Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 780/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_780/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 7. Januar 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner,
Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Rainer Deecke,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zug,
Baarerstrasse 11, 6300 Zug,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug
vom 10. September 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1959 geborene A.________ meldete sich im Februar 2011 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen und Durchführung
des Vorbescheidverfahrens sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Zug mit
Verfügung vom 30. Mai 2014 rückwirkend eine vom 1. September 2011 bis 31. Mai
2012 befristete halbe Invalidenrente zu (Invaliditätsgrad von 54 % resp. 0 %).

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit
Entscheid vom 10. September 2015 ab.

C. 
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
beantragen, der Entscheid vom 10. September 2015 sei aufzuheben und die
IV-Stelle sei zu verpflichten, ihm eine Invalidenrente nach Gesetz
auszurichten. Er sei polydisziplinär begutachten zu lassen. Ferner ersucht er
um unentgeltliche Rechtspflege.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und
wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein
kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105    Abs. 2 BGG).

2. 
Die Vorinstanz hat den Sachverhalt ab dem 3. März 2012 resp. den Rentenanspruch
ab dem 1. Juni 2012 geprüft. Sie hat dem Untersuchungsbericht und den
Stellungnahmen des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD; Dr. med. B.________,
Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates,
Dr. med. C.________, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, und Dr. med.
D.________, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin) vom 12. und 25. Juni sowie
vom 9. Dezember 2013 Beweiskraft beigemessen und gestützt darauf festgestellt,
dass der Beschwerdeführer seit dem Austritt aus der Klinik E.________ am 3.
März 2012 in einer körperlich angepassten Tätigkeit ("Wechseltätigkeit" ohne
repetitives Heben und Tragen von schweren Lasten, ohne Zwangshaltungen, ohne
regelmässiges Treppen-steigen/Besteigen von Leitern/Gerüsten, ohne Schläge/
Vibrationen) vollumfänglich arbeitsfähig sei. Der vorangegangene Aufenthalt in
der Klinik E.________ (vgl. Austrittsbericht vom 16. März 2012) habe
gesundheitliche Verbesserungen mit sich gebracht. Die Einschätzung der
RAD-Ärzte stimme im Wesentlichen mit jener des behandelnden Dr. med.
F.________, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, für Physikalische Medizin
und Rehabilitation sowie für Rheumatologie, überein (Bericht vom 6. September
2012). Den Invaliditätsgrad hat das kantonale Gericht auf höchstens 8 %
festgelegt. Folglich hat es einen Rentenanspruch ab 1. Juni 2012 verneint.
Der Beschwerdeführer hält die medizinischen Abklärungen für ungenügend und
bestreitet insbesondere die Beweiskraft des RAD-Untersuchungsberichts vom 12.
Juni 2013.

3.

3.1.

3.1.1. Bei der Beurteilung der Arbeits (un) fähigkeit stützt sich die
Verwaltung und im Beschwerdefall das Gericht auf Unterlagen, die von ärztlichen
und gegebenenfalls auch anderen Fachleuten zur Verfügung zu stellen sind.
Ärztliche Aufgabe ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu
Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die
versicherte Person arbeitsunfähig ist. Hinsichtlich des Beweiswertes eines
Arztberichtes ist entscheidend, ob dieser für die streitigen Belange umfassend
ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden
berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in
der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen
Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Experten begründet sind
(BGE 134 V 231 E. 5.1       S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis). Auch
reine Aktengutachten können beweiskräftig sein, sofern ein lückenloser Befund
vorliegt und es im Wesentlichen nur um die fachärztliche Beurteilung eines an
sich feststehenden medizinischen Sachverhalts geht, mithin die direkte
ärztliche Befassung mit der versicherten Person in den Hintergrund rückt. Dies
gilt grundsätzlich auch in Bezug auf Berichte und Stellungnahmen des RAD
(Urteile 9C_28/2015 vom 8. Juni 2015 E. 3.2; 9C_196/2014 vom 18. Juni 2014 E.
5.1.1 mit Hinweisen).

