Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 762/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_762/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 26. Januar 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
Kantonale IV-Stelle Wallis,
Bahnhofstrasse 15, 1950 Sitten,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Fürsprecher Christoph Rutschi,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Wallis vom 22. September
2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1960 geborene A.________, von Beruf Sekundarlehrerin, zog sich bei einem
Sturz im Gebirge im Mai 1995 ein schweres Schädel-Hirntrauma zu. Ab 1. Mai 1996
sprach ihr die IV-Stelle Bern zunächst eine ganze, ab 1. Januar 1998 noch eine
halbe Invalidenrente zu. Nachdem die IV-Stelle mit Verfügung vom 16. Oktober
2001 für die Zeit vom 1. Mai 1996 bis 30. April 1999 eine ganze Invalidenrente
und ab 1. Februar 2001 eine Viertelsrente festgesetzt hatte, gelangte
A.________ beschwerdeweise an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Mit
Entscheid vom 2. Dezember 2002 stellte dieses fest, dass die angefochtene
Verfügung betreffend den Zeitraum vom 1. Mai 1996 bis 30. November 1998 nichtig
sei, weil über diese Periode bereits am 2. Dezember 1998 rechtskräftig verfügt
worden war. Für die Zeit ab 1. Dezember 1998 sprach das Gericht A.________ in
Gutheissung der Beschwerde eine ganze Invalidenrente zu. Am 4. Januar 2005
setzte die IV-Stelle Bern die ausgerichtete ganze ab 1. November 2004 auf eine
halbe Invalidenrente herab. Nachdem die Versicherte im Februar 2008 eine
Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes gemeldet hatte, absolvierte sie ab
August 2008 eine von der Invalidenversicherung übernommene Ausbildung zur
medizinischen Sekretärin, die sie im Juli 2009 abschloss. Im August 2009 trat
sie ein befristetes Arbeitstraining in einer Arztpraxis an. Aufgrund der
Ergebnisse einer neurologischen und neuropsychologischen Abklärung durch den
Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) vom 12. Juli 2010 ermittelte die IV-Stelle
einen Invaliditätsgrad von 88 %, worauf sie der Versicherten ab 1. Februar 2008
eine ganze Invalidenrente zusprach (Verfügung vom 4. Januar 2011).
Am 3./4. April 2013 wurde A.________ im Auftrag der Unfallversicherung in der
IB-Bern polydisziplinär untersucht (Gutachten vom 2. Mai 2013). Die Fachärzte
gelangten zum Schluss, der Gesundheitszustand der Versicherten habe sich im
Vergleich zum Jahr 2010 erheblich verbessert. Es lägen weniger ausgeprägte
neuropsychologische Defizite und Verhaltensstörungen vor. Im Rahmen des im Mai
2013 eingeleiteten Revisionsverfahrens traf die nunmehr zuständige IV-Stelle
Wallis Abklärungen in erwerblicher Hinsicht. Mit Verfügung vom 29. August 2014
setzte sie die bisher ausgerichtete ganze Rente ab 1. Oktober 2014
revisionsweise auf eine halbe Invalidenrente herab, weil sich insbesondere die
kognitiven Funktionen verbessert hätten.

B. 
In teilweiser Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde hob das
Kantonsgericht Wallis die angefochtene Verfügung auf und sprach A.________ eine
Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung zu (Entscheid vom 22. September
2015).

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle Wallis, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben. Ferner ersucht
sie um Gewährung der aufschiebenden Wirkung.
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Die Vorinstanz hat die Bestimmung und die Grundsätze über die Revision der
Invalidenrente und die dabei zu vergleichenden Sachverhalte (Art. 17 Abs. 1
IVG; BGE 134 V 131 E. 3 S. 132) zutreffend wiedergegeben. Darauf wird
verwiesen.

3. 

