Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 636/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]            
9C_636/2015   {T 0/2}     

Urteil vom 2. Februar 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Michael Ausfeld,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Bern,
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 15. Juli 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1966 geborene A.________ meldete sich im April 2012 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern gewährte ihr im
Rahmen der Frühintervention eine vom 11. März 2013 bis 15. März 2014 dauernde
Beschäftigungsmassnahme. Nach Abklärungen und Durchführung des
Vorbescheidverfahrens verneinte sie mit Verfügung vom 6. Januar 2015 einen
weiteren Leistungsanspruch.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 15. Juli 2015 ab.

C. 
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
beantragen, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei die Sache zu neuer
Entscheidung an das kantonale Gericht zurückzuweisen. Ferner ersucht sie um
unentgeltliche Rechtspflege.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1. 
Gegenstand der Verfügung vom 6. Januar 2015 war lediglich der Anspruch auf eine
Invalidenrente: Die IV-Stelle wies zutreffend darauf hin, dass die beruflichen
Eingliederungsmassnahmen im Juni 2013 abgeschlossen worden seien. In der
entsprechenden Mitteilung vom 28. Juni 2013hatte sie denn auch auf die
Möglichkeit eines neuen Gesuchs verwiesen, welches indessen nicht aktenkundig
ist. Demzufolge hat das kantonale Gericht zu Recht ebenfalls einzig den
Anspruch auf eine Invalidenrente beurteilt (vgl. BGE 131 V 164 E. 2.1 S. 164
f.; 125 V 413 E. 1 S. 414 f.).

2.

2.1. Das Bundesgericht befasste sich im Leiturteil BGE 141 V 281 einlässlich
mit der Rechtsprechung zu den anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen (BGE
130 V 352) und damit vergleichbaren psychosomatischen Leiden (vgl. BGE 140 V 8
E. 2.2.1.3 S. 13 f.). Es entschied, die Überwindbarkeitsvermutung aufzugeben
und das bisherige Regel/Ausnahme-Modell durch einen strukturierten normativen
Prüfungsraster zu ersetzen. Danach sind für die Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit bei den genannten Gesundheitsschäden systematisierte
Indikatoren beachtlich, die erlauben - unter Berücksichtigung
leistungshindernder äusserer Belastungsfaktoren einerseits und
Kompensationspotentialen (Ressourcen) anderseits - das tatsächlich erreichbare
Leistungsvermögen einzuschätzen (BGE 141 V 281 E. 2 S. 285 ff.,    E. 3.4-3.6
und 4.1 S. 291 ff.).

2.2. Nach BGE 141 V 281 E. 8 S. 309 ist in intertemporalrechtlicher Hinsicht
sinngemäss wie in BGE 137 V 210 (betreffend die rechtsstaatlichen Anforderungen
an die medizinische Begutachtung) vorzugehen. Nach diesem Entscheid verlieren
gemäss altem Verfahrensstandard eingeholte Gutachten nicht per se ihren
Beweiswert. Vielmehr ist im Rahmen einer gesamthaften Prüfung des Einzelfalls
mit seinen spezifischen Gegebenheiten und den erhobenen Rügen entscheidend, ob
ein abschliessendes Abstellen auf die vorhandenen Beweisgrundlagen vor
Bundesrecht standhält (BGE 137 V 210 E. 6 in initio S. 266). In sinngemässer
Anwendung auf die nunmehr materiell-beweisrechtlich geänderten Anforderungen
ist in jedem einzelnen Fall zu prüfen, ob die beigezogenen administrativen und/
oder gerichtlichen Sachverständigengutachten - gegebenenfalls im Kontext mit
weiteren fachärztlichen Berichten - eine schlüssige Beurteilung im Lichte der
massgeblichen Indikatoren erlauben oder nicht. Je nach Abklärungstiefe und
-dichte kann unter Umständen eine punktuelle Ergänzung genügen. Allenfalls ist
aber eine umfassende (mono- oder multidisziplinäre) neue Expertise erforderlich
(vgl. etwa Urteile 9C_615/2015 vom 12. Januar 2016 E. 6.3; 8C_566/2015 vom 22.
Dezember 2015 E. 6.2; 9C_148/2015 vom 16. November 2015 E. 5.2).

