Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 890/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_890/2015        
{T 0/2}

Urteil vom 14. April 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Roland Zahner,
Beschwerdeführerin,

gegen

Agrisano Krankenkasse AG,
Laurstrasse 10, 5201 Brugg AG,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 14. Oktober 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1990 geborene A.________ war bei der Agrisano Krankenkasse AG (nachfolgend:
Agrisano) im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung versichert.
Am 15. April 2013 ersuchten ihre behandelnden Ärzte die Agrisano um
Kostengutsprache für eine "lymphologische Liposuction bei Lipödem am
Oberschenkel". Entsprechend der Stellungnahme ihres Vertrauensarztes verneinte
die Agrisano ihre Leistungspflicht mit Schreiben vom 29. April 2013.
Im Mai 2013 unterzog sich die Versicherte der geplanten Liposuktion,
anschliessend erfolgte Physiotherapie in Form von Lymphdrainage. Am 22. Januar,
9. Mai und 3. Oktober 2014 wurden wiederum Liposuktionen durchgeführt. Weitere
Gesuche um Übernahme dieser Leistungen beschied die Agrisano jeweils
abschlägig. Mit Verfügung vom 14. Oktober 2014 lehnte die Agrisano die
Übernahme von Liposuktionen und Lymphdrainagen ab. Dabei stellte sie einerseits
den Krankheitswert der Lipödeme und anderseits die Wirksam-, Zweckmässig- und
Wirtschaftlichkeit der Behandlungen in Abrede. Daran hielt sie mit
Einspracheentscheid vom 29. Januar 2015 fest.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
mit Entscheid vom 14. Oktober 2015 ab.

C. 
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 14. Oktober 2015 sei die
Agrisano zu verpflichten, ihr die Kosten für die Liposuktionen und die
Lymphdrainagen zur Behandlung der Lipödeme zu vergüten; eventualiter sei die
Sache zu ergänzenden Abklärungen und anschliessender Neuverfügung an die
Agrisano zurückzuweisen; subeventualiter sei die Sache zu neuem Entscheid ohne
Teilnahme von Verwaltungsrichter B.________ an das Verwaltungsgericht
zurückzuweisen.
Das kantonale Gericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Die Agrisano und
das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2. Eine Sachverhaltsfeststellung - als welche auch die konkrete
Beweiswürdigung zu verstehen ist - ist nicht schon dann offensichtlich
unrichtig, wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und
augenfällig unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Eine offensichtlich
unrichtige Sachverhaltsfeststellung weist damit die Tragweite von Willkür auf (
BGE 135 II 145 E. 8.1 S. 153; Botschaft des Bundesrates vom 28. Februar 2001
zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4338; MARKUS SCHOTT,
Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 9 f. zu Art. 97 BGG).
Es liegt noch keine offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere
Lösung ebenfalls in Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere
erschiene (Urteil 9C_570/2007 vom 5. März 2008 E. 4.2). Eine
Sachverhaltsfeststellung ist etwa dann offensichtlich unrichtig, wenn das
kantonale Gericht den Sinn und die Tragweite eines Beweismittels offensichtlich
falsch eingeschätzt, ohne sachlichen Grund ein wichtiges und für den Ausgang
des Verfahrens entscheidendes Beweismittel nicht beachtet oder aus den
abgenommenen Beweisen unhaltbare Schlüsse gezogen hat (BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9;
Urteile 9C_851/2012 vom 5. März 2013 E. 2.3.2; 8C_5/2010 vom 24. März 2010 E.
1.2).

2.

2.1. Vorab ist auf die Rüge formeller Natur einzugehen. Die Beschwerdeführerin
rügt insofern eine Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK,
als ein Mitglied des vorinstanzlichen Spruchkörpers nicht nur als
Verwaltungsrichter, sondern auch im Rechtsdienst einer Krankenversicherung
tätig sei.

2.2. Wer eine Justizperson wegen Befangenheit ablehnen will, muss sein Begehren
einreichen, sobald er vom Ausstandsgrund Kenntnis erhalten hat und diesen
sinnvollerweise darzutun bzw. die entsprechenden Umstände glaubhaft zu machen
vermag. Andernfalls ist der Anspruch auf seine spätere Anrufung verwirkt (Art.
49 Abs. 1 ZPO; BGE 139 III 120 E. 3.2.1 S. 124; 138 I 1 E. 2.2 S. 4 mit
Hinweisen; vgl. auch Art. 36 Abs. 1 BGG). Es widerspricht Treu und Glauben,
wenn eine Partei einen Ausstandsgrund zurückhält und ihn erst vorbringt, wenn
das Gericht einen für sie negativen Entscheid fällt (BGE 139 III 120 E. 3.2.1
S. 124; 136 III 605 E. 3.2.2 S. 609). Das bedeutet allerdings nicht, dass das
Gericht im Vorfeld die Zusammensetzung des Spruchkörpers mitteilen muss. Es
genügt, wenn sich die Namen der ordentlichen Mitglieder einer Abteilung oder
Kammer aus öffentlich zugänglichen Quellen (z.B. Staatskalender, Internet)
ergeben (BGE 139 III 120 E. 3.2.1 S. 124 f.; Urteile 4A_62/2014 vom 20. Mai
2014 E. 3.1, nicht publ. in: BGE 140 III 221; 5A_335/2010 vom 6. Juli 2010 E.
2.2.2).

2.3. Die SWICA Krankenversicherung AG (nachfolgend: Swica) bezweckt
insbesondere die Durchführung der obligatorischen Krankenversicherung nach KVG.
Aus dem Handelsregisterauszug geht hervor, dass der interessierende Richter
seit Oktober 2007 für die Swica zeichnungsberechtigt ist. Sodann lässt sich die
ordentliche Zusammensetzung des Verwaltungsgerichts aus dem Internet-Portal des
Gerichts erfahren (Urteil 5A_335/2010 vom 6. Juli 2010 E. 2.2.2). Dass die
geltend gemachten Ausstandsgründe erst seit kurzem bekannt gewesen sein sollen
(vgl. etwa Urteil 4A_62/2014 vom 20. Mai 2014 E. 3.3), wird zu Recht nicht
geltend gemacht. Somit hätte der Ausstand des Richters bereits in der
vorinstanzlichen Beschwerde verlangt werden können; die erstmals vor
Bundesgericht erhobene Rüge ist verspätet.

Bei diesem (Zwischen-) Ergebnis kann offenbleiben, ob es für die Vermeidung des
Anscheins der Befangenheit (BGE 140 III 221 E. 4.1 S. 221 f.) genügt, wenn der
betroffene Richter nur in Fällen, in denen der Swica Parteistellung zukommt, in
den Ausstand tritt.

3.

3.1. Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt - unter Vorbehalt
der Wirksam-, Zweckmässig- und Wirtschaftlichkeit (Art. 32 Abs. 1 KVG) - die
Kosten für die Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und
ihrer Folgen dienen (Art. 25 Abs. 1 KVG). Krankheit ist jede Beeinträchtigung
der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit, die nicht Folge eines
Unfalles ist und die eine medizinische Untersuchung oder Behandlung erfordert
oder eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (Art. 3 Abs. 1 ATSG).

3.2. Der Anhang 1 zur Verordnung des EDI vom 29. September 1995 über Leistungen
in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
(Krankenpflege-Leistungsverordnung, KLV; SR 832.112.31) bezeichnet diejenigen
Leistungen, die nach Artikel 33 Buchstaben a und c KVV (SR 832.102) von der
Leistungs- und Grundsatzkommission geprüft wurden und deren Kosten von der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung übernommen, nur unter bestimmten
Voraussetzungen übernommen oder aber nicht übernommen werden (Art. 1 KLV). Die
Liposuktion (Fettabsaugung) wird darin nicht aufgeführt. Da Anhang 1 KLV keine
abschliessende Aufzählung der ärztlichen Pflicht- oder Nichtpflichtleistungen
enthält (einleitende Bemerkung zu Anhang 1 KLV), ergibt sich daraus, wie auch
aus der KLV selber, nichts für die Beurteilung der umstrittenen
Leistungspflicht.