3.1. Gestützt auf das Gutachten der IB-Bern vom 15. Juli 2013, deren
Folgerungen sie als schlüssig, widerspruchsfrei und objektiv betrachtete, nahm
die Vorinstanz an, die Beschwerdeführerin wäre zumutbarerweise in der Lage,
eine Erwerbstätigkeit im Umfang von 50% auszuüben. Dabei könne als erstellt
gelten, dass im Gesundheitszustand der Versicherten im massgeblichen
Vergleichszeitraum eine entsprechende Verbesserung mit Auswirkungen auf die
Arbeitsfähigkeit eingetreten ist. Beim Einkommensvergleich ging das kantonale
Gericht für die Ermittlung des hypothetischen Invalideneinkommens nicht vom
Lohn aus, den die Beschwerdeführerin mit ihrem 30 %-Pensum als Lehrerin für
Deutsch für Fremdsprachige oder Hausaufgabenhilfe erzielt. Vielmehr erachtete
es für die Bestimmung des Invalideneinkommens die Tabellenlöhne gemäss
Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (LSE) als massgebend, wobei
es den Tabellenlohn für Inhaberinnen des Lehrerpatents im kantonalen Sektor
heranzog. Laut LSE 2010 Tabelle T1 Ziffer 85 Anforderungsniveau 3, Frauen,
resultierte ein Monatslohn von Fr. 6'904.-. Bei einem Teilzeitpensum von 50 %
ergab sich damit ein Invalideneinkommen von      Fr. 44'876.- (Fr. 6'904 x 13 :
2). Dieses verglich die Vorinstanz mit dem hypothetischen Einkommen ohne
Invalidität (Valideneinkommen) von Fr. 115'033.90, das die Versicherte als
Sekundarlehrerin erzielen könnte; der Invaliditätsgrad belief sich damit auf 61
%. Die Berechnung der Vorinstanz weist einen Fehler auf, der von Amtes wegen zu
berichtigen ist: Die LSE-Tabellen rechnen nicht mit 13, sondern mit 12
Monatslöhnen, da darin der Anteil vom 13. Monatslohn enthalten ist. Somit
ergibt sich ein Invalideneinkommen von Fr. 41'424.- (Fr. 6'904 x 12 : 2).
Verglichen mit dem Valideneinkommen von Fr. 115'033.90 beläuft sich der
Invaliditätsgrad auf aufgerundet 64 % (Fr. 115'033.90 - Fr. 41'424.- x 100 :
115'033.90), was indessen nichts daran ändert, dass ein Anspruch auf eine
Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung resultiert.

3.2. Die Beschwerdeführerin beschränkt sich darauf, die Ermittlung des
Invaliditätsgrades anzufechten, und hält dafür, dass das aktuell mit einer
Teilzeittätigkeit von rund 30 % erzielte Einkommen auf den Lohn, der mit der
nämlichen Erwerbstätigkeit in einem Pensum von    50 % erzielbar wäre,
umgerechnet werden müsse. Mit einem solchermassen berechneten
Invalideneinkommen resultierten ein Invaliditätsgrad von 50 % und ein Anspruch
auf eine halbe Invalidenrente. Denn für die Bestimmung des hypothetischen
Invalideneinkommens sei primär von der beruflich-erwerblichen Situation
auszugehen, in welcher die versicherte Person konkret steht. Der tatsächlich
erzielte Lohn könne unter bestimmten Umständen auf das medizinisch-theoretische
Pensum hochgerechnet werden, wenn die versicherte Person ihre zumutbare
Restarbeitsfähigkeit in der angestammten oder einer angepassten Tätigkeit nicht
vollumfänglich verwertet. Indem das kantonale Gericht auf Tabellenlöhne statt
auf das nach Aufrechnung auf ein Pensum von 50 % tatsächlich erzielbare
Einkommen abgestellt hat, habe es den Sachverhalt willkürlich gewürdigt und
überdies Bundesrecht verletzt.

4. 

4.1. Die IV-Stelle weist auf Urteile des Bundesgerichts hin, in welchen der
einen oder der anderen der beiden Lösungen der Vorzug gegeben wurde.
In BGE 126 V 75 E.3b/aa und bb hat das Gericht bestätigt, dass für die
Bestimmung des Invalideneinkommens primär von der beruflich-erwerblichen
Situation auszugehen ist, in welcher die versicherte Person konkret steht. Übt
sie nach Eintritt der Invalidität eine Erwerbstätigkeit aus, bei der -
kumulativ - besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind und anzunehmen
ist, dass sie die verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll
ausschöpft, sowie das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und
nicht als Soziallohn erscheint, gilt der tatsächlich erzielte Lohn als
Invalideneinkommen. Ist kein solches tatsächlich erzieltes Erwerbseinkommen
gegeben, namentlich weil die versicherte Person nach Eintritt des
Gesundheitsschadens keine oder ebenfalls keine ihr an sich zumutbare neue
Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, so können Tabellenlöhne beigezogen werden.
In dem in der Beschwerde ebenfalls zitierten Urteil 8C_579/2009 vom 6. Januar
2010 stellte das Bundesgericht auf das mit der verbliebenen Arbeitsfähigkeit
von 60 % tatsächlich erzielte Einkommen in den von der Versicherten nach einer
Umschulung ausgeübten Beruf als Diakonin ab mit der Feststellung, dass die
Versicherte ihr Leistungsvermögen (im Verfügungszeitpunkt) voll ausschöpfe.
Gleichzeitig verwies das Bundesgericht auf das Urteil I 171/04 des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts (EVG) vom 1. April 2005. Danach war, wie
das Bundesgericht im Urteil 8C_579/2009 E. 2.3.2 vom 6. Januar 2010 festhielt,
das Invalideneinkommen einer versicherten Person, die nach erfolgreichen
Eingliederungsmassnahmen in einem neuen Beruf tätig war, die zumutbare
Arbeitsfähigkeit aber nicht vollständig ausschöpfte, aufgrund des
hochgerechneten tatsächlichen Verdienstes und nicht anhand statistischer
Durchschnittslöhne zu ermitteln.

4.2. Bei der Frage, ob Tabellenlöhne anwendbar sind, handelt es sich
rechtsprechungsgemäss (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399) um eine Rechtsfrage. Dabei
erweist sich in casu die von der Vorinstanz gewählte Lösung betreffend die
Festlegung des hypothetischen Invalideneinkommens - das Abstellen auf die
Tabellenlöhne - nicht ohne weiteres als bundesrechtswidrig. Dass die Vorinstanz
in diesem Zusammenhang den rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich
unrichtig festgestellt habe, wie in der Beschwerde ausgeführt wird, trifft
nicht zu. Der vorliegende Fall lässt sich auch nicht mit dem von der IV-Stelle
zugunsten ihres Standpunktes zitierten Urteil 8C_579/2009 vom 6. Januar 2010
vergleichen. Anders als in jenem Fall ist die Beschwerdegegnerin nicht nach
einer erfolgreichen Umschulung in dem entsprechenden neuen Beruf tätig. Zwar
hat sie die von der Invalidenversicherung übernommene Ausbildung zur
diplomierten Arzt- und Spitalsekretärin abgeschlossen. Indessen hat sie in der
Folge als Lehrerin in einer kleinen Gruppe gearbeitet oder Einzelunterricht
(Deutsch für Fremdsprachige/Hausaufgabenbetreuerin) erteilt, wobei sie die
fachärztlicherseits attestierte Teilarbeitsfähigkeit von 50 %
unbestrittenermassen nicht vollständig verwertete. Wenn die Vorinstanz unter
diesen Umständen auf die Tabellenlöhne abgestellt hat, liegt darin keine
Bundesrechtsverletzung. Angesichts der Tatsache, dass die Versicherte ihre
Restarbeitsfähigkeit weder im ursprünglichen Beruf als Sekundarlehrerin noch in
der Tätigkeit als Arztsekretärin, für die sie zu Lasten der
Invalidenversicherung eine Umschulung absolviert hatte, verwertet, erscheint es
entgegen den Vorbringen der IV-Stelle nicht zwingend, als Ausgangspunkt für die
Bemessung des Invalideneinkommens den zuletzt effektiv verdienten Lohn zu
wählen. Die tatsächlichen Verhältnisse - insbesondere die wechselvolle
Berufskarriere (Sekundarlehrerin, Arztsekretärin, Lehrkraft für Kleingruppen
und Einzelunterricht) - sprechen vielmehr dafür, für die Berechnung des
Invalideneinkommens die Tabellenlöhne beizuziehen, wie dies die Vorinstanz
getan hat. Die Voraussetzungen, unter denen der tatsächlich verdiente Lohn als
Invalideneinkommen gilt (BGE 126 V 75 E. 3b/aa S. 76) oder zu einem Einkommen
aufgerechnet werden könnte, das als Invalidenlohn anzuerkennen wäre, sind nicht
erfüllt. Wenn es auch denkbar ist, dass sich der Versicherten wiederum die
Möglichkeit bietet, in einem anderen Schulzentrum eine angepasste Tätigkeit
auszuüben, wie die Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich festgestellt
hat, so ist nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erwiesen, dass der Staat
Wallis (als Arbeitgeber) die Versicherte auch in einem Pensum von 50 %
beschäftigen würde (vgl. Urteile 8C_7/2014 vom 10. Juli 2014 E. 7.2 und vor
allem 9C_720/2012 vom 11. Februar 2013 E. 2.3.2).

4.3. Den Einkommensvergleich, welcher gemäss korrigierter Berechnung (E. 3.1
hievor) einen Invaliditätsgrad von 64 % und damit einen Anspruch auf eine
Dreiviertelsrente ergibt, hat die Beschwerdeführerin nicht beanstandet.

5. 
Mit dem Urteil in der Hauptsache wird das Gesuch der IV-Stelle, der Beschwerde
sei die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, gegenstandslos.

6. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat der
Beschwerdegegnerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs.
1 und 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'400.- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Wallis und dem Bundesamt
für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 26. Januar 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Widmer

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