Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 893/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_893/2015

Urteil vom 20. Juni 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch seinen Beistand,
und dieser vertreten durch Rechtsdienst Inclusion Handicap,
Beschwerdeführer,

gegen

Sozialversicherungsamt Schaffhausen, AHV-Ausgleichskasse, Oberstadt 9, 8200
Schaffhausen,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom
28. Oktober 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________ lebt in einer Wohngemeinschaft mit seiner Mutter und Schwester. Er
bezieht eine Ergänzungsleistung zur Invalidenrente. Mit Verfügung vom 4.
Februar 2015 setzte das Sozialversicherungsamt Schaffhausen, Ausgleichskasse,
die Ergänzungsleistungen ab 1. Januar 2015 neu fest. Ab 1. März 2015 belief
sich der Anspruch auf Fr. 337.- im Monat. Der Berechnung lag u.a. ein um einen
Viertel gekürzter Lebensbedarf zugrunde, was damit begründet wurde, dass der
Versicherte in einer Wohn- und Lebensgemeinschaft mit seiner Mutter und
Schwester lebe. Laut Berechnungsblatt für die Periode ab 1. März 2015 betrug
die Kürzung Fr. 4822.- im Jahr.
Auf Einsprache hin hielt das Sozialversicherungsamt mit Entscheid vom 27. März
2015 an seinem Standpunkt fest.

B. 
A.________ liess Beschwerde führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des
Einspracheentscheids sei der gesamte gesetzliche Betrag für Alleinstehende in
der Höhe von Fr. 19'290.- bei den Ausgaben anzurechnen. Mit Entscheid vom 28.
Oktober 2015 wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen die Beschwerde ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ das
vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuern.
Während das Sozialversicherungsamt auf Abweisung der Beschwerde schliesst,
äussert sich das Obergericht zur Streitsache, ohne einen Antrag zu stellen. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.
In einer zusätzlichen Eingabe vom 20. Januar 2016 hält der Versicherte an
seinem Antrag fest.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Nach Art. 9 Abs. 1 ELG entspricht die jährliche Ergänzungsleistung dem Betrag,
um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen. Art.
10 Abs. 1 lit. a ELG setzt abgestufte Beträge fest, die als Ausgaben für den
allgemeinen Lebensbedarf von alleinstehenden Personen, Ehepaaren sowie
rentenberechtigten Waisen und Kindern, die einen Anspruch auf Kinderrente der
AHV oder IV begründen, anerkannt werden.

3. 
Aufgrund der Tatsache, dass der Beschwerdeführer infolge der Wohngemeinschaft
mit seiner Mutter und Schwester Lebenshaltungskosten einspare, ist es nach
Auffassung der Vorinstanz nicht gerechtfertigt, diesen als alleinstehend zu
bezeichnen. Zwar hätte er grundsätzlich Anspruch auf Anrechnung des
Lebensbedarfs für Alleinstehende, doch sei dem Umstand Rechnung zu tragen, dass
er in häuslicher Gemeinschaft mit seiner Mutter lebt. Weil das Gesetz keine
Regelung für diejenigen Fälle vorsieht, in welchen eine anspruchsberechtigte
Person mit anderen Personen zusammenlebt, die nicht in die EL-Berechnung
einbezogen werden, sei auf dem Wege der Auslegung des Gesetzes zu bestimmen,
welcher Betrag dem Beschwerdeführer als allgemeiner Lebensbedarf anzurechnen
ist. Unter Hinweis auf das Gebot rechtsgleicher Behandlung gemäss Art. 8 Abs. 1
BV führte das kantonale Gericht aus, es liefe dem Differenzierungsgebot
zuwider, den Versicherten hinsichtlich der Lebenshaltungskosten gleich zu
behandeln wie eine alleinstehende Person, obwohl sein Aufwand dank der
Wohngemeinschaft mit der Mutter und Schwester geringer sei. Es rechtfertige
sich, sinngemäss auf die vom Gesetzgeber angenommenen Einsparungen der
Lebenshaltungskosten bei Ehepaaren abzustellen. Nach Art. 10 Abs. 1 lit. a
Ziff. 2 ELG werde Ehepaaren das Anderthalbfache des für Alleinstehende
massgebenden Betrags für den allgemeinen Lebensbedarf angerechnet. Pro Kopf
entspreche dies einer Einsparung von einem Viertel des Bedarfs im Vergleich zu
einer alleinstehenden Person. Ausgehend von dem alleinstehenden Personen
anzurechnenden Betrag für den allgemeinen Lebensbedarf von Fr. 19'290.- sei bei
dem mit seiner Mutter und seiner Schwester zusammenlebenden Versicherten ein um
Fr. 4822.- reduzierter Bedarf anzurechnen. Der resultierende Betrag von Fr.
14'468.- (Fr. 19'290.- minus Fr. 4822.-) sei immer noch höher als bei in
häuslicher Gemeinschaft lebenden rentenberechtigten Waisen oder Kindern, die
Anspruch auf eine AHV- oder IV-Kinderrente begründen (Art. 10 Abs. 1 lit. a
Ziff. 3 ELG), welchen derzeit ein Betrag von Fr. 10'080.- angerechnet wird.