3. 
Die Vorinstanz hat dem Gutachten des Ärztlichen Begutachtungsinstitutes (ABI)
vom 1. September 2014 Beweiskraft beigemessen. Sie hat es auch mit Blick auf
die (geänderte) Rechtsprechung von BGE 141 V 281 für schlüssig gehalten: Soweit
tatsächlich vom Vorliegen einer somatoformen Schmerzstörung auszugehen sei,
führe die Beurteilung anhand der Standardindikatoren zum Schluss, dass
funktionelle Auswirkungen nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
nachgewiesen seien. Gestützt auf das ABI-Gutachten hat das kantonale Gericht
eine uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit in der angestammten und jeder anderen,
höchstens mittelschwer belastenden Tätigkeit mit mittelstarker Rückenbelastung
festgestellt. In der Folge hat es dennoch, und zwar in Bezug auf generell
zumutbare Tätigkeiten, eine Invaliditätsbemessung vorgenommen. Dabei hat es das
Valideneinkommen auf Fr. 63'296.- und das Invalideneinkommen auf Fr. 43'725.-
festgelegt. Beim maximal resultierenden Invaliditätsgrad von 31 % hat es einen
Rentenanspruch verneint (Art. 28 Abs. 2 IVG).

4. 

4.1. Die Beschwerdeführerin rügt in formeller Hinsicht eine Verletzung ihres
Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV). Dieser besteht und ist zu
gewähren, wenn eine Behörde ihren Entscheid mit einer Rechtsnorm oder einem
Rechtsgrund zu begründen beabsichtigt, die im bisherigen Verfahren nicht
herangezogen wurden, auf die sich die beteiligten Parteien nicht berufen haben
und mit deren Erheblichkeit im konkreten Fall sie nicht rechnen konnten (BGE
128 V 272       E. 5b/bb S. 278; Urteil 9C_880/2014 vom 6. November 2015 E.
3.2.1).

4.2. Die angefochtene Verfügung vom 6. Januar 2015 erging unter Geltung der
nunmehr aufgehobenen (vgl. E. 2.1) Rechtsprechung von BGE 130 V 352. Die
Vorinstanz führte unter dieser Prämisse einen zweifachen Schriftenwechsel durch
und nahm die Schlussbemerkungen der Parteien vom 1. und 9. Juni 2015 zu den
Akten.
Das Bundesgericht erliess das Urteil 9C_492/2014 (BGE 141 V 281) am 3. Juni
2015 und veröffentlichte es am 17. Juni 2015 auf seiner Webseite. Damit wurden
Umstände rechtlich bedeutsam, welche die Verwaltung - wie auch die Versicherte
- aufgrund der bei Erlass der angefochtenen Verfügung geltenden Praxis nicht
festzustellen bzw. zu würdigen brauchte (vgl. Urteil 9C_822/2014 vom 29.
Oktober 2015    E. 2). Bereits am 15. Juli 2015 erliess die Vorinstanz den
angefochtenen Entscheid, ohne den Parteien zuvor (explizit) Gelegenheit gegeben
zu haben, aufgrund des Grundsatzurteils BGE 141 V 281 allfällige Ergänzungen
anzubringen.

4.3. Allenfalls dürfte von einer anwaltlich vertretenen Partei erwartet werden
(vgl. Art. 5 Abs. 3 BV), dass sie resp. ihr Rechtsvertreter um eine Änderung
der Rechtsprechung weiss und mit diesbezüglichen Ergänzungen aus eigenem
Antrieb während eines laufenden Beschwerdeverfahrens an die angerufene
Rechtsmittelinstanz gelangt. Auch wenn dem so wäre, müsste dennoch nicht damit
gerechnet werden, dass der Beschwerdeentscheid, in dem eine grundlegend neue
Rechtspraxis von zentraler Bedeutung ist, schon vier Wochen nach Bekanntwerden
der Praxisänderung getroffen wird, zumal diese Zeitspanne kürzer als die im
fraglichen Verfahren geltende Rechtsmittelfrist (vgl. Art. 60 ATSG) ist.
Demnach war es in concreto der Versicherten verwehrt, vor Erlass des
angefochtenen Entscheids den geltend gemachten Leistungsanspruch mit Blick auf
BGE 141 V 281    (E. 2.1) resp. die Notwendigkeit einer erneuten Begutachtung
(E. 2.2) zu begründen. Die Vorinstanz hat den hier interessierenden (E. 1)
Leistungsanspruch im Wesentlichen - und angesichts der im ABI-Gutachten
aufgeführten Diagnosen grundsätzlich zu Recht - im Lichte der Rechtsprechung
von BGE 141 V 281 beurteilt. Weil sie den Parteien dazu das rechtliche Gehör
nicht gewährt hatte, rechtfertigt es sich, die Sache an sie zurückzuweisen,
damit sie dies nachhole und anschliessend über die Beschwerde neu entscheide.

4.4. Bei dieser Sachlage erübrigt es sich zum heutigen Zeitpunkt, die von der
Beschwerdeführerin vorgebrachten Einwände materieller Natur zu prüfen.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern vom 15. Juli 2015 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung
im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 2. Februar 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Dormann

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