Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 659/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_659/2015

Urteil vom 22. Februar 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber Trütsch.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ronald Pedergnana,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin,

 Pensionskasse der St. Galler Gemeinden, St. Gallerstrasse 89, 9230 Flawil,
vertreten durch Rechtsanwältin Marta Mozar,

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 31. Juli 2015.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügung vom 17. Januar 2006 wies die IV-Stelle des Kantons St. Gallen ein
erstes Leistungsgesuch der 1962 geborenen A.________ ab. Am 19. Juni 2007
meldete sie sich unter Hinweis auf unfallbedingte Beschwerden erneut zum
Leistungsbezug an. Daraufhin veranlasste die Verwaltung u.a. eine
polydisziplinäre Begutachtung durch die Medizinische Abklärungsstelle (MEDAS)
Ostschweiz (Expertise vom 23. Januar 2009). Am 24. September 2009 erstattete
die MEDAS ein Gutachten zuhanden des Unfallversicherers. Mit Verfügung vom 16.
Dezember 2010 sprach die IV-Stelle A.________ ab Juli 2007 eine halbe und ab
April 2008 eine ganze Rente zu.
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht
des Kantons St. Gallen nach Beiladung der Pensionskasse der St. Galler
Gemeinden mit Entscheid vom 19. Dezember 2013 insofern gut, als es mit Wirkung
ab 1. Juni 2006 eine ganze Rente zusprach.
In teilweiser Gutheissung der von der Pensionskasse der St. Galler Gemeinden
hiergegen eingereichten Beschwerde hob das Bundesgericht den angefochtenen
Entscheid auf und wies die Sache an die Vorinstanz zurück, damit sie nach
Einholung einer ergänzenden psychiatrischen Stellungnahme der MEDAS neu über
die Beschwerde entscheide (Urteil 9C_139/2014 vom 6. Oktober 2014).

B. 
In Nachachtung des Urteils des Bundesgerichts vom 6. Oktober 2014 holte das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen eine Stellungnahme des
psychiatrischen Gutachters der MEDAS vom 18. Februar 2015 sowie der Klinik
B.________ vom 15. Mai 2015 und von Dr. med. C.________, Spezialarzt für
Psychiatrie und Psychotherapie, und lic. phil. F.________, Psychotherapeut SPV
& FSP, Klinischer Psychologe SVKP, vom 26. Mai 2015 ein. Gestützt darauf hob es
mit Entscheid vom 31. Juli 2015 die Verfügung vom 16. Dezember 2010 auf und
sprach A.________ ab 1. September 2007 eine ganze Invalidenrente zu.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei ihr ab 1. Juni
2006 eine Rente zuzusprechen. Eventuell sei im Sinne eines obiter dictum
festzustellen, dass die Pensionskasse der St. Galler Gemeinden unabhängig vom
Zeitpunkt der Rentenzusprache durch die Invalidenversicherung
leistungspflichtig sei.

Erwägungen:

1. 
Es kann offen bleiben, ob es sich beim Eventualantrag um ein neues unzulässiges
Begehren im Sinne von Art. 99 Abs. 2 BGG handelt. So oder anders ist nicht
darauf einzutreten, da es an einer Begründung (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG)
mangelt.

2. 
Streitig und zu prüfen ist einzig, ob die Beschwerdeführerin ab 1. Juni 2006,
wie sie geltend macht, oder erst ab 1. September 2007, wie von der Vorinstanz
entschieden, einen Rentenanspruch hat. Dabei stellt sich die Frage, in welchem
Zeitpunkt sie das Wartejahr erfüllt hat.

3.

3.1. Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, wenn sie während eines Jahres
ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 % arbeitsunfähig
(Art. 6 ATSG) gewesen und nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 % invalid
sind (Art. 28 Abs. 1 lit. b und c IVG bzw. alt Art. 29 Abs. 1 lit. a und b IVG
[in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2007]). Die Rentenhöhe ist sowohl vom
Ausmass der nach Ablauf der Wartezeit weiterhin bestehenden Erwerbsunfähigkeit
als auch von einem entsprechend hohen Grad der durchschnittlichen
Arbeitsunfähigkeit während des vorangegangenen Jahres abhängig. Somit kommt
eine ganze Rente erst in Betracht, wenn die Versicherte während eines Jahres
durchschnittlich mindestens zu 70 % arbeitsunfähig gewesen und weiterhin
wenigstens im gleichen Umfang invalid im Sinne von Art. 28 Abs. 2 IVG (alt Art.
28 Abs. 1 IVG) ist (BGE 121 V 264 E. 6a und b S. 272 ff.; Urteil 9C_491/2015
vom 19. Januar 2016 E. 4.2).

3.2. Feststellungen der Vorinstanz zur gesundheitlich bedingten
Arbeitsunfähigkeit (Eintreten, Grad, Dauer, Prognose etc.) betreffen Tatfragen,
soweit sie auf der Würdigung konkreter Umstände beruhen, und sind daher
lediglich unter eingeschränktem Blickwinkel überprüfbar (Art. 97 Abs. 1 BGG
sowie Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG; vgl. BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 f.).

4. 

4.1. Das kantonale Versicherungsgericht stellte fest, dass der psychiatrische
Sachverständige der MEDAS in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 18. Februar
2015 bekräftigt habe, die Beschwerdeführerin sei spätestens ab September 2006
in jeglicher Tätigkeit zu 70 % arbeitsunfähig gewesen. Weiter erkannte es, für
die Zeit davor bestünden Indizien für das Vorliegen einer Einschränkung der
Leistungsfähigkeit in relevantem Ausmass. Es sei davon auszugehen, dass der
Hausarzt Symptome einer erheblichen psychischen Gesundheitsbeeinträchtigung
bemerkt habe, als er die Beschwerdeführerin an einen Psychiater überwiesen
habe. Ferner habe Dr. med. D.________, Arzt für Akupunktur und Homöopathie, in
seinem Bericht vom 30. Mai 2006 erste Symptome wie eine "grosse motorische
Unruhe" und "dauernde Bewegung" beobachtet. Bereits Dr. med. E.________, FMH
Rheumatologie, habe Mitte 2005 über eine psychische Problematik berichtet.
Demgegenüber hätten die Ärzte der Klinik B.________ während der Dauer der
einmonatigen stationären Behandlung im Sommer 2005 (14. Juni bis 14. Juli 2005)
keine psychische Auffälligkeit feststellen können. Desgleichen sei die
Behandlung bei Dr. med. C.________ und lic. phil. F.________ erst im September
2006 aufgenommen worden. Letzterer habe zwar für einen relativ weit
zurückliegenden Zeitraum eine erhebliche psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit
attestiert, worauf aber nicht abgestellt werden könne, da die Einschätzung
dafür unglaubwürdig sei, was auch das Bundesgericht in seinem Urteil 9C_139/
2014 vom 6. Oktober 2014 festgestellt habe. Es liege zwar nahe, dass die
Beschwerdeführerin bereits vor September 2006 psychisch erheblich eingeschränkt
gewesen sei. Die vorliegenden Indizien würden allerdings nicht ausreichen, um
mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit das Ausmass bestimmen
zu können. Weitere Beweismassnahmen stünden keine mehr zur Verfügung, weshalb
diesbezüglich Beweislosigkeit anzunehmen sei. Somit sei eine psychisch bedingte
Arbeitsunfähigkeit erst ab September 2006 ausgewiesen.
Gestützt darauf stellte das kantonale Versicherungsgericht weiter fest, im
September 2006 sei die Beschwerdeführerin noch nicht während eines Jahres
durchschnittlich mindestens 40 % arbeitsunfähig im Sinne von Art. 28 Abs. 1
lit. b IVG (alt Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG) gewesen. Ihr seien kurz nach dem
Unfall vom 2. April 2005 aus somatischer Sicht leidensadaptierte Tätigkeiten
sowie der erlernte Beruf der Zahnarztgehilfin wieder vollumfänglich zumutbar
gewesen. Da die psychisch bedingte Einschränkung der Leistungsfähigkeit nicht
vor September 2006 ausgewiesen sei, habe sie das Wartejahr erst im September
2007 erfüllt.

4.2. Was die Beschwerdeführerin dagegen vorbringt, vermag die vorinstanzlichen
Feststellungen weder als offensichtlich unrichtig noch sonstwie
bundesrechtswidrig erscheinen zu lassen.
Sie begnügt sich in weiten Teilen damit, der vorinstanzlichen Beweiswürdigung
lediglich ihre eigene Ansicht bzw. die Meinung des behandelnden Psychiaters und
Psychotherapeuten gegenüberzustellen, ohne aber klar darzulegen, inwiefern sie
willkürlich (zum Begriff der Willkür: BGE 140 III 16 E. 2.1 S. 18 f. mit
Hinweisen) wäre. Dazu genügt nicht, dass eine andere Lösung ebenfalls in
Betracht fällt oder gar vorzuziehen wäre. Willkür liegt erst vor, wenn der
Entscheid im Ergebnis offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation
im Widerspruch steht oder auf einem offenkundigen Fehler beruht (BGE 127 I 54
E. 2b S. 56; vgl. auch BGE 135 V 2 E. 1.3 S. 4 f.). Dies ist vorliegend nicht
der Fall. Das kantonale Versicherungsgericht verletzte kein Bundesrecht, indem
es ausgehend von der Einschätzung des psychiatrischen Experten gemäss seiner
ergänzenden Stellungnahme vom 18. Februar 2015, wonach er die seit 2005
bestehenden Symptome nicht quantitativ beurteilen und die 70%ige
Arbeitsunfähigkeit erst ab September 2006 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
bestätigen könne, und in Würdigung der weiteren Indizien für den Zeitraum bis
September 2006 Beweislosigkeit bezüglich der psychisch bedingten,
invalidenversicherungsrechtlich relevanten Arbeitsunfähigkeit annahm. Zu keiner
anderen Betrachtungsweise führt die Stellungnahme von Dr. med. C.________ und
lic. phil. F.________ vom 26. Mai 2015. Abgesehen davon, dass es sich bei ihnen
um den behandelnden Psychiater resp. Psychotherapeuten handelt (zum Beweiswert
von Berichten der behandelnden Ärzte BGE 135 V 465 E. 4.5 S. 470 f.), geben sie
retrospektiv eine Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit für einen Zeitraum ab,
der vor ihrem Behandlungsbeginn lag. Worauf ihre Annahmen gründen, erhellt
daraus nicht.
Soweit sich die Beschwerdeführerin in somatischer Hinsicht auf den Umstand
beruft, dass der Unfallversicherer bis zum 31. Dezember 2009 Taggeldleistungen
ausgerichtet habe, ist ihr entgegen zu halten, dass mit rechtskräftiger
IV-Verfügung vom 17. Januar 2006 ein Leistungsanspruch aufgrund einer
leidensadaptiert vollständigen Arbeitsfähigkeit verneint wurde. Abgesehen
davon, dass keine Bindungswirkung der Invalidenversicherung gegenüber dem
Unfallversicherer besteht (BGE 133 V 549), hatten auch die Ärzte der Klinik
B.________ in ihrem Bericht vom 9. August 2005 eine 100 % Arbeitsfähigkeit für
eine leichte wechselbelastende Tätigkeit festgehalten. Die später datierende
Beurteilung der Ärzte der Klinik G.________ vom 27. März 2007 (50 %
arbeitsfähig für leichte wechselbelastende Tätigkeiten) wurde von den
MEDAS-Gutachtern schlüssig entkräftet. Demzufolge ist die Vorinstanz auch
insofern nicht in Willkür verfallen und hat auch sonstwie nicht Bundesrecht
verletzt, als sie eine somatisch bedingte, im Sinne von Art. 28 Abs. 1 lit. b
IVG relevante Arbeitsunfähigkeit bis September 2006 verneinte.
Die Beschwerde ist unbegründet.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Pensionskasse der St. Galler Gemeinden,
dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. Februar 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Trütsch

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