4. 

4.1. Ausgangspunkt der Gesetzesauslegung ist der Wortlaut der Bestimmung
(grammatikalisches Element). Ist er klar, d.h. eindeutig und
unmissverständlich, darf vom Wortlaut nur abgewichen werden, wenn ein triftiger
Grund für die Annahme besteht, der Wortlaut ziele am "wahren Sinn", d.h. am
Rechtssinn der Regelung vorbei. Anlass für eine solche Annahme können die
Entstehungsgeschichte der Bestimmung (historisch), ihr Zweck (teleologisch)
oder der Zusammenhang mit andern Vorschriften (systematisch) geben, so
namentlich, wenn die grammatikalische Auslegung zu einem Ergebnis führt, das
der Gesetzgeber nicht gewollt haben kann (BGE 140 II 80 E. 2.5.3 S. 87 mit
Hinweisen).

4.2. Eine Lücke im Gesetz besteht, wenn eine Regelung unvollständig ist, weil
sie jede Antwort auf die sich stellende Rechtsfrage schuldig bleibt. Hat der
Gesetzgeber eine Rechtsfrage nicht übersehen, sondern stillschweigend - im
negativen Sinn - mitentschieden (qualifiziertes Schweigen), bleibt kein Raum
für richterliche Lückenfüllung. Eine echte Gesetzeslücke, die vom Gericht zu
füllen ist, liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts dann vor, wenn der
Gesetzgeber etwas zu regeln unterlassen hat, was er hätte regeln sollen, und
dem Gesetz diesbezüglich weder nach seinem Wortlaut noch nach dem durch
Auslegung zu ermittelnden Rechtssinn eine Vorschrift entnommen werden kann (BGE
140 III 636 E. 2.1 S. 637; 206 E. 3.5.1 S. 213, je mit Hinweisen). Ist ein
lückenhaftes Gesetz zu ergänzen, gelten als Massstab die dem Gesetz selbst
zugrunde liegenden Zielsetzungen und Werte (BGE 140 III 636 E. 2.2 S. 638 mit
Hinweisen; 206 E. 3.5.1 S. 213 mit Hinweis).

5. 

