Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 740/2015
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_740/2015

Urteil vom 1. Juli 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Furrer.

Verfahrensbeteiligte
Bundesamt für Gesundheit, Schwarzenburgstrasse 165, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

A.________ SA,
vertreten durch Rechtsanwältin Ursula Eggenberger Stöckli,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Krankenversicherung (Spezialitätenliste; Überprüfung der Aufnahmebedingungen
nach Patentablauf),

Beschwerde gegen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. September
2015.

Sachverhalt:

A. 
Die A.________ SA als Zulassungsinhaberin des Arzneimittels B.________, welches
in verschiedenen Dosisstärken und Packungsgrössen in der Liste der
pharmazeutischen Spezialitäten und konfektionierten Arzneimittel mit Preisen
(Spezialitätenliste; fortan: SL) aufgeführt ist, übermittelte dem Bundesamt für
Gesundheit (BAG) am 25. Mai 2012 Unterlagen zwecks Überprüfung der
Aufnahmebedingungen von B.________ nach Patentablauf (Art. 65e KVV [SR
832.102]; in der von 1. Oktober 2009 bis 31. Mai 2015 in Kraft gestandenen
Fassung [AS 2009 4245; 2015 1255]). Das BAG informierte mit Schreiben vom 13.
September 2012, gestützt auf einen Auslandpreisvergleich (fortan: APV)
beabsichtige es, den Preis von B.________ um 16,19 % zu senken. Mit
Stellungnahmen vom 1. Oktober und 23. November 2012 vertrat die A.________ SA
den Standpunkt, bei der Preisfestsetzung sei eine Toleranzmarge von 5 % zum
durchschnittlichen Fabrikabgabepreis der Referenzländer hinzuzurechnen. Das BAG
setzte mit Verfügung vom 3. Dezember 2012 die SL-Preise für B.________ -
ausschliesslich auf der Grundlage eines APV und ohne Berücksichtigung einer
Toleranzmarge - mit Wirkung ab 1. Januar 2013 wie folgt fest:

       B.________                     Publikumspreis (PP) 
       XXX mg, XXX Stück              Fr. XXX
       XXX mg, XXX Stück              Fr. XXX
       XXX mg, XXX Stück              Fr. XXX
       XXX mg, XXX Stück              Fr. XXX 

Gleichzeitig entzog es einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung.

B. 
Eine hiergegen erhobene Beschwerde hiess das Bundesverwaltungsgericht mit
Entscheid vom 1. September 2015 dahingehend gut, dass es die angefochtene
Verfügung aufhob und die Sache an das BAG zurückwies, damit dieses nach
erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen (Vornahme einer umfassenden
Wirtschaftlichkeitsprüfung anhand eines APV und eines therapeutischen
Quervergleichs [fortan: TQV]) über die Preissenkung neu verfüge. Im Übrigen
(Gewährung der Toleranzmarge) wies es die Beschwerde ab.

C. 
Das BAG erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Antrag, der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. September 2015 sei
aufzuheben und die Verfügung des BAG vom 4. Dezember 2012 zu bestätigen.

Die Beschwerdegegnerin trägt auf Abweisung der Beschwerde und Bestätigung des
angefochtenen Entscheids an, soweit die Verfügung des BAG vom 3. Dezember 2012
aufgehoben und die Sache zu weiteren Abklärungen im Sinne der Erwägungen und
neuer Verfügung an das BAG zurückgewiesen werde.

Erwägungen:

1.

1.1. Beim angefochtenen Entscheid, welcher die Sache zur Vornahme einer
umfassenden Wirtschaftlichkeitsprüfung sowie zum anschliessendem Erlass einer
neuen Verfügung über die Preissenkung an das BAG zurückweist, handelt es sich
um einen selbstständig eröffneten Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne von Art.
93 BGG (BGE 142 V 26 E. 1.1 S. 28 mit Hinweis auf BGE 133 V 477 E. 4.2 S. 481
f.). Die Beschwerde an das Bundesgericht ist daher nur zulässig, wenn der
Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93
Abs. 1 lit. a BGG) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen
Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder
Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit.
b BGG).

