Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 721/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_721/2015

Urteil vom 8. August 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Grünenfelder.

Verfahrensbeteiligte
Avenir Krankenversicherung AG, Rechtsdienst, Rue des Cèdres 5, 1920 Martigny,
Beschwerdeführerin,

gegen

1. A.A.________,
2. B.A.________,
3. C.A.________,
alle drei handelnd durch ihren Vater D.A.________,
und dieser vertreten durch Advokatin Sarah Brutschin,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Basel-Stadt vom 22. August 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die Geschwister A.A.________ (geb. 2006), B.A.________ und C.A.________ (beide
geb. 2011) sind bei der Avenir Krankenversicherung AG (nachfolgend: Avenir)
obligatorisch krankenversichert. Der Vater der Kinder reichte der Avenir
verschiedene Belege ein, wonach diese im August 2013 während den Sommerferien
im privaten Krankenhaus B.________ in Mazedonien stationär behandelt worden
seien (vgl. Fragebögen vom 26. Oktober 2013). Die beigelegten Rechnungen wiesen
einen Gesamtbetrag von EUR 3'887.- bzw. Fr. 5'346.45 aus (A.A.________: EUR
1'480.-, B.A.________: EUR 1'309.-, C.A.________: EUR 1'098.-). Ges tützt auf
die Angaben der Allianz Global Assistance (nachfolgend: AGA) International
(Schweiz) vom 27. November 2013 lehnte die Avenir eine Rückerstattung der
Behandlungskosten mit Verfügung vom 27. Januar 2014 ab, da diese nicht den
genehmigten und praktizierten Tarifen des Sozialsystems des Auslandaufenthaltes
entsprächen und somit Zweifel an der Richtigkeit der Forderung bestünden. Daran
hielt sie mit Einspracheentscheid vom 26. August 2014 fest.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht
Basel-Stadt mit Entscheid vom 22. August 2015 teilweise gut und verpflichtete
die Avenir, den Versicherten die Kosten der in Mazedonien durchgeführten
stationären Behandlung im Umfang von Fr. 2'600.- zu bezahlen.

C. 
Die Avenir führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei eine
Leistungspflicht vollumfänglich zu verneinen und festzustellen, dass der
Nachweis für die angeblichen Behandlungen in Mazedonien nicht mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit erbracht sei. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz, subeventualiter an den Versicherer zurückzuweisen.
A.A.________, B.A.________ und C.A.________ schliessen auf Abweisung der
Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2. Eine Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich
unrichtig, wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und
augenfällig unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Eine offensichtlich
unrichtige Sachverhaltsfeststellung weist damit die Tragweite von Willkür auf (
BGE 135 II 145 E. 8.1 S. 153; Botschaft des Bundesrates vom 28. Februar 2001
zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4338; MARKUS SCHOTT,
Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 9 f. zu Art. 97 BGG).
Diesbezüglich gelten strenge Anforderungen an die Begründungspflicht. Das
Bundesgericht prüft nur klar und detailliert erhobene und, soweit möglich,
belegte Rügen; auf rein appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt
es nicht ein. Wird eine Verletzung des Willkürverbots geltend gemacht, muss
anhand der angefochtenen Subsumtion im Einzelnen dargelegt werden, inwiefern
der Entscheid an einem qualifizierten und offensichtlichen Mangel leidet (BGE
134 II 244 E. 2.2 S. 246 und 130 I 258 E. 1.3 S. 261 mit Hinweisen).

2. 
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen betreffend die
Übernahme der Kosten von im Ausland erbrachten Leistungen aus der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Art. 34 Abs. 1 und 2 KVG; Art. 36
KVV) zutreffend dargelegt. Richtig ist insbesondere, dass eine Ausnahme vom
Territorialprinzip gemäss Art. 34 Abs. 2 KVG in Verbindung mit Art. 36 KVV den
Nachweis voraussetzt, dass ein Notfall vorliegt (Art. 36 Abs. 2 KVV) oder die -
vom allgemeinen Leistungskatalog gemäss Art. 25 Abs. 2 KVG erfasste -
medizinische Behandlung in der Schweiz nicht erbracht werden kann (Art. 36 Abs.
1 KVV). Darauf wird verwiesen.

3.

3.1. Die versicherte Person und der behandelnde Arzt haben dem
Krankenversicherer alle medizinischen Grundlagen dafür zu liefern, dass er die
Voraussetzungen einer Leistungspflicht prüfen kann. Dabei sind, wie die
Vorinstanz unter Hinweis auf das Urteil K 222/05 vom 29. August 2006 E. 4.2
richtig ausgeführt hat, an die Mitwirkungspflicht des Versicherten (Art. 43
Abs. 2 ATSG) und den Beweiswert eingereichter Unterlagen hohe Anforderungen zu
stellen, zumal eigene Abklärungen des Versicherers im Ausland nur beschränkt
möglich sind.
Naturgemäss ist es einfacher, das Vorhandensein von Tatsachen zu beweisen als
deren Nichtvorhandensein. Wo einer Partei der regelmässig äusserst schwierige
Beweis des Nichtvorhandenseins einer Tatsache obliegt, ist die Gegenpartei nach
Treu und Glauben gehalten, ihrerseits verstärkt bei der Beweisführung
mitzuwirken, namentlich indem sie einen Gegenbeweis erbringt oder zumindest
konkrete Anhaltspunkte für das Vorhandensein weiterer Daten aufzeigt (Urteil
1C_59/2015 vom 17. September 2015 E. 3.2 mit Hinweisen).

3.2. Im Sozialversicherungsrecht gilt - von gegenteiligen ausdrücklichen
gesetzlichen Bestimmungen abgesehen - nicht das Mass des strikten Beweises (BGE
121 V 204 E. 6b S. 209 mit Hinweis). Das Beweismass wird regelmässig
eingeschränkt, indem der geltend gemachte Sachverhalt mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit erstellt sein muss (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360; 125 V 193 E.
2 S. 195).
Das Beweismass der Glaubhaftmachung ist von demjenigen der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit abzugrenzen (Urteil 5A_1008/2014 vom 1. Juni 2015 E. 3.2 mit
Hinweis auf BGE 130 III 321 E. 3.3 S. 325 sowie Urteil 5A_881/2011 vom 16. März
2012 E. 3.2 f., in: Pra 2012 Nr. 103 S. 714). Das Abstellen auf einen bloss
glaubhaft gemachten Sachverhalt vermag dem Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit nicht zu genügen (Urteil I 21/00 vom 21. Januar 2001 E. 2b).
Glaubhaftmachung stellt ein - im Gesetz vorgesehenes - Abweichen vom
sozialversicherungsrechtlichen Regelbeweismass dar. Dieses gilt etwa bei der
Feststellung von Tatsachen, welche für das Eintreten auf eine Neuanmeldung oder
ein Revisionsgesuch (Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV) massgebend sind (BGE 130 V 64 E.
5.2.5 S. 68 f.; 121 V 204 E. 6b S. 209).

3.3. Ob das kantonale Gericht das richtige Beweismass angewandt hat, ist eine
vom Bundesgericht frei zu prüfende Rechtsfrage. Demgegenüber beschlägt die
Bewertung der vorgelegten Beweismittel die Beweiswürdigung, die vom
Bundesgericht nur unter dem eingeschränkten Gesichtspunkt von Art. 97 BGG
geprüft wird (vgl. E. 1.1 vorne; statt vieler Urteil 8C_315/2016 vom 20. Juni
2016 E. 2.3 mit Hinweisen).

4.

4.1. Die Vorinstanz hat verschiedene Unklarheiten und Widersprüche in Bezug auf
die von den Versicherten eingereichten Belege ausgemacht. So hat sie auf
datumsmässige Unstimmigkeiten verwiesen und festgestellt, dass die längste
medizinische Behandlung, nämlich diejenige des C.A.________, am wenigsten
Kosten verursacht habe. Ausserdem sei grundsätzlich auffällig, dass die
Spitalaufenthalte der Kinder angesichts der in Mazedonien gestellten Diagnosen
("Gastroenterocolitis" resp. "Bronchitis"; vgl. E. 4.3.2 f. S. 6 f. des
angefochtenen Entscheides) ungewöhnlich lange gedauert hätten. Hinsichtlich der
im vorinstanzlichen Beschwerdeverfahren verurkundeten Bestätigung vom 25.
August 2013 (vgl. vorinstanzliche Replikbeilage 3) hat das kantonale Gericht
dargelegt, das s sich diese auf eine Behandlung zu Hause beziehe. Ebenso hat es
festgestellt, dass die Unterschrift auf besagter Bestätigung ein völlig anderes
"Muster" aufweise als diejenige auf den ursprünglich eingereichten Quittungen/
Entlassungsscheinen (vgl. vorinstanzliche Replikbeilage 2). Während auf
Letzteren in der Mitte des Stempelaufdruckes ein blosses Kürzel angebracht sei,
befinde sich auf der Bestätigung vom 25. August 2013 eine volle Unterschrift
des mazedonischen Arztes. Ferner enthalte die von den Versicherten eingereichte
Bestätigung der schweizerischen Kinderärztin vom 2. Februar 2014 eine
ungewöhnliche Formulierung (vgl. E. 4.3.6 S. 8 des angefochtenen Entscheides).