5.1. Gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. a Ziff. 1 ELG werden bei alleinstehenden
Personen, die nicht dauernd oder längere Zeit in einem Heim oder Spital leben
(zu Hause lebende Personen) als Betrag für den allgemeinen Lebensbedarf pro
Jahr Fr. 19'290.- als Ausgaben anerkannt (Betrag laut Art. 1 V15 vom 15.
Oktober 2014 über Anpassungen bei den Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in Kraft
seit 1. Januar 2015). Art. 10 Abs. 1 lit. a ELG setzt den Betrag für den
allgemeinen Lebensbedarf sodann für Ehepaare (Ziff. 2) sowie für
rentenberechtigte Waisen und Kinder, die einen Anspruch auf eine Kinderrente
der AHV oder IV begründen, fest. Weitere Differenzierungen nimmt das Gesetz
nicht vor. Unter dem Gesichtspunkt der Gesetzessystematik zeigt sich dies als
deckungsgleich mit der Regelung des Mietzinsabzuges. Bei den entsprechenden
Beträgen wird bezüglich des anrechenbaren jährlichen Höchstbetrages ebenfalls
nur zwischen alleinstehenden Personen (Fr. 13'200.-) und Ehepaaren sowie
Personen mit rentenberechtigten Waisen oder mit Kindern, die einen Anspruch auf
eine Kinderrente der AHV oder IV begründen (Fr. 15'000.-), unterschieden.
Schliesslich lassen sich auch den Gesetzesmaterialien keine Hinweise darauf
entnehmen, dass der Gesetzgeber beabsichtigt hätte, hinsichtlich der
anrechenbaren Beträge für den allgemeinen Lebensbedarf zwischen alleinstehenden
Personen, die allein leben, und solchen, die in einer Wohngemeinschaft leben,
zu unterscheiden. In der Botschaft des Bundesrates vom 7. September 2005 zur
Ausführungsgesetzgebung zur Neugestaltung des Finanzausgleiches und der
Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA [BBl 2005 6029 ff.]), in deren
Rahmen die Totalrevision des ELG vorgenommen wurde (BBl 2005 6225), finden sich
keinerlei Hinweise für die von der Vorinstanz vertretene Auffassung.
Alleinstehende Personen, die in einer Wohngemeinschaft leben, werden in der
Botschaft nicht erwähnt. Ebensowenig lassen die Beratungen in den Räten eine
entsprechende Absicht des Gesetzgebers erkennen (AB 2006 S 210 ff.; AB 2006 N
1248 ff.). Somit spricht nicht nur der Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 lit. a Ziff.
1 ELG dafür, einem alleinstehenden, in einer Wohngemeinschaft lebenden
EL-Ansprecher für den allgemeinen Lebensbedarf pro Jahr den vollen Betrag von
Fr. 19'290.- anzurechnen, sondern auch eine systematische sowie eine Auslegung
aufgrund der Gesetzesmaterialien führen zum gleichen Ergebnis.
5.2 Mit Blick auf das Gesetzgebungsverfahren, namentlich die Botschaft des
Bundesrates, und die zu einem klaren Ergebnis führende Auslegung der
Gesetzesbestimmung anhand von Wortlaut und Gesetzessystematik kann ferner das
Vorliegen einer echten Gesetzeslücke (E. 4.2) ausgeschlossen werden. Allein der
Umstand, dass der Gesetzgeber die Frage nach dem Betrag für den allgemeinen
Lebensbedarf Alleinstehender, die in einer Wohngemeinschaft mit
Familienangehörigen oder anderen Drittpersonen zusammenleben, auch anders -
beispielsweise im Sinne des angefochtenen Gerichtsentscheids - hätte regeln
können, begründet das Vorliegen einer der Schliessung zugänglichen echten
Gesetzeslücke nicht. Hieran ändert nichts, dass die Lebenshaltungskosten des
Beschwerdeführers in der konkreten Situation allenfalls tiefer sind als bei
einem Alleinstehenden mit eigenem Haushalt. Einer Gesetzesbestimmung ist eigen,
dass sie schematische Lösungen trifft, die nicht für alle Rechtsunterworfenen
die nämlichen Folgen zeitigen. Aus dem Umstand, dass im Gesetz zwar - wie
dargelegt - die erforderlichen Unterscheidungen getroffen wurden, von einer
möglichen zusätzlichen Differenzierung indessen abgesehen wurde, vermögen
Vorinstanz und Beschwerdegegnerin weder unter dem Gesichtspunkt der
Gesetzesauslegung noch der Lückenfüllung etwas zu Gunsten ihres Standpunktes
abzuleiten. Nach ständiger Rechtsprechung darf das klare Ergebnis einer
Gesetzesauslegung nicht durch Berufung auf die Verfassung beiseitegeschoben
werden (vgl. statt vieler BGE 140 V 113 E. 5 S. 115 mit Hinweisen). Soweit das
kantonale Gericht den Betrag für den allgemeinen Lebensbedarf pro Jahr
abweichend von Art. 10 Abs. 1 lit. a Ziff. 1 ELG festgesetzt hat, verletzt der
angefochtene Entscheid Bundesrecht.

6. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Ausgleichskasse aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat dem
Beschwerdeführer überdies für das letztinstanzliche Verfahren eine
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons
Schaffhausen vom 28. Oktober 2015 und der Einspracheentscheid des
Sozialversicherungsamtes Schaffhausen vom 27. März 2015 werden aufgehoben. Dem
Beschwerdeführer ist bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen der ungekürzte
Betrag für den allgemeinen Lebensbedarf pro Jahr bei alleinstehenden Personen
in der Höhe von Fr. 19'290.- als Ausgabe anzurechnen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Sozialversicherungsamt Schaffhausen
auferlegt.

3. 
Der Beschwerdegegner hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Obergericht des Kantons Schaffhausen zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Schaffhausen und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 20. Juni 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Widmer

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