:

1. 
In der Beschwerde wird in erster Linie eine Verletzung des rechtlichen Gehörs
durch das kantonale Gericht gerügt: Die Verfügung vom 2. Juni 2015 und
entsprechend die hiegegen erhobene Beschwerde sowie die weiteren
Rechtsschriften hätten sich ausschliesslich auf das Thema Hilfsmittel/
Behandlungsgerät bezogen; die Vorinstanz habe den Anspruch jedoch mit der
Argumentation verneint, der Beschwerdeführerin fehle es an der
Bildungsfähigkeit, weshalb das Stehbrett von vornherein nicht der Schulung,
sondern therapeutischen Zwecken diene.
Die Rüge ist an sich begründet: Zwar muss der Rechtsuchende grundsätzlich immer
damit rechnen, dass das angerufene Gericht im Zuge der Rechtsanwendung von
Amtes wegen den angefochtenen Verwaltungsakt unter allen konkret in Betracht
fallenden rechtlichen Aspekten überprüft, auch jenen, die im
Verwaltungsverfahren noch nicht zur Diskussion standen. Erhalten aber
Tatsachen, welche bisher nicht thematisiert worden sind,
verfahrensentscheidende Bedeutung, gebietet es das rechtliche Gehör, die
Parteien dazu zu Worte kommen zu lassen (BGE 130 III 35 E. 5 S. 39, 126 I 19 E.
2c/aa S. 22; Urteil 4A_108/2009 vom 9. Juni 2009 E. 2.1). Dass das kantonale
Gericht die Gelegenheit einräumte, sich zum Augenscheinprotokoll
(einschliesslich Fotos) zu äussern, ändert daran nichts, weil die Parteien
nicht wissen konnten, dass die Vorinstanz daraus schliessen würde, die
Versicherte sei bildungsunfähig.
Indessen ist aus Gründen der Prozessökonomie von einer Kassation des
angefochtenen Entscheides abzusehen. Denn eine Rückweisung käme einem Leerlauf
gleich, weil nicht anzunehmen ist, dass das kantonale Gericht im Lichte der
vorgetragenen Argumente zu einer abweichenden Entscheidung gelangen würde.
Vielmehr wäre die Rückweisung mit einer unnötigen Verzögerung verbunden, die
mit dem der Anhörung gleichgestellten Interesse der betroffenen Partei an einer
beförderlichen Beurteilung der Sache nicht zu vereinbaren wäre (vgl. BGE 132 V
387 E. 5.1 S. 390 mit Hinweis). Hingegen hat in dieser Prozesslage das
Bundesgericht den Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen (Art. 105 Abs. 2
BGG). Die Sache ist somit materiell umfassend - tatsächlich und rechtlich - zu
beurteilen. Der Beschwerdeführerin sind damit alle Verfahrensrechte gewahrt.
Eine "Verkürzung des Rechtsweges" liegt nicht vor.

2. 
Als Rechtsgrundlage für die Abgabe des Stehbretts als Hilfsmittel fällt
unstreitig einzig Ziff. 13.02* HVI-Anhang in Betracht: Der Behinderung
individuell angepasste Sitz-, Liege- und Stehvorrichtungen. Da mit einem (*)
bezeichnet, besteht der Anspruch darauf nur, soweit der Behelf u.a. für die
Schulung, die Ausbildung oder die funktionelle Angewöhnung notwendig ist (vgl.
Art. 2 Abs. 2 HVI).

2.1. Das kantonale Gericht ist aufgrund seines Augenscheins (vom 9. September
2015) zum Schluss gelangt, die Beschwerdeführerin stehe im B.________ nicht in
schulischer Bildung, da ihre sehr schwere körperliche und geistige Behinderung
eine solche nicht zulasse:

"Sie kann nicht sprechen und eine eigentliche Kommunikation ist nicht
ersichtlich, auch wenn sie mit Hilfe der Kommunikationshilfsmittel "Step by
Step" und "Powerlink" mittels Knopfdruck vorgesprochene Sätze abrufen und
beispielsweise das Licht ablöschen kann. Dass die Beschwerdeführerin diese
Hilfsmittel jedoch durchwegs gezielt einsetzen würde, ist nicht ersichtlich und
wird auch nicht geltend gemacht. Ebenso wenig ist erkennbar oder aktenmässig
ausgewiesen, dass die Beschwerdeführerin fähig wäre, ganz Sätze zu verstehen
und aktiv darauf zu reagieren. Vielmehr scheint sie vorab auf Reize, wie z.B.
Musik, Geräusche, Stimmen etc. anzusprechen, reagiert auf ihren eigenen Namen
und scheint in einem gewissen Ausmass Abläufe und verbale Interaktionen zu
verstehen (...). Ihrer Behinderung angepasst wird sie denn auch im B.________
therapeutisch gefördert. Eine darüber hinausgehende Schulung ist jedoch nicht
ersichtlich. Die Schulung oder Ausbildung erschöpft sich somit im
therapeutischen Bereich und im Versuch, die Beschwerdeführerin an ihrem Umfeld
aktiver teilhaben zu lassen."