1.2. Nach der Rechtsprechung obliegt es dem Beschwerdeführer darzutun, dass
eine dieser beiden Voraussetzungen erfüllt ist, es sei denn, deren Vorliegen
springe geradezu in die Augen (BGE 141 III 80 E. 1.2 S. 81; 138 III 46 E. 1.2
S. 47; 137 III 324 E. 1.1 S. 329; 134 III 426 E. 1.2 i.f. S. 429; 133 III 629
E. 2.3.1 und 2.4.2 S. 633).
Der Beschwerdeführer setzt sich mit den Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 BGG
nicht auseinander. Vorliegend ist ein nicht wieder gutzumachender Nachteil
jedoch evident: Könnte der Beschwerdeführer den vorinstanzlichen Entscheid
nicht anfechten, wäre er gezwungen, eine seines Erachtens rechtswidrige
Verfügung zu erlassen. Sodann wäre er nicht legitimiert, seine eigene Verfügung
anzufechten (Art. 27 Abs. 2 KVV e contrario). Die Beschwerdegegnerin ihrerseits
hätte keinen Anlass, die neu zu erlassende Verfügung anzufechten, wenn sie zu
ihrem Vorteil ist, so dass im Ergebnis der allenfalls rechtswidrige Entscheid
nicht mehr angefochten und das falsche Ergebnis nicht korrigiert werden könnte
(vgl. BGE 133 V 477 E. 5.2.4 S. 484 f.). Daher ist auf die Beschwerde
einzutreten.

1.3. Die Vorinstanz hat in Dispositiv-Ziffer 1 die Beschwerde dahingehend
gutgeheissen, dass sie die Rückweisung der Sache zur umfassenden
Wirtschaftlichkeitsprüfung anordnete (erster Satz). Im Übrigen hat sie die
Beschwerde abgewiesen und damit die Nichtgewährung der Toleranzmarge bestätigt
(zweiter Satz). Weil der Beschwerdeführer - wie sich aus der Begründung ergibt
(Urteil 9C_251/2009 vom 15. Mai 2009 E. 1.3) - den vorinstanzlichen Entscheid
einzig in Bezug auf die Anordnung anficht, (nebst dem APV) auch einen TQV
durchzuführen und hernach über die Preissenkung neu zu verfügen, bildet die
Toleranzmarge nicht Streitgegenstand (BGE 125 V 413 E. 2a S. 415). Soweit sich
die Beschwerdegegnerin dennoch zur Frage der Toleranzmarge äussert, ist darauf
nicht einzugehen.

2. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

3. 
Was die rechtlichen Grundlagen und Argumente betrifft, kann vollumfänglich auf
das Urteil 9C_739/2015 vom 20. Juni 2016 (zur Publikation bestimmt) verwiesen
werden, zumal Parteien, Rechtsfrage (E. 4 sogleich) und Parteistandpunkte
identisch sind.

4. 
Unbestritten ist die Wirksamkeit und Zweckmässigkeit des Arzneimittels
B.________ sowie das Vorliegen einer gültigen Zulassung des Schweizerischen
Heilmittelinstituts Swissmedic. Strittig ist hingegen, ob die Beurteilung der
Wirtschaftlichkeit von B.________ im Rahmen der Überprüfung der
Aufnahmebedingungen nach Patentablauf gemäss Art. 65e KVV - wie die Verwaltung
annimmt - einzig anhand eines APV oder - mit Vorinstanz und Beschwerdegegnerin
- grundsätzlich mittels APV und TQV vorzunehmen ist.

5. 
Das Bundesgericht hat sich im erwähnten Urteil 9C_739/2015 eingehend mit der
Auslegung von Art. 65e KVV (in der hier massgebenden Fassung)
auseinandergesetzt und legte - gekürzt wiedergegeben - Folgendes dar:

Gemäss Art. 65e KVV hat nach Patentablauf eine Überprüfung der
Aufnahmebedingungen zu erfolgen, wobei Letztere in Art. 65 KVV umschrieben
werden. Die Aufnahmebedingung der Wirtschaftlichkeit bzw. deren Beurteilung
("im Allgemeinen") wird in Art. 65b KVV (i.V.m. Art. 34 Abs. 2 KLV) geregelt,
welche Bestimmung als Beurteilungselemente insbesondere den TQV und den APV
statuiert. Als Abweichung von dieser allgemeinen Wirtschaftlichkeitsbeurteilung
sieht Art. 65e KVV (einzig) vor, dass die Kosten für Forschung und Entwicklung
nicht mehr berücksichtigt werden. Weitergehende Abweichungen namentlich
dergestalt, dass die Wirtschaftlichkeit nur anhand eines APV zu beurteilen
wäre, enthält Art. 65e KVV - anders als Art. 65d Abs. 1bis KVV - nicht. Der
Wortlaut von Art. 65e KVV (i.V.m. Art. 65 Abs. 3 und Art. 65b KVV) spricht
somit für eine umfassende, auch den TQV beinhaltende
Wirtschaftlichkeitsbeurteilung (a.a.O. E. 5.2.1). Entstehungsgeschichtlich sind
zweierlei Ziele der Überprüfung der Arzneimittel nach Ablauf des Patentschutzes
auszumachen. Zum einen das Ziel, die Preise der Arzneimittel unmittelbar nach
und wegen dem Ablauf des Patentschutzes zu senken. Zum anderen jenes der
Überprüfung der Aufnahmebedingungen (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und
Wirtschaftlichkeit) gemäss Art. 32 Abs. 2 KVG. In Bezug auf die dreijährliche
Überprüfung der Aufnahmebedingungen (Art. 65d Abs. 1bis KVV; in der von 1. Juni
2013 bis 31. Mai 2015 in Kraft gestandenen Fassung) hat das Bundesgericht in
BGE 142 V 26 erkannt, dass diese umfassend zu erfolgen hat, d.h. unter
Einschluss einer Kosten-Nutzen-Analyse, wie sie im Rahmen des TQV stattfindet.
Denn nur eine umfassende Überprüfung der Kriterien von Art. 32 Abs. 1 KVG
ermöglicht es, "überholte Leistungen auszumustern" (oder deren Preise zu
senken) bzw. sicherzustellen, dass die im Rahmen der Aufnahme eines
Arzneimittels in die SL gestellten Anforderungen während der gesamten
Verweildauer auf der SL erfüllt sind. Dies hat auch für die Überprüfung nach
Patentablauf zu gelten, weil diese - ebenso wie die dreijährliche Überprüfung -
die Zielsetzung von Art. 32 Abs. 2 KVG verfolgt. Mithin steht der Einbezug des
TQV im Einklang mit Sinn und Zweck der Überprüfung der Aufnahmebedingungen nach
Patentablauf (a.a.O. E. 5.2.2). Eine umfassende Wirtschaftlichkeitsbeurteilung
ist auch im Sinne des beschwerdeweise angerufenen Art. 43 Abs. 6 KVG (Ziel der
möglichst günstigen Kosten), weil der Einbezug des TQV in der Regel sogar zu
einem tieferen Vergleichswert als die alleinige Anwendung des APV führt (a.a.O.
E. 5.2.3). Nicht gefolgt werden kann dem Einwand, eine Auslegung im Sinne der
Rechtsgleichheit führe zur alleinigen Anwendung des APV. Namentlich ist nicht
erkennbar, weshalb eine rechnerische Ausscheidung gewisser preislicher
Komponenten der noch patentgeschützten Originalpräparate, die laut Beschwerde
einen rechtsgleichen Vergleich verunmöglichten, nicht möglich sein sollte
(a.a.O. E. 5.2.4). Zusammenfassend ergibt die Auslegung von Art. 65e KVV, dass
nach Ablauf des Patentschutzes grundsätzlich eine umfassende
Wirtschaftlichkeitsprüfung - anhand von APV und TQV - durchzuführen ist. Soweit
das SL-Handbuch in Ziff. F.1.3 eine Wirtschaftlichkeitsprüfung vor allem anhand
eines APV vorsieht, ist es gesetzeswidrig (a.a.O. E. 5.3).

Die hievor wiedergegebenen Erwägungen haben auch für den vorliegenden Fall
Geltung (vgl. E. 3 hiervor). Mithin hat die Vorinstanz den Beschwerdeführer zu
Recht angewiesen, die Wirtschaftlichkeit umfassend zu prüfen und hernach über
die Preissenkung neu zu verfügen.

6. 
Vom BAG als unterliegende Partei sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66
Abs. 4 BGG). Hingegen hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Der Beschwerdeführer hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'500.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bundesverwaltungsgericht schriftlich
mitgeteilt.

Luzern, 1. Juli 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Furrer

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben