Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 639/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_639/2015

Urteil vom 14. Juni 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber Williner.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsdienst Inclusion Handicap,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
11. August 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1961 geborene A.________ meldete sich im April 2013 wegen einer Erkrankung
an Brustkrebs bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die
IV-Stelle des Kantons Aargau kam für verschiedene Hilfsmittel auf und sprach
der Versicherten bei einem Invaliditätsgrad von 100 % ab dem 1. Februar 2014
eine ganze Invalidenrente zu (Verfügung vom 15. Oktober 2014).

Im März 2014 war A.________ erneut an die IV-Stelle gelangt und hatte um
Ausrichtung einer Hilflosenentschädigung sowie eines Assistenzbeitrags ersucht.
Die Verwaltung veranlasste Abklärungen an Ort und Stelle (Berichte vom 23. Juli
2014) und sprach der Versicherten nach durchgeführten Vorbescheidverfahren
einen Assistenzbeitrag von monatlich Fr. 843.95 ab März 2014 (Verfügung vom 11.
November 2014) sowie eine Entschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades ab
April 2014 zu (Verfügung vom 25. November 2014).

B. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau vereinigte die beiden dagegen
erhobenen Beschwerden und wies diese mit Entscheid vom 11. August 2015 ab.

C. 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt die Zusprechung einer Entschädigung wegen Hilflosigkeit
mittelschweren Grades sowie die Neuberechnung des Assistenzbeitrages. In
verfahrensmässiger Hinsicht ersucht sie um unentgeltliche Prozessführung.

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2. Die richtige Auslegung und Anwendung des Rechtsbegriffs der Hilflosigkeit,
die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach
Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG sowie der Anforderungen an den
Beweiswert von Abklärungsberichten an Ort und Stelle beschlagen Rechtsfragen,
die vom Bundesgericht frei zu prüfen sind (Art. 95 lit. a BGG). Die auf
medizinische Abklärungen und auf einen Abklärungsbericht vor Ort gestützten
gerichtlichen Feststellungen über Einschränkungen der versicherten Person in
bestimmten Lebensverrichtungen betreffen demgegenüber Sachverhaltsfragen (BGE
132 V 393 E. 3.2 S. 398 f.; SVR 2011 IV Nr. 11 S. 29, 9C_410/2009 E. 3).
Tatsächlicher Natur ist auch die konkrete Beweiswürdigung (Urteil 9C_204/2009
vom 6. Juli 2009 E. 4.1, nicht publ. in: BGE 135 V 254, aber in: SVR 2009 IV
Nr. 53 S. 164).

2.

2.1. Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen und die von der
Rechtsprechung dazu entwickelten Grundsätze, namentlich diejenigen zum Anspruch
auf Hilflosenentschädigung (Art. 9 ATSG; Art. 42 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 37
IVV), zu den massgebenden sechs alltäglichen Lebensverrichtungen sowie zum
Tatbestand der lebenspraktischen Begleitung (Art. 42 Abs. 3 IVG; Art. 37 Abs. 3
lit. e und Art. 38 IVV; BGE 133 V 450) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt in
Bezug auf den Anspruch auf einen Assistenzbeitrag (Art. 42 ^quater Abs.1 IVG)
sowie dessen Umfang (Art. 42 ^sexies IVG; Art. 39c IVV). Darauf wird verwiesen.

2.2. Zu ergänzen ist, dass die lebenspraktische Begleitung
rechtsprechungsgemäss weder die (direkte oder indirekte) "Dritthilfe bei den
sechs alltäglichen Lebensverrichtungen" noch die Pflege oder Überwachung
beinhaltet. Vielmehr stellt sie ein zusätzliches und eigenständiges Institut
der Hilfe dar (BGE 130 V 450; SVR 2009 IV Nr. 23 S. 65, 9C_18/2008 E. 2.3). Die
lebenspraktische Begleitung ist dabei nicht auf Menschen mit psychischen oder
geistigen Behinderungen beschränkt; auch körperlich Behinderte können
grundsätzlich lebenspraktische Begleitung beanspruchen (SVR 2008 IV Nr. 26 S.
79, I 317/06 E. 4). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist sodann die
vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) in Rz. 8048 des Kreisschreibens
über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH)
vorgenommene Abgrenzung zwischen Hilflosenentschädigung und lebenspraktischer
Begleitung gesetzes- und verordnungskonform (Urteil 9C_691/2014 vom 11.
Dezember 2014 E. 4.2).

3.

3.1. Die Vorinstanz hat dem Abklärungsbericht Hilflosenentschädigung vom 23.
Juli 2014 sowie dem gleichentags mit dem standardisierten Abklärungsinstrument
"FAKT2" erstellten Abklärungsbericht Assistenzbeitrag Beweiskraft beigemessen.
Gestützt darauf hat sie erwogen, die Beschwerdeführerin habe Anspruch auf eine
Entschädigung wegen leichter Hilflosigkeit, weil sie in der Lebensverrichtung
"Essen" seit April 2013 regelmässig in erheblicher Weise der Dritthilfe bedürfe
und sie dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen sei. Weiter habe sie
- ausgehend von einer leichten Hilflosigkeit sowie von einem monatlichen
Assistenzbedarf von 25.73 Stunden - Anspruch auf einen Assistenzbeitrag in Höhe
von Fr. 843.95.

3.2. Die Beschwerdeführerin stellt den Beweiswert der Berichte vom 23. Juli
2014 (vgl. dazu BGE 133 V 450 E. 11.1.1 S. 468) zu Recht nicht in Abrede.
Indessen rügt sie eine ungenügende Sachverhaltsfeststellung durch das kantonale
Gericht, weil dieses eine im Abklärungsbericht Hilflosenentschädigung
festgestellte zusätzliche Hilfsbedürftigkeit im Bereich "Fortbewegung"
fälschlicherweise durch die gleichzeitige Anerkennung eines Bedarfs an
lebenspraktischer Begleitung als abgegolten betrachtet habe. Dies sei
unzulässig, da eine Einschränkung der Fortbewegung aus rein körperlichen
Gründen immer eine eigenständige, nicht durch die lebenspraktische Begleitung
abgegoltene Einschränkung im Lebensbereich Fortbewegung darstelle. Aufgrund der
resultierenden mittelschweren Hilfsbedürftigkeit sei zudem der Assistenzbeitrag
neu zu berechnen, weil der monatliche Höchstansatz an anrechenbarem Hilfsbedarf
höher sei als bei leichter Hilflosigkeit.

4.

4.1. Die lebenspraktische Begleitung stellt zwar ein eigenständiges Institut
der Hilfe dar (vgl. E. 2.2 hievor). Dies bedeutet indes nicht, dass jene
Tätigkeiten, welche unter dem Gesichtspunkt der Hilfsbedürftigkeit bei den
sechs alltäglichen Lebensverrichtungen relevant sind, grundsätzlich nicht
Regelungsgegenstand des Instituts der lebenspraktischen Begleitung sein können.
Vielmehr lassen sich Überschneidungen bei den beiden Instituten
rechtsprechungsgemäss nicht verhindern (Urteil 9C_691/2014 vom 11. Dezember
2014 E. 4.1 mit Hinweis auf 9C_135/2014 vom 14. Mai 2014 E. 4.3.1). In Bezug
auf solche Überschneidungen hält Rz. 8048 KSIH unter Hinweis auf das genannte
Urteil 9C_691/2014 unmissverständlich fest, dass gleiche Hilfestellungen nur
einmal - wobei die Hilfe bei der Pflege gesellschaftlicher Kontakte explizit
als Beispiel genannt wird - berücksichtigt werden dürfen. Dass dieses Verbot
einer Doppelberücksichtigung, wie die Beschwerdeführerin einzig unter Hinweis
auf Rz. 8024 KSIH behauptet, nur bei Einschränkungen der Fortbewegung aus
psychischen Gründen gilt, geht weder aus dem Kreisschreiben hervor noch
erscheint eine solche Ungleichbehandlung psychischer und physischer
Einschränkungen statthaft. Die Beschwerdeführerin verkennt, dass Rz. 8024 KSIH
lediglich festhält, dass diejenige Kontaktpflege, welche - insbesondere bei
psychisch behinderten Personen - zur Vorbeugung einer dauernden Isolation
erfolgt, ausschliesslich Regelungstatbestand des Instituts der
lebenspraktischen Begleitung ist. Demgegenüber erfasst die Hilfe bei der
Teilfunktion "Pflege gesellschaftlicher Kontakte" nur die zwischenmenschlichen
Beziehungen, wie sie der Alltag mit sich bringt (vgl. Rz. 8023 KSIH; Urteil
8C_994/2010 vom 20. Juni 2011 E. 5.1 mit Hinweisen). Dass die
Beschwerdeführerin einer Kontaktpflege zur Vorbeugung einer dauernden Isolation
bedürfte, macht sie indes zu Recht nicht geltend (vgl. nachfolgend E. 4.2).

