Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 880/2015
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]             
9C_880/2015    {T 0/2}     

Urteil vom 21. März 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Grünenfelder.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Viktor Estermann,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Luzern,
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantons-
gerichts Luzern vom 9. November 2015.

Sachverhalt:

A. 

A.a. A.________ (geb. 1978), verheiratet, Mutter zweier 2004 und 2012 geborener
Töchter, arbeitete seit 23. August 1999 bei der B.________ und meldete sich am
24. Februar 2005 bei der Eidg. Invalidenversicherung (IV) zum Leistungsbezug
an. Laut Arztzeugnis UVG des Dr.med. C.________, Facharzt für Innere Medizin,
spez. Rheumatologie, vom 22. November 2001 war die Versicherte am 11. September
2001 " (m) orgens früh 05.00 von 2 Männern überfallen/geschockt" worden. Als
Allgemeinzustand gab der Arzt an: "Psyche bisher stabil". Den Befund beschrieb
er mit "leichte Distorsion am Arm, Psyche noch auffallend mit depr. Aspekt".
Die Diagnose lautete auf " (p) sychogener Ausnahmezustand". Er veranlasste eine
Psychotherapie, verneinte eine Arbeitsunfähigkeit, empfahl die Arbeitsaufnahme
" (v) oll ab weiterhin" und stellte die Behandlung noch per 11. September 2001
ein. Nachdem die Versicherte zwei Stellenangebote zur Integration ausgeschlagen
hatte, kündigte die B.________ das Anstellungsverhältnis per 30. September
2003. Nach verschiedenen Abklärungen, insbesondere gestützt auf eine
bidisziplinäre Untersuchung des Regionalen Ärztlichen Dienstes (nachfolgend:
RAD) durch Dr. med. D.________ und med. pract. E.________, welche der
Versicherten in bisheriger und angepassten Tätigkeiten eine Arbeitsunfähigkeit
von 50 % attestierten (Berichte vom 26. Dezember 2005), sprach die IV-Stelle
Luzern A.________ bei einem Invaliditätsgrad von 50 % mit Wirkung ab 1. Februar
2004 eine halbe Invalidenrente zu (Verfügungen vom 11. Mai 2006).

A.b. Die IV-Stelle leitete 2007 ein Revisionsverfahren ein, in dessen Verlauf
ein Gutachten der Aerztlichen Begutachtungsinstitut GmbH, Basel (nachfolgend:
ABI), vom 1. August 2009 eingeholt wurde, das die Arbeitsunfähigkeit der
Versicherten für angepasste Tätigkeiten auf 30 % einschätzte. Am 31. August
2009 teilte die IV-Stelle der Versicherten die unveränderte Ausrichtung der
bisherigen (halben) Invalidenrente (Invaliditätsgrad: 51 %) mit.

A.c. Am 10. Oktober 2013 forderte die IV-Stelle einen Arztbericht für die
berufliche Integration/Rente an, der am 23. Oktober 2013 erstattet wurde. Mit
Vorbescheid vom 14. November 2013 kündigte sie die Rentenaufhebung gemäss den
Schlussbestimmungen der IV-Revision 6a an, weil die Versicherte an objektiv
überwindbaren Beschwerden (in Form einer somatoformen Schmerzstörung und eines
chronischen Cervicalsyndroms) leide. Auf Einwand hin ordnete die IV-Stelle bei
der ABI eine erneute polydisziplinäre medizinische Begutachtung an. Gestützt
auf das Gutachten vom 15. Juli 2014, das eine Arbeitsfäh igkeit von 70 %
bestätigte, hob sie die halbe Invalidenrente im Sinne des Vorbescheides auf
(Verfügung vom 17. März 2015).

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid
vom 9. November 2015 ab, soweit es darauf eintrat.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit den Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die
Sache zur erneuten Beurteilung an das Kantonsgericht Luzern zurückzuweisen.
Eventuell sei die halbe Invalidenrente nicht aufzuheben, sondern weiterhin
ungeschmälert auszurichten. Subeventuell beantragt die Versicherte, es seien
ihr gestützt auf die Schlussbestimmungen zur IV-Revision 6a Integrations- und
berufliche Eingliederungsmassnahmen zu gewähren und während deren Dauer die
bisherige halbe Invalidenrente weiterhin und unmittelbar anschliessend an die
Rentenaufhebung auszurichten. Sodann ersucht sie um unentgeltliche
Rechtspflege.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. D as Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D. 
Am 18. Februar 2016 erhielt A.________ Gelegenheit, sich zu einer allfälligen
Bestätigung der Rentenaufhebung mittels substituierter Begründung der
Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG) zu äussern (rechtliches Gehör). Sie liess
sich dazu mit Eingabe vom 2. März 2016 vernehmen.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es kann daher
einerseits eine Beschwerde aus anderen Gründen gutheissen als den darin
angerufenen und anderseits eine Beschwerde mit einer - rechtlichen - Begründung
abweisen, die von den Erwägungen des angefochtenen Entscheides abweicht (BGE
134 V 250 E. 1.2 S. 252 mit Hinweisen; 130 III 136 E. 1.4 S. 140).

2. 
Anfechtungs- und Streitgegenstand des bundesgerichtlichen Prozesses bildet
einzig die per 1. Mai 2015 verfügte und vorinstanzlich bestätigte Aufhebung der
halben Invalidenrente. Alle Anträge, die sich nicht auf dieses Prozessthema
beziehen, sind unzulässig, sodass sich insbesondere Weiterungen in Bezug auf
die beantragten Eingliederungsmassnahmen erübrigen.

3. 
Das kantonale Gericht hat, ebenso wie der Verwaltungsakt vom 17. März 2015, die
Aufhebung der halben Invalidenrente in Anwendung der Schlussbestimmungen der
IV-Revision 6a geschützt. Die Beschwerdeführerin bestreitet, dass die hiefür
nötigen Voraussetzungen erfüllt sind. Die Frage kann aus nachfolgenden Gründen
offen bleiben.

3.1. So wie eine gestützt auf Art. 17 Abs. 1 ATSG (Revision im Sinne einer
Anpassung des Rentenanspruches an geänderte Verhältnisse) erlassene Verfügung
von Amtes wegen durch die substituierte Begründung der Wiedererwägung wegen
zweifelloser Unrichtigkeit der rentenzusprechenden Verfügung und erheblicher
Bedeutung ihrer Berichtigung (Art. 53 Abs. 2 ATSG) bestätigt werden kann,
besteht die gleiche Rechtslage im Verhältnis zwischen den Schlussbestimmungen
der IV-Revision 6a und der substituierten Begründung der Wiedererwägung (Urteil
9C_121/2014 vom 3. September 2014 E. 3.2.2).

3.2. Stellt sich im Rahmen der erwähnten Rückkommenstitel die Frage nach einer
Veränderung des Rentenanspruches, ist Streitgegenstand die (geänderte)
Invalidenrente als solche, nicht die rechtliche Begründung für die Anpassung
der Leistung. Revision, Kürzung oder Wiedererwägung stellen nicht verschiedene
Streitgegenstände dar, sondern unterschiedliche rechtliche Begründungen für den
Streitgegenstand "Abänderung des Rentenanspruchs" (SVR 2011 IV Nr. 20 S. 53,
9C_303/2010 E. 4.2 und 4.3). Davon ausgehend ändert der Umstand, dass - wie die
Beschwerdeführerin geltend macht - keine Partei (jemals) eine Wiedererwägung
beantragt hat, nichts an der Zulässigkeit der substituierten Begründung der
Wiedererwägung, zumal das Bundesgericht der Versicherten Gelegenheit gegeben
hat, sich dazu allseitig zu äussern. Von einer reformatio in peius, die im
bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahren unzulässig ist (Art. 107 Abs. 1 BGG),
kann nicht die Rede sein, weil mit der Motivsubstitution lediglich eine andere
Begründung herangezogen wird, der Streitgegenstand (in concreto die von der
IV-Stelle verfügte und von der Vorinstanz bestätigte Rentenaufhebung, vgl. E.
2) jedoch gleich bleibt. Sodann wendet das Bundesgericht Art. 85 Abs. 2 und
88bis Abs. 2 IVV in ständiger Rechtsprechung auch auf die Wiedererwägung von
Invalidenrenten an, sodass die Aufhebung grundsätzlich ex nunc et pro futuro
erfolgt (Urteile 9C_258/2014 vom 3. September 2014 E. 3.2 und 9C_11/2008 vom
29. April 2008 E. 4.2.1). Die substituierte Begründung der Wiedererwägung - ein
Akt der Rechtsanwendung (E. 1) - wird schliesslich auch nicht dadurch
unzulässig, dass eine allfällige Meldepflichtverletzung (Art. 77 IVV) zu einer
rückwirkenden Rentenaufhebung bzw. einer Rückerstattung von bezogenen
Rentenleistungen führen könnte, zumal eine solche vorliegend überhaupt nicht
zur Debatte steht. Im Übrigen wäre eine Rückerstattungsforderung längstens
verwirkt (Art. 25 Abs. 2 in initio ATSG).

