Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 758/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_758/2015

Urteil vom 9. Dezember 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
A.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Marco Unternährer, Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des
Kantonsgerichts Luzern vom 10. September 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1980 geborene A.________ schloss 2002 eine Lehre als Betriebspraktiker ab.
Im November 2003 hatte er sich erstmals bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug angemeldet. Die IV-Stelle Luzern übernahm als erstmalige
berufliche Ausbildung eine Attestlehre als Büroassistent, die A.________ am 20.
August 2008 erfolgreich abschloss. Am 23. September 2009 meldete er sich unter
Hinweis auf eine Trichterbrust und eine Angsterkrankung wiederum bei der
Invalidenversicherung an. Vom 4. Januar bis 28. August 2011 absolvierte er auf
Veranlassung durch die Invalidenversicherung bei der Interessengemeinschaft
Arbeit ein Arbeitstraining, anschliessend bis 23. Dezember 2011 einen
Berufsförderungskurs. Mit Verfügung vom 10. August 2012 lehnte die IV-Stelle
den Anspruch des Versicherten auf eine Invalidenrente ab. Die von A.________
eingereichte Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 4.
September 2013 dahingehend gut, dass es die angefochtene Verfügung aufhob und
die Sache zu weiteren psychiatrischen Abklärungen und neuer Beurteilung an die
Verwaltung zurückwies. Die IV-Stelle holte in der Folge ein Gutachten des
Psychiaters Dr. med. B.________ vom 17. Februar 2014 ein. Der Versicherte
reichte seinerseits einen Bericht des Psychiaters und Neurologen Dr. med.
C.________ vom 5. Mai 2014 ein. Mit Verfügung vom 10. Juli 2014 sprach die
IV-Stelle A.________ auf der Grundlage eines Invaliditätsgrades von 50 %
rückwirkend ab 1. Januar 2014 eine halbe Invalidenrente zu.

B. 
Die vom Versicherten hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher er zur
Hauptsache die Aufhebung der Verfügung und die Zusprechung mindestens einer
Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung hatte beantragen lassen, wies das
Kantonsgericht Luzern nach Einholung einer Ergänzung des Gutachtens des Dr.
med. B.________ vom 25. Juni 2015 und Eingang einer Stellungnahme des Dr. med.
C.________ (vom 6. Juli 2015) mit Entscheid vom 10. September 2015 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ das
vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuern; des Weiteren beantragt er,
das kantonale Gericht habe ihm die zusätzlichen medizinischen Abklärungskosten
der Dres. med. C.________ und D.________ zu vergüten. Ferner ersucht er um die
Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Die Bestimmungen über die Entstehung des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 29
Abs. 1 IVG), dessen Höhe (Art. 28 Abs. 2 IVG) sowie die Bemessung des
Invaliditätsgrades nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG) sind in
der Verfügung der IV-Stelle wiedergegeben. Die Vorinstanz hat ferner die
Rechtsprechung zu den psychischen Gesundheitsschäden, welche in gleicher Weise
wie die körperlichen eine Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG in
Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 ATSG bewirken, zutreffend dargelegt (BGE 139 V 547
E. 5.1 S. 554, 136 V 279 E. 3.2.1 S. 281). Darauf wird verwiesen.

3.

3.1. Die Vorinstanz stützte sich in medizinischer Hinsicht hauptsächlich auf
die psychiatrische Expertise des Dr. med. B.________ vom 17. Februar 2014, der
aufgrund der schweren Persönlichkeitsstörung, der ausgeprägten sozialen Phobie,
der depressiven Störung sowie der geringgradig ausgeprägten
Somatisierungsstörung eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 50 %
bescheinigt hatte. Daran änderte laut kantonalem Gericht der vom
Beschwerdeführer eingeholte Bericht des Dr. med. C.________ vom 5. Mai 2014
nichts. Die nebst einer Persönlichkeitsstörung und der depressiven Störung
aufgeführte Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung
(ADHS) mit Persistenz im Erwachsenenalter (ICD-10 F 90.0) erachtete das
kantonale Gericht nicht als erstellt. Gestützt auf eine Stellungnahme des Dr.
med. B.________ vom 25. Juni 2015 hielt es fest, angesichts der zahlreichen
psychiatrischen Abklärungen und Behandlungen, auch stationärer Art, sei es kaum
denkbar, dass beim Beschwerdeführer eine ADHS mit Auswirkungen auf die
Arbeitsfähigkeit bis zum Konsilium von Dr. med. C.________ übersehen wurde. Die
verschiedenen Merkmale einer ADHS, die schon während der Kindheit auftreten
müssten, seien in keinem ärztlichen und beruflichen Abklärungsbericht erwähnt
worden. Deshalb sei diese Diagnose nicht als zusätzlich die Arbeitsfähigkeit
beeinträchtigender Gesundheitsschaden in die Beurteilung miteinzubeziehen. Dies
gelte umso mehr, als für die Belange der Invalidenversicherung nicht die
Diagnose, sondern die funktionellen Auswirkungen der Beschwerden entscheidend
seien. In Würdigung der fachärztlichen Angaben erkannte das Kantonsgericht dem
psychiatrischen Administrativgutachten des Dr. med. B.________ im Sinne von BGE
125 V 351 E. 3b/bb S. 353 vollen Beweiswert zu. Aufgrund eines
Prozentvergleichs und unter Vornahme eines leidensbedingten Abzuges infolge
Teilzeittätigkeit sowie der Ausübung einer Arbeit mit wenig sozialen Kontakten
in einer wohlwollenden Umgebung von insgesamt 15 % ermittelte die Vorinstanz
einen Invaliditätsgrad von 57,5 %, womit es beim Anspruch auf eine halbe
Invalidenrente gemäss Verfügung vom 10. Juli 2014 blieb; indessen setzte das
kantonale Gericht den Rentenbeginn auf den 1. März 2010 fest.

3.2. Der Beschwerdeführer bestreitet den Beweiswert der Expertise des Dr. med.
B.________ und beruft sich auf die von ihm beigebrachte Stellungnahme des Dr.
med. C.________, namentlich die von diesem diagnostizierte ADHS. Dieses Leiden
beeinträchtige die Arbeitsfähigkeit zusätzlich, sodass der Versicherte voll
arbeitsunfähig sei. Im Weiteren weist dieser darauf hin, dass er bei der
Ausbildung zum Büroassistenten auf das Verständnis und die Geduld des
Lehrbetriebes angewiesen gewesen sei und seine schulischen Leistungen nur knapp
den Anforderungen entsprochen hätten. Bei Antritt einer Stelle sei er auf ein
solches Entgegenkommen eines Arbeitgebers angewiesen. Beim Einkommensvergleich
sodann erachtet der Beschwerdeführer einen leidensbedingten Abzug von 25 % vom
Invalideneinkommen als gerechtfertigt.

4. 
Der Beschwerdeführer kritisiert das Administrativgutachten des Dr. med.
B.________, welches die Vorinstanz als Grundlage ihres Entscheides heranzieht,
ohne auszuführen oder gar eingehend zu begründen, inwiefern das kantonale
Gericht als Folge davon den rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich
unrichtig oder anderweitig in Verletzung von Bundesrecht festgestellt habe.
Vielmehr erschöpfen sich die Einwendungen des Versicherten über weite Strecken
in einer im Rahmen der gesetzlichen Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts (E.
1 hievor) unbeachtlichen appellatorischen Kritik an der vorinstanzlichen
Beweiswürdigung. Soweit sich der Beschwerdeführer auf die fachärztlichen
Stellungnahmen des Dr. med. C.________ und dessen Diagnose einer ADHS beruft,
hat er sich entgegenhalten zu lassen, dass die Vorinstanz gestützt auf den
ergänzenden Bericht des Dr. med. B.________ vom 25. Juni 2015 ausführlich die
Gründe dargelegt hat, welche gegen das Vorliegen des betreffenden
Gesundheitsschaden sprechen. Im Übrigen hat sie ausgeführt, dass das Vorliegen
des entsprechenden Leidens auf den Verfahrensausgang keinen Einfluss hätte. Von
einer willkürlichen Beweiswürdigung kann nicht die Rede sein. Der Einwand, dass
der Beschwerdeführer nur an einem auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht
vorhandenen Arbeitsplatz tätig sein könnte, wo ihm Rücksicht und Wohlwollen
entgegengebracht werden, ist nicht stichhaltig. Administrativgutachter Dr. med.
B.________ hielt fest, dem Beschwerdeführer sei eine berufliche Tätigkeit mit
wenig sozialen Kontakten und in wohlwollender Umgebung zu 50 % zumutbar. Ob der
Versicherte konkret eine derartige Arbeitsgelegenheit findet, ist nicht
entscheidend. Massgebend ist, dass der ausgeglichene Arbeitsmarkt, auf welchen
bei der Invaliditätsbemessung im Sinne eines objektiven Tatbestandselements (
BGE 140 V 267 E. 5.3 S. 275; zum Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes
siehe BGE 110 V 273 E. 4b S. 276) abzustellen ist (Art. 16 ATSG), solche
Stellen kennt. Was schliesslich den leidensbedingten Abzug vom hypothetischen
Invalideneinkommen betrifft, den der Beschwerdeführer auf 25 % erhöhen möchte,
ist darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei der Höhe dieses Abzugs um
eine typische Ermessensfrage handelt, deren Beantwortung letztinstanzlicher
Korrektur nur mehr dort zugänglich ist, wo das kantonale Gericht das Ermessens
rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder
-unterschreitung vorliegt (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399). Inwieweit das
Kantonsgericht mit der Festsetzung des leidensbedingten Abzugs auf 15 % sein
Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt haben soll, vermag der Beschwerdeführer
nicht darzutun.

5. 
Eine Vergütung der Abklärungskosten für die vom Versicherten veranlassten
medizinischen Untersuchungen durch Dr. med. C.________, wie sie in der
Beschwerde beantragt wird, fällt ausser Betracht. Die Übernahme der Kosten der
vom unterliegenden Versicherten eingereichten Gutachten durch die Verwaltung
käme nur in Frage, wenn sich der medizinische Sachverhalt erst aufgrund des im
kantonalen Beschwerdeverfahren beigebrachten Untersuchungsergebnisses schlüssig
hätte feststellen lassen (vgl. statt vieler Urteil 9C_884/2014 vom 24. April
2015 E. 7). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Stellungnahmen
des Dr. med. C.________ haben nicht zu einer wesentlichen Erhellung der
medizinischen Situation beigetragen, dank welcher eine schlüssige Feststellung
des Gesundheitszustandes des Versicherten erst möglich geworden wäre.

6. 
Dem Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege ist
stattzugeben, da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1
BGG). Der Beschwerdeführer wird jedoch darauf hingewiesen, dass er der
Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der Lage ist
(Art. 64 Abs. 4 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Rechtsanwalt Marco Unternährer wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. Dezember 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Widmer

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