2.2. Die Beschwerde stellt zwar zu Recht nicht in Abrede, dass der
Hilfsmittelanspruch nach Rz 13.02* HVI-Anhang die Fähigkeit der versicherten
Person voraussetzt, in einem der daselbst erwähnten Eingliederungsbereiche
tätig sein zu können, was sich direkt aus Art. 8 Abs. 1 lit. a IVG
(Geeignetheit und Eingliederungswirksamkeit; vgl. SVR 2010 IV Nr. 16 S. 50,
9C_547/2009 E. 2, 1999 IV Nr. 27 S. 84 E. 3c, I 415/97 E. 3c) ergibt, greift
die Entscheidbegründung aber mit dem Hinweis auf den Bericht des Amtes für
Volksschule vom 6. Januar 2014 an, welcher ausdrücklich festhalte, dass die
Versicherte sonderschulbedürftig sei; deshalb sei sie durch Entscheid des Amtes
vom 29. Januar 2014 der Sonderschule B.________ zugewiesen, damit sie in einer
internen Schulung in einem geeigneten Rahmen die nötige Förderung bekommt;
demzufolge sei ihr die Einhaltung der obligatorischen Schulpflicht nach
thurgauischem Recht auferlegt; sollten die Eltern den Eintritt in die
Sonderschule verweigern, müsse die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB)
informiert werden. Demgemäss diene das Stehbrett dem Eingliederungszweck der
Schulung und Ausbildung. Nur aufgrund der Tatsache, dass die Beschwerdeführerin
schwerstbehindert ist, fehle es nicht an einer Bildungsfähigkeit. Wäre die
Schulung von "beeinträchtigten Kindern" zwecklos, gäbe es schon gar keinen
Grund, Sonderschulen wie den B.________ einzurichten, die darauf ausgerichtet
sind, "behinderten Kindern eine ihrer Beeinträchtigung entsprechende Schulung
anzubieten, um die Ziele von § 2 des Gesetzes über die Volksschule des Kantons
Thurgau soweit möglich zu erreichen". Zu diesem Zweck habe das Amt im Bericht
vom 6. Januar 2014 als Ziel für die Betreuung die logopädische Erarbeitung
einer gezielteren Kommunikation festgesetzt. Träfe die vorinstanzliche Annahme
vollständiger Bildungsunfähigkeit zu, hätte das Amt nicht auf
Sonderschuldbedürftigkeit erkannt. Das Stehbrett helfe der Beschwerdeführerin,
dank der aufrechten Haltung direkter mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten und
am schulischen Unterricht in einem grösseren Ausmass teilzunehmen. Die
Kommunikation könne umso eher verbessert werden, je präsenter sie am Unterricht
teilnehmen könne. Auch könnten die von der Invalidenversicherung bereits
abgegebenen Hilfsmittel effizienter für die Schuldung/Ausbildung eingesetzt
werden, wenn sie in aufrechter Position dem Schulunterricht folgen kann;
deswegen diene das Stehbrett unmittelbar der Schulung. Dass die konkrete
Schulung nicht der üblichen "normalen" Ausbildung entspricht, schliesse die
allgemeine Bildungsfähigkeit nicht aus. Mit dem Besuch der Werkklasse 2 des
B.________s erfülle die Versicherte ihre obligatorische Schulfpflicht wie jedes
andere Kind im Kanton Thurgau auch. Soweit eine versicherte Person nach
kantonalem Recht die obligatorische Schulpflicht erfüllt, müsse auch für die
Belange der Invalidenversicherung stets von Schulung ausgegangen werden.

2.3. Entgegen der in der Beschwerde vertretenen Auffassung ist die
Sonderschulung behinderter Kinder keineswegs mehr eine "Kernaufgabe" der
Invalidenversicherung, seit Art. 19 aIVG im Rahmen der Neugestaltung des
Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) auf
Ende 2007 aufgehoben wurde, weshalb weder von nicht lösbaren Abgrenzungsfragen
noch Herausbrechen eines Teils der Sonderschulung aus dem System der
Invalidenversicherung gesprochen werden kann. Im Gegenteil ist die
Sonderschulung nunmehr im Rahmen des Bundesrechts alleinige Aufgabe der
Kantone. Schon aus diesem Grund besteht keine präjudizierende Wirkung der
kantonalrechtlichen Qualifizierung einer Jugendlichen als Sonderschülerin für
die IV-rechtliche Hilfsmittelabgabe. Daher ist die Berufung auf den Entscheid
des Amtes für Volksschule vom 29. Januar 2014, nach welchem der Kanton Thurgau
an die Sonderschulung im B.________ einen Tagesbeitrag von Fr. 350.- leistet,
unbehelflich. Der für die Hilfsmittelabgabe relevante Eingliederungsbereich der
Schulung folgt einer autonomen bundesrechtlichen Begriffsbildung. Unter diesem
Gesichtswinkel hat das kantonale Gericht zutreffend festgestellt, dass sich der
Unterricht der Beschwerdeführerin im B.________ im therapeutischen Bereich
erschöpft. Das ergibt sich gerade aus den wiederholten Aussagen der
Klassenlehrerin anlässlich des Augenscheins vom 9. September 2015, wonach die
Versicherte im Stehbrett viel wacher sei als sitzend im Rollstuhl. Damit ist
bewiesen, dass der in den medizinischen Berichten rapportierte minimal
conscious state andauert. In einem solchen Zustand ist eine Schulung im Sinne
von Art. 2 Abs. 2 HVI nicht möglich.

3. 
Von der Erhebung von Gerichtskosten ist umständehalber abzusehen (Art. 66 Abs.
1 zweiter Satz BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. Januar 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Widmer

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