3.3. Massgebend für die Prüfung der Wiedererwägungsvoraussetzungen im Rahmen
der substituierten Begründung sind in zeitlicher Hinsicht die Verhältnisse, wie
sie sich bis Ende August 2009 entwickelt haben, was die Eingabe vom 2. März
2016 verkennt. Denn das 2007 eingeleitete Revisionsverfahren führte zu einer
umfassenden Überprüfung des Rentenanspruches (BGE 133 V 108 E. 5.3          S.
112 ff.), was konsequenterweise auch für die Wiedererwägung zu gelten hat (vgl.
zunächst SVR 2014 IV Nr. 10 S. 39, 9C_125/2013    E. 4.4 mit Hinweis auf E. 4.1
in fine [nicht publiziert in BGE 140 V 15]; schliesslich BGE 140 V 514 E. 5 S.
519 f.). Daher kann offen bleiben, wie es sich mit der zweifellosen
Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenzusprechung (Verfügungen vom 11. Mai
2006) verhält; eine solche ist jedenfalls mit Blick auf die Bestätigung der
halben Invalidenrente durch die Mitteilung vom 31. August 2009 zu bejahen (SVR
2010 IV Nr. 4 S. 7, 9C_46/2009 E. 3.1). Der darin angenommene Invaliditätsgrad
von 51 % ist unvereinbar mit dem kurz vorher eingeholten und unbestritten
beweiskräftigen ABI-Gutachten vom 1. August 2009, welches die
Arbeitsunfähigkeit für Verweistätigkeiten auf bloss noch 30 % schätzte. Aus
dieser Expertise geht im Übrigen - wie das kantonale Gericht festgestellt hat -
explizit hervor, dass bei der Beschwerdeführerin mangels eines traumatischen
Ereignisses von entsprechender Schwere keine posttraumatische Belastungsstörung
vorliegt; insoweit hilft der mit Eingabe vom 2. März 2016 erneuerte Hinweis auf
diesbezügliche "Restsymptome" nicht weiter. So wie die Beschwerdegegnerin bei
der ursprünglichen Rentenzusprechung im Rahmen eines Prozentvergleichs (BGE 104
V 135) von der attestierten hälftigen Arbeitsunfähigkeit proportional auf einen
Invaliditätsgrad von 50 % schloss, hätte sie auch im Revisionsverfahren
vorgehen müssen. Dies gilt umso mehr, als die Administrativakten nicht die
geringsten Anhaltspunkte bieten, welche die weitere Zusprechung der halben
Invalidenrente bei einer polydisziplinär ausgewiesenen Abeitsfähigkeit von 70 %
als auch nur vertretbar erscheinen lassen würden.

3.4. Liegt somit ein Rückkommenstitel (Wiedererwägung) vor, um in das formell
rechtskräftig geregelte Rechtsverhältnis Invalidenrente einzugreifen, fragt
sich einzig noch, ob die Beschwerdeführerin bis zur Aufhebungsverfügung im März
2015 erneut rentenbegründend invalid geworden ist. Das ist ohne weiteres
aufgrund des zweiten ABI-Gutachtens vom 15. Juli 2014, welches wiederum eine
70%ige Arbeitsfähigkeit bestätigt, zu verneinen. Inwiefern diese Expertise, wie
die Beschwerdeführerin vorbringt, rechtsfehlerhaft sein soll, ist nicht
ersichtlich. Insbesondere mit der Notwendigkeit einer aktuellen Bildgebung hat
sich das kantonale Gericht einlässlich auseinandergesetzt und die Beweiskraft
des ABI-Gutachtens (BGE 134 V 231 E. 5.1       S. 232) bejaht; die
diesbezüglichen Vorbringen der Beschwerdeführerin, erschöpfen sich im
Wesentlichen in appellatorischer Kritik, was nicht genügt (vgl. BGE 140 III 264
E. 2.3 S. 266 f.). Was die zu beurteilenden psychosomatischen Beschwerden
betrifft, so ist die Indikatorenprüfung gemäss BGE 141 V 281, soweit angesichts
der klar ausgewiesenen Arbeitsfähigkeit überhaupt erforderlich, von der
Vorinstanz gestützt auf das ABI-Gutachten zutreffend vorgenommen worden. Die
Beschwerdeführerin bringt nichts vor, was diese Betrachtungsweise als
bundesrechtswidrig (E. 1) erscheinen lassen könnte. Nach dem Gesagten stellt
der vorinstanzliche Verzicht auf weitere Abklärungen keine Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 und 61 lit. c ATSG) dar
(antizipierende Beweiswürdigung; BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236; 134 I 140 E. 5.3
S. 148; 124 V 90 E. 4b       S. 94). Die Beschwerde ist unbegründet.

4. 
Auf die Erhebung von Gerichtskosten wird umständehalber verzichtet (Art. 66
Abs. 1 Satz 2 BGG). Im Übrigen kann dem Gesuch der Beschwerdeführerin um
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE
125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG
hingewiesen, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu
leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen, soweit es nicht
gegenstandslos geworden ist, und es wird der Beschwerdeführerin Rechtsanwalt
Viktor Estermann als Rechtsbeistand beigegeben.

3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 
Rechtsanwalt Viktor Estermann wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 3'000.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern und dem Bundesamt
für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 21. März 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben