Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 654/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     

{T 0/2}            
9C_654/2015

Urteil vom 10. August 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Williner.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Kurt Pfändler,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 4. August 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1968 geborene A.________ meldete sich im August 2006 wegen einer
Hirnerschütterung und einem Schleudertrauma bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich führte verschiedene
erwerbliche und medizinische Abklärungen durch, namentlich veranlasste sie das
polydisziplinäre Gutachten der Academy of Swiss Insurance Medicine, Basel
(nachfolgend: asim), vom 12. Dezember 2008. Mit Verfügung vom 2. Oktober 2009
verneinte sie den Anspruch auf eine Invalidenrente (Invaliditätsgrad 20 %).
Diese Verfügung erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

Mit Neuanmeldung vom Dezember 2010 ersuchte A.________ erneut um Leistungen der
Invalidenversicherung. Die IV-Stelle tätigte wiederum verschiedene Abklärungen,
insbesondere veranlasste sie das polydisziplinäre Gutachten beim Ärztlichen
Begutachtungsinstitut GmbH, Basel (nachfolgend: ABI), vom 29. Mai 2012. Nach
durchgeführtem Vorbescheidverfahren verneinte die IV-Stelle abermals den
Anspruch auf eine Invalidenrente (Verfügung vom 17. März 2014; Invaliditätsgrad
33 %).

B. 
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 4. August 2015 ab.

C. 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt die Zusprache einer ganzen Invalidenrente. Eventualiter sei die Sache
an die Vorinstanz, subeventualiter an die IV-Stelle zur Einholung eines neuen
Gerichts- bzw. Verwaltungsgutachtens zurückzuweisen.

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2. Bei den gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit bzw. deren Veränderung in einem bestimmten Zeitraum handelt es
sich grundsätzlich um Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Gleiches
gilt für die konkrete Beweiswürdigung (Urteil 9C_204/2009 vom 6. Juli 2009 E.
4.1, nicht publ. in BGE 135 V 254, aber in: SVR 2009 IV Nr. 53 S. 164). Dagegen
ist die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln
nach Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.;
Urteil I 865/06 vom 12. Oktober 2007 E. 4 mit Hinweisen), die das Bundesgericht
im Rahmen der den Parteien obliegenden Begründungs- bzw. Rügepflicht (Art. 42
Abs. 2 BGG und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 140 V 136 E. 1.1 S. 137 f.; 133 II 249
E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei überprüfen kann (Art. 106 Abs. 1 BGG).

2. 
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Rente
der Invalidenversicherung hat. Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen
Bestimmungen und die von der Rechtsprechung dazu entwickelten Grundsätze,
namentlich diejenigen zu den Begriffen der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG in
Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG) und der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), zum
Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 2 IVG) sowie zur Bemessung des
Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der allgemeinen Methode
des Einkommensvergleichs (Art. 28a Abs. 1 IVG und Art. 16 ATSG; BGE 130 V 343
E. 3.4 S. 348 f.) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt in Bezug auf die bei der
Rentenrevision geltenden Grundsätze, welche bei Neuanmeldungen analog Anwendung
finden (Art. 17 Abs. 1 ATSG; Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV; BGE 130 V 71 E. 3.2.3 S.
77). Darauf wird verwiesen.

3. 
Die Vorinstanz mass dem interdisziplinären Gutachten des ABI vom 29. Mai 2012
uneingeschränkten Beweiswert zu. Nach Würdigung der Akten verwarf sie die von
der Beschwerdeführerin dagegen vorgebrachten Einwände. Insbesondere vermöge die
Beschwerdeführerin aus den Angaben der behandelnden Ärzte und der
Privatgutachter, welche durchwegs eine mittelgradige oder gar eine schwere
depressive Episode mit vollständiger Arbeitsunfähigkeit feststellten und
teilweise eine somatoforme Schmerzstörung diagnostizierten, nichts zu ihren
Gunsten abzuleiten.

4. 
Was die Beschwerdeführerin dagegen vorbringt, vermag nicht durchzudringen:

4.1. Die in der Beschwerde behauptete Verletzung der Ansprüche auf ein faires
Verfahren und auf rechtliches Gehör werden mit keinem Wort begründet (vgl. Art.
42 Abs. 1 und 2 BGG). Es erübrigen sich Ausführungen dazu.

4.2. Die Beschwerdeführerin weist zu Recht darauf hin, dass das Gutachten des
ABI vom 29. Mai 2012 nach altem Verfahrensstandard - d.h. ohne die Gewährung
der Beteiligungsrechte gemäss BGE 137 V 210 - eingeholt wurde, weshalb bereits
relativ geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit genügten, um
eine neue Begutachtung anzuordnen (BGE 139 V 99 E. 2.3.2 S. 103). Indessen
vermag sie solche nicht  konkret darzulegen. Insoweit sie stattdessen bloss auf
ihre Ausführungen in anderen Rechtsschriften verweist, genügt dies den
Begründungsanforderungen nicht (vgl. BGE 141 V 416 E. 4 S. 421). Untauglich ist
der Hinweis, das Gutachten des ABI erlaube keine schlüssige Beurteilung im
Lichte der Indikatoren gemäss der mit BGE 141 V 281 geänderten Rechtsprechung.
Die Beschwerdeführerin verkennt, dass die Gutachter des ABI weder eine
somatoforme Schmerzstörung noch ein vergleichbares psychosomatisches Leiden
diagnostiziert haben, weshalb die in Bezug darauf mit dem genannten Urteil
grundsätzlich überdachte und teilweise geänderte Rechtsprechung im vorliegenden
Fall nicht von Belang ist.

Die Argumentation in der Beschwerdeschrift läuft im Wesentlichen auf eine nur
in beschränktem Rahmen (vgl. E. 1.2 hievor) zulässige Überprüfung der
vorinstanzlichen Beweiswürdigung hinaus (vgl. nachfolgend E. 4.3). Dass
indessen das Gutachten des ABI vom 29. Mai 2012 die rechtsprechungsgemässen
Anforderungen an eine beweiskräftige Expertise (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232;
125 V 351 E. 3 S. 352) nicht erfüllte, macht die Beschwerdeführerin nicht
substanziiert geltend.

4.3. Das kantonale Gericht hat in umfassender Würdigung der medizinischen
Akten, insbesondere der beiden Gutachten der asim vom 12. Dezember 2008 und des
ABI vom 29. Mai 2012, für das Bundesgericht verbindlich festgestellt, die
Beschwerdeführerin sei in einer den Leiden angepassten Tätigkeit zu 80 %
arbeitsfähig. Die Vorbringen der Beschwerdeführerin beschränken sich auf die
Darlegung ihrer eigenen, von der Vorinstanz abweichenden Beweiswürdigung und
Darstellung ihrer gesundheitlichen Verhältnisse, was nicht genügt. Inwiefern
die vorinstanzlichen Schlussfolgerungen indessen offensichtlich unrichtig oder
sonstwie bundesrechtswidrig sein sollen (vgl. E. 1.1 hievor), legt sie nicht
substanziiert dar. Eine solche Darlegung gelingt namentlich nicht mit dem
blossen Hinweis, behandelnde Ärzte hätten (teilweise) von den Gutachtern
abweichende Diagnosen gestellt. Dies umso weniger, als sich die Gutachter des
ABI explizit mit den divergierenden Diagnosen auseinandergesetzt und
insbesondere dargelegt haben, weshalb ihrer Auffassung nach auch im zweiten
Gutachtenszeitpunkt weder eine somatoforme Schmerzstörung noch eine schwere
depressive Episode vorgelegen haben. Hinzu kommt, dass die Beschwerdeführerin
ihre Rügen weitestgehend auf Berichte stützt, welche zwar (teilweise)
abweichende Diagnosen stellen, diese ihrerseits aber nicht zu begründen
vermögen:

4.3.1. Dr. med. B.________, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, welche die
Beschwerdeführerin seit 2007 behandelt, diagnostizierte im Verlaufsbericht vom
8. März 2012 unter anderem eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10
Ziff. F45.4). Sie stellte einerseits die Schmerzen der Beschwerdeführerin im
Nacken-, Schulter- und Fussbereich (Hallux valgus) sowie Kopfschmerzen - welche
nachvollziehbar seien -, als Diagnosebestandteil der anhaltenden somatoformen
Schmerzstörung dar. Zusätzlich erwähnte die Psychiaterin, diese Schmerzen
würden immer wieder zu Notfallbehandlungen im Spital C.________ führen, auf
deren Akutinterventionen die Schmerzen in der Regel auch besserten. Betreffend
das Erfordernis der Diagnose von ICD-10 Ziff. F45.4, wonach der Schmerz in
Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Problemen auftritt,
führte Dr. med. B.________ an, der wichtigste Wert der Versicherten, autonom zu
sein, etwas selbständig zu schaffen versus die Abhängigkeit in allen sozialen
Belangen stelle ein ausreichender innerpsychischer Konflikt dar, der zur
Entwicklung einer solchen Somatisierungsstörung führen könne.
Diese Einschätzungen der langjährig behandelnden Psychiaterin vermögen
diejenigen der Gutachter, welche eine psychische Vulnerabilität aufgrund von
früheren Stressfaktoren bzw. eine emotionale Konflikthaftigkeit verneinten, aus
verschiedenen Gründen nicht zu erschüttern: Abgesehen davon, dass gegenüber
Berichten von behandelnden Ärzten Zurückhaltung geboten ist - deren primärer
Auftrag ist die Behandlung, nicht die objektive Begutachtung (für viele: Urteil
9C_753/2013 vom 12. Februar 2014 E. 4.4) -, verlangt die Diagnose der
anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, dass der Schmerz  auftritt in
Verbindung mit emotionalen Konflikten. Demgegenüber stellt nach den
Ausführungen der Ärztin der Verlust einer Autonomie - die  Folge der Schmerzen
 - dar. Aus deren Berichten ist kein Hinweis auf (schmerzauslösende)
psychosoziale Probleme im Sinne des genannten Diagnoseerfordernisses zu
entnehmen. Fraglich ist schliesslich, ob das Erfordernis von anhaltenden
quälenden Schmerzen als erfüllt betrachtet werden kann, wenn Akutinterventionen
die Schmerzzustände in der Regel auch zu verbessern vermögen.

4.3.2. Nichts anderes gilt in Bezug auf die von Dr. med. B.________
diagnostizierte andauernde Persönlichkeitsstörung bei chronischem
Schmerzsyndrom (ICD-10 Ziff. F62.80). Der Bericht vom 8. März 2012, auf welchen
sich die Beschwerdeführerin beruft, hält zur Begründung einzig fest, es müsse
differentialdiagnostisch auch an eine Persönlichkeitsstörung gedacht werden,
werde die Versicherte doch von der Familie im Gegensatz zur Zeit vor den
Unfällen als im Charakter und Naturell gänzlich verändert erlebt. Weitere
Ausführungen diesbezüglich fehlen. Darauf, dass Gutachter nicht von sich aus
sämtliche erdenklichen - oder von einer behandelnden Ärztin angedachten -
Diagnosen zu prüfen haben, hat die Vorinstanz bereits hingewiesen.

4.4. Insofern die Beschwerdeführerin schliesslich behauptet, die Vorinstanz
übergehe die Tatsache, dass "eine ganze Reihe von Fachärzten" eine schwere
depressive Episode diagnostiziert und begründet hätten, vermag sie daraus
ebenfalls nichts zu ihren Gunsten abzuleiten. Wie sie unter Hinweis auf das
Urteil 8C_567/2010 vom 19. November 2010 E. 3.3.2 selber festhält kann es nicht
angehen, medizinische Expertisen stets dann in Frage zu stellen, wenn die
behandelnden Ärzte nachher zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangen oder an
vorgängig geäusserten abweichenden Auffassungen festhalten. Dass die
behandelnden Ärzte - wie die Beschwerdeführerin behauptet - objektiv
feststellbare Gesichtspunkte vorgebracht hätten, welche im Rahmen der
psychiatrischen Begutachtung des ABI unerkannt geblieben sind und geeignet
sind, zu einer abweichenden Beurteilung zu führen, legt sie indes nicht dar.
Sie beschränkt sich stattdessen im Wesentlichen auf den zum Vornherein
untauglichen Hinweis, die Gutachter des ABI hätten als einzige keine schwere
depressive Episode diagnostiziert sowie auf die blosse Behauptung, der
psychiatrische Gutachter habe sich nicht seriös mit den gestellten Diagnosen
der behandelnden Ärzte auseinandergesetzt (vgl. dazu E. 4.3 hievor).

5. 
Der Einkommensvergleich, der zu einem rentenausschliessenden Invaliditätsgrad
von 33 % führt, ist unbestritten, weshalb sich diesbezügliche Weiterungen
erübrigen. Die Beschwerde ist unbegründet.

6. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. August 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Williner

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