Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 851/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_851/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 21. Januar 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer,
nebenamtlicher Bundesrichter Weber,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Reto Hauser,
Beschwerdeführer,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin,

B.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. André Largier.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 29. September 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________ war seit dem 11. April 2006 als Vorsitzender der Geschäftsführung
resp. als Gesellschafter und Geschäftsführer mit Einzelunterschrift der
C.________ GmbH im Handelsregister des Kantons Zürich eingetragen, als am 24.
Januar 2012 über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet wurde. B.________ war
bis am 18. August 2011 ebenfalls als Gesellschafterin und Geschäftsführerin mit
Einzelunterschrift aufgeführt. Mit Verfügung vom 3. Mai 2013 verpflichtete die
Ausgleichskasse des Kantons Zürich (nachfolgend: Ausgleichskasse) A.________
als "Einzelhafter", für entgangene Sozialversicherungsbeiträge Schadenersatz
von Fr. 127'142.25 zu leisten. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 14.
November 2013 fest. Mit Verfügung vom 5. Dezember 2013 verpflichtete die
Ausgleichskasse B.________ als "Solidarhafterin nebst A.________" ebenfalls zu
einer Schadenersatzzahlung von Fr. 127'142.25. Dagegen erhob B.________ am 20.
Januar 2014 Einsprache.

B. 
Am 16. Dezember 2013 erhob A.________ Beschwerde gegen den Einspracheentscheid
vom 14. November 2013. Diese hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich - nach Beiladung von B.________ - mit Entscheid vom 29. September 2015
teilweise gut: Es änderte den angefochtenen Einspracheentscheid dahingehend ab,
dass es A.________ verpflichtete, in solidarischer Haftung mit B.________
Schadenersatz im Betrag von Fr. 63'571.10 zu bezahlen.
Das anschliessend - anlässlich eines Telefonanrufs - gestellte
Erläuterungsgesuch der B.________ hiess das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Beschluss vom 28. Oktober 2015 gut; es ergänzte die
Begründung des Entscheids vom 29. September 2015 im Sinne der Erwägungen. Dazu
sah es folgenden Nachtrag zu E. 6 des Entscheids vom 29. September 2015 vor:

"Soweit in Dispositiv-Ziffer 1 des Urteils festgehalten wird, dass der
Beschwerdeführer in solidarischer Haftung mit der Beigeladenen Schadenersatz zu
bezahlen hat, bedeutet dies nicht, dass die Beigeladene damit zu einer Leistung
verpflichtet wird. Dies ist gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht
möglich (vgl. BGE 130 V 501 E. 1.2 f.). Der Hinweis auf die solidarische
Haftung erfolgt unter der Prämisse, dass und soweit die Beigeladene
rechtskräftig zu Ersatz desselben Schadens verpflichtet wird."

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten verlangt A.________,
der Entscheid vom 29. September 2015, der ihn zur Zahlung von Schadenersatz von
Fr. 63'571.10 verpflichte, sei aufzuheben. Eventualiter sei er in solidarischer
Haftung mit B.________ zu verpflichten, Schadenersatz für entgangene
Arbeitgeberbeiträge berechnet auf der Lohnsumme von Fr. 230'551.- zu bezahlen.

Erwägungen:

1. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 

2.1. Nach Art. 52 AHVG (in der bis zum 31. Dezember 2011 geltenden und hier
massgebenden Fassung), welcher sinngemäss auch im Bereich der
Invalidenversicherung (Art. 66 IVG), der Erwerbsersatzordnung (Art. 21 Abs. 2
EOG, SR 834.1), der Arbeitslosenversicherung (Art. 6 AVIG, SR 837.0) und der
Familienzulagen (Art. 25 lit. c des Bundesgesetzes vom 24. März 2006 über die
Familienzulagen [Familienzulagengesetz, FamZG; SR 836.2]) Anwendung findet, hat
ein Arbeitgeber, der durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von
Vorschriften einen Schaden verschuldet, diesen der Ausgleichskasse zu ersetzen.
Ist der Arbeitgeber eine juristische Person, so können subsidiär gegebenenfalls
die verantwortlichen Organe in Anspruch genommen werden (BGE 129 V 11; 126 V
237; 123 V 12    E. 5b S. 15; je mit Hinweisen; vgl. Art. 52 Abs. 2 Satz 1 AHVG
in der seit 1. Januar 2012 geltenden Fassung). Mehrere nach Art. 52 AHVG
Schadenersatzpflichtige haften solidarisch. Die solidarische Haftung erlaubt
der Ausgleichskasse, gegen alle oder lediglich einige von ihnen, allenfalls nur
einen einzelnen, vorzugehen (BGE 134 V 306    E. 3.1 S. 308 f.; vgl. Art. 52
Abs. 2 Satz 2 AHVG in der seit 1. Januar 2012 geltenden Fassung).

2.2. Ist eine grobe Pflichtverletzung der Ausgleichskasse wie die Missachtung
elementarer Vorschriften der Beitragsveranlagung und des Beitragsbezuges für
die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens adäquat kausal, kann der
Schadenersatz ermessensweise herabgesetzt werden (vgl. Art. 44 Abs. 1 OR und
Art. 4 des Bundesgesetzes vom 14. März 1958 über die Verantwortlichkeit des
Bundes sowie seiner Behördemitglieder und Beamten [VG, SR 170.32]; BGE 122 V
185 E. 3c S. 189; SVR 2012 AHV Nr. 13 S. 50, 9C_660/2011 E. 3.3; Urteile 9C_750
/2012 vom 7. Februar 2013 E. 4.4.1; 9C_228/2008 vom 5. Februar 2009 E. 4.2.3).

3. 

3.1. Der Beschwerdeführer wurde in der Verfügung vom 3. Mai 2013 explizit als
Einzelhaftender zur Zahlung von Schadenersatz verpflichtet. Weder seine
Einsprache noch der Einspracheentscheid vom 14. November 2013, weder die
Beschwerde vom 16. Dezember 2013 noch die Stellungnahme vom 2. Juni 2014 an die
Vorinstanz hatten die Einzel- resp. die Solidarhaftung zum Thema. Indem die
Vorinstanz in Dispositiv-Ziffer 1 des Entscheids vom 29. September 2015 nicht
nur die Schadenersatzpflicht des Beschwerdeführers gegenüber der
Ausgleichskasse, sondern auch dessen solidarische Haftung mit B.________
festlegte, dehnte sie den Streitgegenstand auf ein weiteres Rechtsverhältnis
aus (vgl. BGE 130 V 501 E. 1.1 S. 502; 125 V 413 E. 2 S. 415 mit Hinweisen).
Dafür waren indessen die Voraussetzungen (vgl. BGE 130 V 501 E. E. 1.2 S. 503;
122 V 34 E. 2a S. 36 mit Hinweisen) nicht erfüllt, hatte doch die
Ausgleichskasse über die Einsprache der B.________ vom 20. Januar 2014 noch
nicht entschieden.

3.2. Diese Bundesrechtswidrigkeit scheint der Rechtsvertreter von B.________
erkannt zu haben, weshalb er mit dem entsprechenden Hinweis telefonisch an das
kantonale Gericht gelangte. Die Vorinstanz erliess zwar in der Folge den
Erläuterungsentscheid vom 29. September 2015, sie änderte damit aber nichts am
Dispositiv des Entscheids vom 29. September 2015. Nur dieses nimmt an der
(formellen) Rechtskraft teil, nicht jedoch die Erwägungen, wenn - wie hier - im
Dispositiv nicht darauf verwiesen wird (vgl. BGE 140 I 114         E. 2.4.2 und
E. 2.4.3 S. 120; Urteil 8C_680/2015 vom 14. Dezember 2015 E. 4.1).
Anfechtungsobjekt im bundesgerichtlichen Verfahren bleibt somit der
(unveränderte) Entscheid vom 29. September 2015.

3.3. Der Eventualantrag des Beschwerdeführers ist trotz der von ihm erstmals
erwähnten solidarischen Haftung nicht neu im Sinne von   Art. 99 Abs. 2 BGG:
Die Rechtsbegehren zielen (vgl.  MEYER/DORMANN, in: Basler Kommentar,
Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 7 zu Art. 107 BGG) einzig auf die
Aufhebung resp. betragsmässige Reduktion der Schadenersatzpflicht.
B.________ hat den Entscheid vom 29. September 2015 nicht mit eigener
Beschwerde (vgl. Art. 62 Abs. 1 ATSG) angefochten. Damit bleibt gemäss dessen
Dispositiv-Ziffer 1 (E. 3.2) ihre solidarische Haftung für eine allfällige
Schadenersatzpflicht des Beschwerdeführers (vgl. dazu E. 4) bestehen (Art. 107
Abs. 1 BGG).

4. 