4.2. Wie die Beschwerdeführerin selber einräumt, ist es ihr im Haus mit
Rollstuhl und Gehstöcken möglich, sich fortzubewegen. Eine Hilfsbedürftigkeit
im Bereich "Fortbewegung" liegt diesbezüglich nicht vor und wird von der
Beschwerdeführerin auch nicht behauptet. In Bezug auf die ausserhäuslichen
Aktivitäten hat die Vorinstanz unter Hinweis auf den Abklärungsbericht
Hilflosenentschädigung vom 23. Juli 2014 für das Bundesgericht verbindlich
(vgl. E. 1 hievor) festgestellt, die Beschwerdeführerin könne solche nur noch
in Begleitung einer Drittperson wahrnehmen. Wie das kantonale Gericht richtig
erwogen hat, wird diese Hilfestellung indessen bereits durch die
lebenspraktische Begleitung berücksichtigt. Auf eine solche ist die
Beschwerdeführerin gemäss Abklärungsbericht angewiesen, weil seit April 2013
Begleit- und Fahrdienste für Besuche beim Arzt, Zahnarzt, Coiffeur, bei der
Tochter und Kollegen, sowie für Psychotherapie und Einkäufe notwendig sind.
Diese Hilfestellungen betreffen gesellschaftliche Kontakte, wie sie der Alltag
mit sich bringt (vgl. E. 4.1 hievor). Sie gehören damit (auch) zum
Regelungstatbestand der alltäglichen Lebensverrichtung "Fortbewegung" und
dürfen gemäss Rz. 8048 KSIH nur einmal - d.h. entweder als Hilfe bei der
Teilfunktion der alltäglichen Lebensverrichtung oder als lebenspraktische
Begleitung - berücksichtigt werden.

4.3. Nach dem Gesagten ist die Vorinstanz zu Recht von einer leichten
Hilflosigkeit ausgegangen. Damit erübrigen sich Weiterungen zur beantragten
Neuberechnung des Assistenzbeitrags, beschränken sich die diesbezüglichen Rügen
der Beschwerdeführerin doch auf den Hinweis, der Assistenzbeitrag hänge Art.
39e IVV folgend von der Schwere der Hilflosigkeit ab. Der im Abklärungsbericht
Assistenzbeitrag vom 23. Juli 2014 errechnete und dem angefochtenen Entscheid
zu Grunde gelegte monatliche Assistenzbedarf von 25.73 Stunden wird indes nicht
gerügt. Zu einer nähere Prüfung besteht kein Anlass.

5. 
Umständehalber wird auf die Erhebung von Gerichtskosten verzichtet (Art. 66
Abs. 1 BGG), womit das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der
Befreiung der Gerichtskosten) gegenstandslos wird. Über die Bestellung eines
unentgeltlichen Rechtsbeistandes im Sinne von Art. 64 Abs. 2 BGG ist indes
nicht zu befinden, da als solche nur patentierte Anwältinnen und Anwälte
zugelassen sind.
 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. Juni 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Williner

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