3.1.2. Den Berichten versicherungsinterner Ärzte kommt zwar nicht derselbe
Beweiswert wie einem im Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholten Gutachten
externer Fachpersonen oder gar wie einem Gerichtsgutachten zu, sie sind aber
soweit zu berücksichtigen, als auch nicht geringe Zweifel an der Richtigkeit
ihrer Schlussfolgerungen bestehen (BGE 135 V 465 E. 4.2-4.7 S. 467 ff.).

3.2. Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um
Entscheidungen über eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.), welche das
Bundesgericht seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat (E. 1). Die konkrete
Beweiswürdigung stellt ebenfalls eine Tatfrage dar. Dagegen ist die Beachtung
des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c
ATSG Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil I 865/06 vom
12. Oktober 2007 E. 4 mit Hinweisen), die das Bundesgericht im Rahmen der den
Parteien obliegenden Begründungs- bzw. Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG und Art.
106 Abs. 2 BGG; BGE 140 V 136 E. 1.1 S. 137 f.; 133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2
S. 254) frei überprüfen kann (Art. 106 Abs. 1 BGG).

3.3.

3.3.1. In Bezug auf die Schmerzproblematik beruhen die Einschätzungen des
RAD-Arztes Dr. med. B.________ nicht nur auf den Angaben des Versicherten,
sondern auch auf umfassender Kenntnis der Vorakten und auf eigener
Untersuchung. Er setzte sich eingehend mit dem Gutachten der Frau Dr. med.
G.________, Fachärztin für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des
Bewegungsapparates, vom 5. Juli 2011 (samt Stellungnahme vom 16. Januar 2012)
auseinander und legte überzeugend dar, weshalb er von deren Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit abwich. Der behandelnde Dr. med. F.________ hatte zwar für die
bisherige Arbeit eine um 50 % reduzierte Arbeitsfähigkeit attestiert. Indessen
hatte auch er angepasste Tätigkeiten für zumutbar gehalten (Bericht vom 6.
September 2012), was mit der Einschätzung der Ärzte des Instituts B.________
übereinstimmt und von Dr. med. B.________ offenbar übersehen wurde. Auch wenn
es laut Dr. med. F.________ durch den Aufenthalt in der Klinik E.________ nicht
zu einer Besserung der "subjektiv geäusserten Beschwerden" gekommen war, konnte
Dr. med. B.________ im Vergleich zu den durch Frau Dr. med. G.________
erhobenen Befunden eine objektive Verbesserung feststellen (vgl. BGE 133 V 263
E. 6.1 S. 263; Art. 17 Abs. 1 ATSG). Dass der RAD-Arzt in der bisherigen
Tätigkeit (Hauswartung resp. Reinigung) eine Einschränkung von 50 %
attestierte, begründete er plausibel mit dem "vorwiegend sitzenden
Belastungsprofil", das den orthopädischen Anforderungen (Wechsel-belastung,
Vermeidung von Zwangshaltungen) nicht genüge. Entscheidend für die
Invaliditätsbemessung ist letztlich ohnehin die Arbeitsfähigkeit in
leidensangepassten Tätigkeiten (vgl. Art. 7 Abs. 1 ATSG), die im
RAD-Untersuchungsbericht nachvollziehbar und einleuchtend hergeleitet wurde.
Zwar trifft zu, dass in Bezug auf Schmerzleiden die Überwindbarkeitsvermutung
überholt ist (BGE 141 V 281 E. 3.4 und 3.5 S. 291 ff.). Ein weiterer
Abklärungsbedarf im konkreten Fall lässt sich daraus aber nicht ableiten:
Greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen einer invalidisierenden somatoformen
Schmerzstörung mit dem notwendigen diagnoseinhärenten Schweregrad (BGE 141 V
281 E. 2.1.1 S. 286) oder eines vergleichbaren psychischen Leidens sind nicht
ersichtlich. Insbesondere ist eine psychiatrische Behandlung auch nicht
ansatzweise erkennbar, und eine diesbezügliche Empfehlung eines begutachtenden
oder (stationär oder ambulant) behandelnden Arztes zu Abklärung oder Therapie
ist ebenfalls nicht aktenkundig (vgl. BGE 141 V 281 E. 4.3.1.2 S. 299 und E.
4.4.2 S. 304).

3.3.2. In internistischer Hinsicht hielt der RAD-Arzt Dr. med. D.________ zwar
eine Ernährungsumstellung und die Reduktion resp. Sistierung des Nikotinkonsums
für notwendig. Dies ändert jedoch nichts an der Arbeitsfähigkeitsschätzung:
Adipositas und Nikotinsucht - wie auch durch Untätigkeit bedingte
Dekonditionierung - stellen grundsätzlich keine invalidisierenden Leiden dar
(vgl. MEYER/REICHMUTH, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 3. Aufl.
2014, N. 59, 89 und 96 zu Art. 4 IVG, je mit Hinweisen), zumal ein
schadenminderndes Verhalten als zumutbar gilt. Dass aus den Diagnosen des
insulinpflichtigen Diabetes Mellitus und der mittelschweren chronisch
obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) eine Einschränkung resultieren soll, die
mit der attestierten Restarbeitsfähigkeit nicht im Einklang steht, geht aus den
medizinischen Unterlagen der IV-Stelle nicht hervor. In diesem Zusammenhang
brachte bis zum Erlass der angefochtenen Verfügung (vgl. E. 3.3.3 Abs. 2) weder
der fachärztlich einschlägig qualifizierte Dr. med. F.________ (vgl. E. 2) noch
Dr. med. C.________, der den RAD-Untersuchungsbericht mitunterzeichnete, oder
ein anderer Arzt mit Blick auf angepasste Tätigkeiten einen Vorbehalt an.
Hinweise für eine weitergehende Einschränkung unter anderen Aspekten
(insbesondere kardial oder urogenital) sind nicht ersichtlich und wurden resp.
werden auch nicht geltend gemacht.

3.3.3. Nach dem Gesagten bestehen auch nicht geringe Zweifel an der
Einschätzung der RAD-Ärzte. Daran ändert auch das im vorinstanzlichen Verfahren
eingereichte Schreiben des Dr. med. F.________ vom 8. Juli 2014 nichts.
Diesbezüglich hat die Vorinstanz im Rahmen der Beweiswürdigung festgestellt,
Dr. med. F.________ habe damit bestätigt, dass weder der Diabetes noch das
diagnostizierte Schlafapnoe-Syndrom eine Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit
habe. Die attestierte Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit durch die COPD sei
offenbar erst nach Erlass der Verfügung vom 30. Mai 2014 eingetreten; zuvor
habe Dr. med. F.________ solches stets verneint. Auch die erstmalige Diagnose
einer Nephropathie sei neu. Diese Feststellungen sind für das Bundesgericht
grundsätzlich verbindlich (E. 1). Zu relativieren ist, dass Dr. med. F.________
im genannten Schreiben keine Arbeitsunfähigkeit attestierte, sondern lediglich
in Bezug auf eine "reduzierte körperliche Belastbarkeit" wegen der COPD
erstmals einen Abklärungsbedarf bejahte. Konkrete Anhaltspunkte für eine
diesbezügliche Verschlechterung der gesundheitlichen Situation oder für eine
Einschränkung in angepassten Tätigkeiten nannte er nicht.
Angesichts des Umstandes, dass sich der relevante Prüfungszeitraum lediglich
bis zum Erlass der angefochtenen Verfügung erstreckt (vgl. BGE 131 V 407 E.
2.1.2.1 S. 412; 116 V 246 E. 1a S. 248; Urteil 9C_768/2013 vom 12. Mai 2014 E.
3.2.2 mit weiteren Hinweisen) stellt der Verzicht auf zusätzliche Abklärungen
bei der gegebenen Aktenlage keine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art.
61 lit. c ATSG) dar (antizipierende Beweiswürdigung; BGE 136 I 229 E. 5.3   S.
236; 134 I 140 E. 5.3 S. 148; 124 V 90 E. 4b S. 94). Die vorinstanzliche
Feststellung betreffend die Arbeitsfähigkeit und die darauf beruhende
Invaliditätsbemessung des kantonalen Gerichts (E. 2) bleiben für das
Bundesgericht verbindlich. Die Beschwerde ist unbegründet.

4. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer grundsätzlich
die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG). Er
hat der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn er später dazu in der Lage
ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt, und
Rechtsanwalt Rainer Deecke wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 7. Januar 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Dormann

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