4.1. Das kantonale Gericht hat den Schaden für die ihr entgangenen, von der
C.________ GmbH für das Jahr 2011 geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge und
Verwaltungskosten auf Fr. 127'142.25 festgelegt, wobei es auch Verzugszinsen
und Mahngebühren berücksichtigte. Weiter hat es eine Widerrechtlichkeit -
insbesondere eine Verletzung der Abrechnungs- und Beitragszahlungspflicht (Art.
14 Abs. 1 AHVG; Art. 34 ff. AHVV [SR 831.101]; vgl. auch Art. 810 und Art. 812
Abs. 1 OR) - und ein Verschulden sowohl der Arbeitgeberin als auch des
Beschwerdeführers bejaht. Zudem hat es einen (adäquaten) Kausalzusammenhang
zwischen dem Schaden und der Widerrechtlichkeit angenommen. Wegen grober
Pflichtverletzungen der Ausgleichskasse beim Beitragsbezug hat die Vorinstanz
schliesslich die Schadenersatzpflicht des Beschwerdeführers auf die Hälfte des
Schadenbetrages herabgesetzt.

4.2. Laut verbindlicher (E. 1) vorinstanzlicher Feststellung unterliess es die
Ausgleichskasse, die auf 2011 entfallenden (Akonto-) Beiträge zu erheben und
trieb sie auch das Inkasso für die Beiträge 2010 zu wenig energisch voran.
Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, dass deshalb die
Ausgleichskasse allein für den Schaden verantwortlich sei. Ohne entsprechende
Rechnungsstellung seien die Beiträge auch gar nicht fällig geworden. Ihm sei
höchstens persönlich anzulasten, dass er die Erhöhung der jährlichen Lohnsumme
gegenüber dem Vorjahr (Fr. 230'551.-) nicht meldete. Damit stellt er den
Kausalzusammenhang zwischen seinem Verhalten und dem Schaden in Abrede, während
er die übrigen Voraussetzungen der Haftung (Schaden resp. dessen Betrag,
Rechtswidrigkeit, Verschulden; E. 2) nicht (substanziiert) bestreitet.

4.3. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers entsteht die Beitragspflicht
nicht erst mit der Rechnungsstellung durch die Ausgleichskasse, sondern
unmittelbar mit der Leistung der Arbeit. Die Beiträge sind bei Realisierung des
Lohn- oder Entschädigungsanspruchs eines Arbeitnehmers geschuldet und die
Beitragsforderungen werden ex lege monatlich zur Zahlung fällig, wenn wie hier
die jährliche Lohnsumme Fr. 200'000.- übersteigt (Art. 34 Abs. 1 und 3 AHVV;
Urteil 9D_1/2013 vom 25. September 2013 E. 3.5 mit Hinweisen). Einer (Akonto-)
Rechnung der Ausgleichskasse bedarf es dazu nicht. Somit hat der
Beschwerdeführer dadurch, dass er als Geschäftsführer der C.________ GmbH nicht
die Zahlung (oder Sicherstellung) der geschuldeten Beiträge veranlasste,
grundsätzlich für den gesamten Schadensbetrag einzustehen.

4.4. Die Vorinstanz ist denn auch zu Recht davon ausgegangen, dass der
Kausalzusammenhang durch das Fehlverhalten der Ausgleichskasse beim
Beitragsbezug (vgl. Art. 14 Abs. 3 AHVG; Art. 34 ff. AHVV) nicht unterbrochen
wurde: Primär sind die Organe einer juristischen Person dafür verantwortlich,
dass die Beiträge für ausbezahlte Löhne fristgerecht abgeliefert werden (Urteil
9C_933/2013 vom 7. April 2014 E. 3.2). Daran ändert nichts, dass die
Ausgleichskasse für 2011 keine Beiträge in Rechnung gestellt hatte. Diesem
Umstand hat die Vorinstanz aber zutreffend mit einer Reduktion des
Schadenersatzbetrages Rechnung getragen (E. 2.2 und 4.1). Dass sie dabei das
ihr zustehende Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt haben, d.h. in
Ermessensüberschreitung, -unterschreitung oder -missbrauch (vgl. BGE 137 V 71
E. 5.1 S. 72 f. mit Hinweis auf BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399) verfallen sein
soll, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht (substanziiert) geltend
gemacht. Die Beschwerde ist unbegründet.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Kosten zu
tragen.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 4'000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, B.________, dem Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich
mitgeteilt.

Luzern, 21. Januar 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Dormann

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