4.2. Die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen sind für das Bundesgericht
verbindlich (vgl. E. 1.1 vorne). Obschon das kantonale Gericht grosse Zweifel
an der von den Beschwerdegegnern vorgetragenen Version eingeräumt hat, ist es
von der  glaubhaften Angabe ausgegangen, dass die drei Kinder während der
Ferien in Mazedonien erkrankten bzw. ärztlich behandelt werden mussten, und hat
eine Leistungspflicht der Beschwerdeführerin (teilweise) bejaht. Diese
(rechtliche) Schlussfolgerung hat die Vorinstanz gestützt auf die
Entlassungsscheine gezogen, da die darin erwähnten Symptome mit den Diagnosen
übereinstimmen. Ferner hat das kantonale Gericht die Erklärungen des Vaters der
Beschwerdegegner - insbesondere im Rahmen der vorinstanzlichen Verhandlung vom
20. Mai 2015 (vgl. Verhandlungsprotokoll, S. 4 ff.) - he rangezogen, welche es
als prinz ipiell nachvollziehbar und in sich stimmig erachtet hat.

4.3. Das kantonale Gericht übersieht, dass Glaubhaftmachung als hinreichendes
Beweismass nicht ausreicht. Nach dem Beweismass der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit ist ein bestimmter Sachverhalt nicht bereits dann bewiesen,
wenn er bloss möglich ist (vgl. E. 3.2 vorne; BGE 130 III 321 E. 3.3 S. 325;
SVR 2012 BVG Nr. 22, 9C_541/2011 E. 5.1 mit Hinweisen). Hinzu kommt, dass die
Aussagen des Vaters als gesetzlicher Vertreter der Kinder (die Mutter wurde
nicht befragt) lediglich Parteibehauptungen darstellen, die für sich allein
keinen Beweis zu bilden vermögen, wie die Beschwerdeführerin sinngemäss zu
Recht vorbringt. Nachdem in concreto kein Anlass für weitere Nachforschungen
besteht und auch die Beschwerdegegner keine Anhaltspunkte für das Vorhandensein
weiterer Daten geltend machen, steht fest, dass die strittigen Behandlungen im
Ausland nicht rechtsgenüglich nachgewiesen sind. Dass die Vorinstanz das von
der AGA im Auftrag der Avenir eingeholte Schreiben des angeblich behandelnden
Spitalarztes vom 26. November 2013, wonach keine Behandlung stattgefunden haben
soll, als eher seltsam bezeichnet hat, ändert nichts. Die Beschwerdegegner
vermögen das Gegenteil nicht mit dem Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit zu beweisen. Dies spricht für die Richtigkeit des von der
Beschwerdeführerin behaupteten Sachverhalts, soweit diese überhaupt
beweispflichtig ist (vgl. E. 3.1 vorne). Damit erübrigen sich Ausführungen
bezüglich der Höhe des vom kantonalen Gericht zugesprochenen Betrages ohne
weiteres. Insgesamt hat die Vorinstanz Bundesrecht verletzt (E. 1.1). Die
Beschwerde ist begründet.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend haben die Beschwerdegegner die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die obsiegende
Beschwerdeführerin hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68
Abs. 3 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Basel-Stadt vom 22. August 2015 wird aufgehoben und der
Einspracheentscheid der Avenir Krankenversicherung AG vom 26. August 2014
bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden den Beschwerdegegnern auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Basel-Stadt und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 8. August 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder

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