Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 887/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_887/2015

Urteil vom 12. April 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Andreas Hübscher,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

 AXA Stiftung Berufliche Vorsorge, Winterthur, c/o AXA Leben AG, Paulstrasse 9,
8400 Winterthur.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
21. Oktober 2015.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügung vom 12. März 2013 verneinte die IV-Stelle des Kantons Aargau
einen Rentenanspruch der A.________, was das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 17. Oktober 2013 bestätigte. In teilweiser Gutheissung
der hiegegen erhobenen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten hob
das Bundesgericht mit Urteil 9C_856/2013 vom 8. Oktober 2014 dieses Erkenntnis
auf und wies die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück.

B. 
Entsprechend der Anordnung im bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid holte
das kantonale Versicherungsgericht ein psychiatrisches Gerichtsgutachten ein.
Nachdem die Parteien Gelegenheit erhalten hatten, sich zur Expertise vom 9.
Juni 2015 zu äussern, wies es mit Entscheid vom 21. Oktober 2015 die Beschwerde
gegen die Verfügung vom 12. März 2013 erneut ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 21. Oktober 2015 und die Verfügung vom 12. März 2013 seien
aufzuheben und es sei ihr eine halbe, allenfalls eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung zuzusprechen; eventualiter sei die Sache zur weiteren
Abklärung und neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde. Die AXA Stiftung Berufliche
Vorsorge, Winterthur, bei der A.________ vom... bis... berufsvorsorgeversichert
war, verzichtet auf eine Stellungnahme und einen Antrag zur Beschwerde.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerdeführerin hat drei Einsatzverträge ins Recht gelegt. Dabei handelt
es sich um unzulässige (unechte) Noven (Art. 99 Abs. 1 BGG), da sie ohne
weiteres bereits im vorinstanzlichen Verfahren etwa zusammen mit der
Stellungnahme zum Gerichtsgutachten vom 9. Juni 2015 hätten eingereicht werden
können (Urteil 9C_689/2015 vom 3. Dezember 2015 E. 1 mit Hinweis). Abgesehen
davon betreffen diese Dokumente Sachverhalte, welche sich nach Erlass der
Verfügung vom 12. März 2013 verwirklicht haben, somit ausserhalb des
gerichtlichen Prüfungszeitraums liegen (BGE 130 V 138 E. 2.1 S. 140; 129 V 1 E.
1.2 S. 4; Urteil 9C_549/2015 vom 29. Januar 2016 E. 2).

2. 
Streitgegenstand ist aufgrund der Begehren in der Beschwerde der Anspruch der
Beschwerdeführerin auf eine halbe Rente oder eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung (BGE 133 II 35 E. 2 S. 38; 125 V 413 E. 1b S. 414; Art.
107 Abs. 1 BGG).

3. 
Das kantonale Versicherungsgericht hat bezogen auf den frühest möglichen
Rentenbeginn am 1. Juni 2011 (Art. 29 Abs. 1 IVG) ausgehend von einer
Erwerbstätigkeit von 100 % im Gesundheitsfall und einer Arbeitsfähigkeit von 70
% in leidensangepassten Tätigkeiten durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG
i.V.m. Art. 28a Abs. 1 IVG) einen Invaliditätsgrad von 38 % ([[Fr. 84'539.55 -
Fr. 52'404.10]/ Fr. 84'539.55] x 100 %; zum Runden BGE 130 V 121) ermittelt,
was für den Anspruch auf eine Invalidenrente nicht ausreicht (Art. 28 Abs. 2
IVG). Die Arbeitsfähigkeit hat es gestützt auf das Gerichtsgutachten vom 9.
Juni 2015 festgesetzt. Das Valideneinkommen (Fr. 84'539.55) hat es dem Lohn
gleichgesetzt, den die Beschwerdeführerin 2011 als Administrative/Personal
Assistant bei einem Arbeitspensum von 90 % in der Firma B.________ AG verdient
hätte. Das Invalideneinkommen (Fr. 52'404.10) hat es auf der Grundlage der
Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2010 des Bundesamtes für Statistik (LSE
10) berechnet (grundlegend BGE 124 V 321).

4.

4.1. Die Beschwerdeführerin bringt vor, sie sei im Zeitpunkt des (frühest
möglichen) Rentenbeginns im Jahr 2011 noch immer bei der B.________ AG
angestellt gewesen. Mit dem geleisteten Pensum von 50 % habe sie die ihr gemäss
dem psychiatrischen Gerichtsgutachten verbliebene Arbeitsfähigkeit
ausgeschöpft. In Anbetracht des Umstandes, dass die Firma sich in vorbildlicher
Weise um eine Anpassung ihres Arbeitsplatzes bemüht habe, sei von besonders
stabilen Verhältnissen auszugehen. Es bestehe daher kein Anlass, das
Invalideneinkommen auf der Grundlage von Tabellenlöhnen zu bestimmen. Vielmehr
sei auf das auf 50 % heruntergebrochene Einkommen in der Tätigkeit bei der
B.________ AG (Fr. 46'966.- [= 5/9 x Fr. 84'539.55]) abzustellen. Abgesehen
davon sei ihr bei näherer Betrachtung der Ausführungen des Gerichtsgutachters
eine leidensangepasste, insbesondere stressreduzierte Tätigkeit nicht im
zeitlichen Umfang von 70 % zumutbar.

4.1.1. Der nach Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung mit Auswirkungen
auf die Arbeitsfähigkeit erzielte Verdienst kann grundsätzlich nur dann als
Invalideneinkommen gelten, wenn u.a. die beruflich-erwerbliche Situation, in
welcher die versicherte Person konkret steht, stabil ist, insbesondere von
voraussichtlich längerer Dauer sein wird (Urteil 9C_176/2010 vom 4. Mai 2010 E.
3.2.1), und weiter anzunehmen ist, dass sie die ihr verbliebene
Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft (BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S.
475; 126 V 75 E. 3b/aa S. 76). Diese Voraussetzungen können vorliegend schon
deshalb nicht als erfüllt betrachtet werden, weil die Tätigkeit bei der
B.________ AG erhöhte Anforderungen an die Stressbewältigung stellt, was aus
psychiatrischer Sicht zu vermeiden ist. Auch bei einem reduzierten Pensum von
50 % können Stresssituationen vorkommen und zu entsprechender Überforderung
führen. In diesem Sinne kam es offenbar zu einem Konflikt mit dem Vorgesetzten,
durch welchen sich die Beschwerdeführerin entwertet sah, was im Rahmen der
diagnostizierten psychischen Störungen zu sehen sei, und zu vermehrter
Ermüdbarkeit, wie der Gerichtsgutachter festhielt. Gemäss dem Bericht vom 10.
April 2012 über den stationären Aufenthalt in der Klinik C.________ hatte sie
angegeben, sich am Arbeitsplatz ausgegrenzt gefühlt zu haben.

4.1.2. Soweit die Annahme einer Arbeitsfähigkeit von 70 % in leidensangepassten
Tätigkeiten aus psychiatrischer Sicht bestritten wird, erschöpfen sich die
Vorbringen in der Beschwerde in unzulässiger appellatorischer Kritik an der
vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung (Art. 97 Abs. 1
BGG sowie Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 130 I 258 E. 1.3 S. 261; Urteil 9C_619
/2014 vom 31. März 2015 E. 2.2). Darauf ist somit nicht weiter einzugehen.

4.2. Wie die Beschwerdeführerin hingegen sinngemäss zu Recht geltend macht, ist
es widersprüchlich, von einem erwerblichen Arbeitspensum von 100 % im
Gesundheitsfall auszugehen, und gleichzeitig das Valideneinkommen dem Lohn für
ihre 90 %-Anstellung bei der B.________ AG gleichzusetzen. Der als solcher
nicht bestrittene Tabellenlohn bei einer ohne gesundheitliche Beeinträchtigung
in Betracht fallenden Tätigkeit im kaufmännisch-administrativen Bereich, welche
Berufs- und Fachkenntnisse voraussetzt (Anforderungsniveau des Arbeitsplatzes
4; Fr. 74'862.95), beträgt zwar deutlich weniger, wie die Vorinstanz
festgestellt hat. Dieser Vergleich ist indessen in doppeltem Sinne nicht
zielführend: Zum einen darf bei der Bestimmung des Einkommens ohne Behinderung
nur unter Mitberücksichtigung der für die Entlöhnung im Einzelfall
gegebenenfalls relevanten persönlichen und beruflichen Faktoren auf Erfahrungs-
und Durchschnittswerte abgestellt werden (BGE 139 V 28 E. 3.3.2 S. 30; Urteil
9C_422/2015 vom 7. Dezember 2015 E. 3.1). Zum andern war die Beschwerdeführerin
nach verbindlicher Feststellung der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 BGG) aus
gesundheitlichen Gründen lediglich im zeitlichen Umfang von 90 % eines
Vollzeitpensums bei der B.________ AG tätig gewesen. Unter diesen Umständen
gleichwohl auf den dabei erzielten Verdienst abzustellen, liefe im Ergebnis auf
die Annahme hinaus, sie hätte auch ohne die gesundheitlichen Probleme bei
derselben Firma mit einem Pensum von 90 % gearbeitet, und zwar ungeachtet, ob
eine Erhöhung auf 100 % überhaupt möglich gewesen wäre, was widersprüchlich
ist. Das Valideneinkommen ist somit ohne Bindung an die vorinstanzlichen
Sachverhaltsfeststellungen (Art. 105 Abs. 2 BGG) neu zu ermitteln.
Aufgrund der Eintragungen im Individuellen Konto gemäss Auszug vom 16. Dezember
2010 hätte der Verdienst 2001 bei der B.________ AG (hochgerechnet vom
damaligen 80 %- auf ein 100 %-Pensum) Fr. 77'942.50.- im Jahr betragen,
derjenige in der vor Antritt dieser Anstellung am 1. September 2000 ausgeübten
100 %-Tätigkeit im betreffenden Jahr Fr. 73'710.-. Daraus ergibt sich unter
Berücksichtigung der Nominallohnentwicklung im Dienstleistungssektor für 2011
im Minimum ein Valideneinkommen von Fr. 87'909.- (Fr. 73'710.- x [1.182 x
1.009]; vgl. Lohnentwicklung 2011, Kommentierte Ergebnisse und Tabellen, S. 11
und 21). Daraus resultiert bei einem Invalideneinkommen von Fr. 52'404.10 ein
Invaliditätsgrad von 40 %, was Anspruch auf eine Viertelsrente gibt (Art. 28
Abs. 2 IVG). Rentenbeginn ist der 1. Juni 2011 (E. 3 hiervor).
Die Beschwerde ist somit im Eventualstandpunkt begründet.

5. 
Ausgangsgemäss sind die Gerichtskosten den Parteien je zur Hälfte aufzuerlegen
(Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin eine
(reduzierte) Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 21. Oktober 2015 und die Verfügung
der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 12. März 2013 werden aufgehoben und es
wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin ab 1. Juni 2011 Anspruch auf
eine Viertelsrente der Invalidenversicherung hat. Im Übrigen wird die
Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden den Parteien zu gleichen Teilen (Fr.
400.-) auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'400.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung
des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der AXA Stiftung Berufliche Vorsorge,
Winterthur, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. April 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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