3.3. Im Zusammenhang mit der Korrektur einer Mammahypertrophie erwog das Eidg.
Versicherungsgericht, dass die operative Brustreduktion dann eine
Pflichtleistung der Krankenkassen darstellt, wenn die Hypertrophie körperliche
oder psychische Beschwerden mit Krankheitswert verursacht und Ziel des
Eingriffs die Behebung dieser krankhaften Begleitumstände als der eigentlichen
Krankheitsursache ist. Entscheidend ist nicht das Vorliegen eines bestimmten
Beschwerdebildes, sondern ob die Beschwerden erheblich sind und andere, vor
allem ästhetische Motive genügend zurückdrängen (BGE 121 V 211 E. 4 S. 213 mit
Hinweisen). Eine Orientierung an diesen Grundsätzen, wenn es wie hier um die
Frage der Leistungspflicht für eine Liposuktion bei Lipödemen geht, erscheint
vor allem im Hinblick darauf, dass nicht der ästhetische Aspekt im Vordergrund
stehen darf, als sachgerecht.

4.

4.1. Die Vorinstanz hat gestützt auf die medizinischen Unterlagen festgestellt,
die Versicherte habe sich hinsichtlich der an beiden Beinen vorhandenen
Lipödeme hauptsächlich an der körperlichen Disproportion gestört. Soweit von
Schmerzen und Berührungsempfindlichkeit die Rede sei, könne nicht darauf
geschlossen werden, dass diesen Krankheitswert zukomme. Eine phlebologische
Abklärung habe keine Anhaltspunkte für eine Erkrankung des Venensystems
ergeben. Die erwähnte "angeschlagene Psyche" habe nie zu einer entsprechenden
Behandlung geführt. Die Beschwerdeführerin habe in den Lipödemen in erster
Linie einen ästhetischen Mangel erblickt, ohne dadurch in ihrer Gesundheit
objektiv beeinträchtigt zu sein. Folglich hat das kantonale Gericht für die
Liposuktionen und die als Nachbehandlung durchgeführten Lymphdrainagen eine
Leistungspflicht der Agrisano verneint.

4.2. Dass die vorinstanzlichen Feststellungen offensichtlich unrichtig (E. 1.2)
sein sollen, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht (substanziiert) geltend
gemacht. Insbesondere wurde resp. wird nicht konkret dargelegt, dass die
geltend gemachten Schmerzen und die psychische Belastung einerseits von
erheblicher Intensität und anderseits als solche behandlungsbedürftig gewesen
sein sollen (vgl. E. 3.3). Dies lässt sich denn auch den medizinischen
Unterlagen nicht entnehmen. Die Beschwerdeführerin beschränkt sich im
Wesentlichen darauf, lediglich die medizinischen Berichte abweichend von der
Vorinstanz zu würdigen und daraus andere Schlüsse zu ziehen, was nicht
ausreicht (Urteile 9C_688/2007 vom 22. Januar 2008 E. 2.3 und 4A_28/2007 vom
30. Mai 2007 E. 1.3 [in BGE 133 III 421 nicht publiziert]).

4.3. Soweit sich die Beschwerdeführerin darauf beruft, dass auch der
Vertrauensarzt Dr. med. C.________ "genauere Kenntnis der VN und deren
Persönlichkeit" verlangt habe, kann sie nichts für sich ableiten: Der Arzt
erwartete weitere Erkenntnis "am ehesten" aus einer "seriösen angiologischen
Abklärung"; eine solche war indessen bereits erfolgt, ohne dass krankhafte
Befunde erhoben werden konnten. Sodann hat die Vorinstanz für die
entscheidenden Feststellungen (E. 4.1) nicht ausschliesslich auf die
vertrauensärztlichen Berichte abgestellt, sondern die gesamte medizinische
Aktenlage berücksichtigt. Der Verzicht auf weitere Abklärungen, insbesondere
die Einholung eines Aktengutachtens, erfolgte somit in pflichtgemässer
antizipierender Beweiswürdigung (vgl. BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236; 134 I 140 E.
5.3 S. 148). Demnach beruhen die vorinstanzlichen Feststellungen auch nicht auf
einer Rechtsverletzung; sie bleiben für das Bundesgericht verbindlich (E. 1.1).

4.4. Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz einen Krankheitswert der Lipödeme
(vgl. E. 3.3) und folglich auch die Leistungspflicht der Agrisano für deren
Behandlung zu Recht verneint. Die Beschwerde ist unbegründet.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Kosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. April 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Dormann

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