Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 634/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]               
{T 0/2}
                             
9C_634/2015, 9C_665/2015

Urteil vom 15. März 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
9C_634/2015
A.________,
vertreten durch Advokat Daniel Levy,
Beschwerdeführer,

gegen

Personalvorsorge der Firma B.________ AG, c/o Firma B.________ AG,
vertreten durch Advokat Philipp A. d'Hondt,
Beschwerdegegnerin,

und

9C_665/2015
Personalvorsorge der Firma B.________ AG, c/o Firma B.________ AG,
vertreten durch die Rechtsanwälte Daniel Staehelin und/oder Philipp A. d'Hondt,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Advokat Daniel Levy,
Beschwerdegegner,

IV-Stelle Basel-Landschaft, Hauptstrasse 109, 4102 Binningen.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(Invalidenrente; Kürzung),

Beschwerden gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, vom 23. April 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________ wurde am.... von der Firma C.________ AG aufgrund des Vorwurfs des
Diebstahls bzw. der Veruntreuung am Arbeitsplatz mit sofortiger Wirkung
fristlos entlassen. Im Dezember 2004 meldete er sich bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügungen vom 12. August
2009 sprach ihm die IV-Stelle Basel-Landschaft ab 1. Oktober 2004 eine ganze
Invalidenrente samt zwei Kinderrenten zu, was das Kantonsgericht
Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, in Abweisung der
Beschwerde der Personalvorsorge der Firma B.________ AG mit Entscheid vom 18.
Juni 2010 bestätigte. Dieses Erkenntnis hob das Bundesgericht mit Urteil 9C_785
/2010 vom 10. Juni 2011 auf und wies die Sache an das Kantonsgericht zu neuer
Entscheidung im Sinne der Erwägungen zurück.
Im Urteil vom 13. September 2011 stellte das Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Zivilrecht, die Rechtmässigkeit der fristlosen Auflösung des
Arbeitsverhältnisses mit A.________ durch die Firma C.________ AG fest.

Mit Verfügung vom 14. September 2011 sistierte die IV-Stelle die Rente wegen
Verdachts auf einen unrechtmässigen Leistungsbezug.

B. 
Nach Eingang des bei der asim (Academy of Swiss Insurance Medicine,
Universitätsspital Basel) in Auftrag gegebenen psychiatrischen Gutachtens vom
31. Dezember 2013, wozu die Verfahrensbeteiligten Stellung nehmen konnten,
hiess das Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht,
mit Entscheid vom 23. April 2015 die Beschwerde der Personalvorsorge der Firma
B.________ AG in dem Sinne teilweise gut, dass es die Verfügungen vom 12.
August 2009 aufhob und feststellte, A.________ habe mit Wirkung ab 1. Oktober
2004 Anspruch auf eine um 50 % gekürzte ganze Invalidenrente und auf zwei
ungekürzte Kinderrenten (Dispositiv-Ziffer 1).

C.

C.a. A.________ hat Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
eingereicht, mit welcher er zur Hauptsache beantragt, der Entscheid vom 23.
April 2015 sei teilweise abzuändern bzw. aufzuheben und die IV-Stelle
anzuweisen, ihm ab 1. Oktober 2004 eine ungekürzte, allenfalls eine um maximal
10 % gekürzte ganze Invalidenrente und zwei ungekürzte Kinderrenten
auszurichten, wobei bereits erbrachte Leistungen anzurechnen seien, unter
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege (Verfahren 9C_634/2015).

Auch die Personalvorsorge der Firma B.________ AG hat eine Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten eingereicht mit den Rechtsbegehren, der
Entscheid vom 23. April 2015 und die Verfügungen vom 12. August 2009 seien
aufzuheben, eventualiter sei die Sache für weitere Abklärungen und zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Verfahren 9C_665/2015).

C.b. Die Personalvorsorge der Firma B.________ AG (nachfolgend:
Vorsorgeeinrichtung) im Verfahren 9C_634/2015 und A.________ (nachfolgend:
Versicherter) im Verfahren 9C_665/2015 beantragen jeweils die Abweisung der
Beschwerde der Gegenpartei. Die IV-Stelle Basel-Landschaft ersucht - mit
identischer Begründung - um Abweisung der Beschwerde des A.________ und
Gutheissung derjenigen der Personalvorsorge der Firma B.________ AG. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerden richten sich gegen denselben letztinstanzlichen kantonalen
Entscheid. Es liegt ihnen der nämliche Sachverhalt zu Grunde und es stellen
sich weitgehend die gleichen Tat- und Rechtsfragen. Es rechtfertigt sich daher,
die Verfahren 9C_634/2015 und 9C_665/2015 zu vereinigen und in einem einzigen
Urteil zu erledigen (vgl. Art. 24 BZP i.V.m. Art. 71 BGG).

2. 
Die Vorsorgeeinrichtung hat neu zwei am 15. Januar 2010 und 22. November 2013
Online-gestellte Zeitungsartikel eingereicht. Dabei handelt es sich um
zulässige (unechte) Noven im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG, da sie der
Bestreitung der für das Vorliegen eines invalidisierenden Gesundheitsschadens
bedeutsamen Feststellung der Vorinstanz dienen, wonach es unwahrscheinlich sei,
dass ein Versicherter seine Beeinträchtigung über lange Jahre simuliere (Urteil
9C_748/2014 vom 14. April 2015 E. 2.1).

3. 
Der Versicherte rügt, die Vorinstanz sei sinngemäss in Verkennung des
materiellen Gehalts des Urteils 9C_785/2010 vom 10. Juni 2011 davon
ausgegangen, sie sei verpflichtet, unter den gegebenen Umständen gestützt auf
Art. 21 Abs. 1 ATSG eine Kürzung der Invalidenrente vorzunehmen. Es bestehe
diesbezüglich ein Entschliessungsermessen der IV-Stelle.

3.1. Dispositiv-Ziffer 1 des Urteils 9C_785/2010 vom 10. Juni 2011 hob den
Entscheid der Vorinstanz vom 18. Juni 2010 auf und wies die Sache an diese
zurück, damit sie es über den Anspruch des Versicherten auf eine Rente der
Invalidenversicherung im Sinne der Erwägungen neu entscheide.
Erlässt das Bundesgericht einen Rückweisungsentscheid "im Sinne der
Erwägungen", sind im zweiten Umgang die untere Instanz, an welche die Sache
zurückgewiesen wird, wie auch es selber an die darin enthaltenen rechtlichen
Vorgaben gebunden (Art. 61 BGG). Die Tragweite des Entscheids ergibt sich aus
seiner Begründung, die in Verbindung mit den Rechtsschriften, die ihm zugrunde
lagen, den Rahmen für die neuen Tatsachenfeststellungen wie für die neue
rechtliche Begründung vorgibt (Urteil 2C_570/2015 vom 20. Januar 2016 E. 1.1
mit Hinweisen).

3.2.

3.2.1. Streitgegenstand des mit Urteil 9C_785/2010 vom 10. Juni 2011
abgeschlossenen Verfahrens war die von der IV-Stelle mit Verfügungen vom 12.
August 2009 zugesprochene ganze Rente (samt zwei Kinderrenten) ab 1. Oktober
2004. Die Beschwerde führende Vorsorgeeinrichtung hatte geltend gemacht, nach
Art. 28 Abs. 2 IVG (Grad der Invalidität) und auch nach Art. 21 Abs. 1 ATSG
(Kürzung und Verweigerung von Leistungen) bestehe kein Rentenanspruch. Dabei
handelt es sich um zwei verschiedene rechtliche Begründungen im Rahmen
desselben Streitgegenstandes "Rente" (BGE 136 V 362; 125 V 413 E. 2b S. 216).

Das Bundesgericht bejahte im Gegensatz zur Vorinstanz unter bestimmten
tatsächlichen Voraussetzungen die Verwertbarkeit der Videoaufnahmen als
Beweismittel, um den Sachverhalt in Bezug auf die dem Versicherten
vorgeworfenen Vermögensdelikte (Diebstahl, Veruntreuung) zu klären. Bei
entsprechendem Nachweis dränge sich gestützt darauf eine erneute psychiatrische
Beurteilung auf. Weiter prüfte das Bundesgericht, ob unter der Annahme einer
vorsätzlichen Deliktsbegehung die Voraussetzungen für eine Kürzung oder
Verweigerung der Rente nach Art. 21 Abs. 1 ATSG erfüllt wären, welche Frage es
bejahte (E. 6.5 und 6.8, E. 7 und E. 8).

3.2.2. Aufgrund seiner Abklärungen gelangte die Vorinstanz zum Ergebnis, die
Videoaufnahmen seien verwertbar, damit könnten strafbare Handlungen im Sinne
von Art. 138, 139 und 143 StGB nachgewiesen werden, die als Verbrechen zu
qualifizieren seien. Nach den verbindlichen rechtlichen Erörterungen im Urteil
9C_785/2010 vom 10. Juni 2011 war somit Art. 21 Abs. 1 ATSG (im Sinne der
zweiten Tatbestandsvariante [Herbeiführung oder Verschlimmerung des
Versicherungsfalls bei vorsätzlicher Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens;
vgl. BGE 134 V 315 E. 2 S. 317]) grundsätzlich anwendbar, sofern ein
Rentenanspruch besteht. Weitere verbindliche Vorgaben, etwa betreffend die
Frage, ob dem Versicherungsträger im Rahmen dieser Bestimmung ein
Entschliessungsermessen zukommt (bejahend Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 3. Aufl.
2015, Rz. 52 zu Art. 21 ATSG; verneinend Meyer/Reichmuth, Bundesgesetz über die
Invalidenversicherung, 3. Aufl. 2014, N. 42 zu Art. 7-7b IVG mit Hinweis auf
die Rechtsprechung) oder zum Ausmass einer Kürzung bis hin zur
Leistungsverweigerung, enthält der Rückweisungsentscheid nicht. Die Aussage in
E. 7.3.3, wonach es "ausserordentlich stossend" wäre, "wenn derjenige, der
seinen Arbeitgeber bestiehlt, deswegen fristlos entlassen wird und deswegen
arbeitsunfähig wird, für die auf seinen Diebstahl zurückzuführende Invalidität
noch eine ungekürzte Rente der IV (und der Vorsorgeeinrichtung seines
Arbeitgebers) beziehen könnte", präjudiziert diesbezüglich nichts.

4. 
Die Vorsorgeeinrichtung rügt eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches
Gehör und Beweis (Art. 29 Abs. 2 BV). Die Vorinstanz habe zu Unrecht nicht die
in ihrer Eingabe vom 19. März 2014 formulierten Ergänzungsfragen zum
psychiatrischen Gerichtsgutachten vom 31. Dezember 2013 dem Experten zur
Beantwortung unterbreitet bzw. nach Ablehnung des betreffenden Antrages und
desjenigen auf eine Zweitbegutachtung ihr nicht Gelegenheit zur abschliessenden
Stellungnahme gegeben.

4.1. Grundsätzlich ist es Sache der verfahrensleitenden Behörde zu entscheiden,
ob der Sachverständige mit allfälligen Ergänzungsfragen und/oder Stellungnahmen
einer Partei mündlich oder schriftlich zu konfrontieren ist, soweit der
verfassungsrechtliche Minimalanspruch, sich zumindest nachträglich zum
Gutachten äussern zu können, gewahrt wird. Ein solches Vorgehen erscheint
regelmässig angezeigt, wenn substanziierte fachliche Einwände gegen die
Überzeugungskraft der Expertise vorgebracht werden. Grund hierfür ist, dass die
rechtsanwendenden Behörden mangels ausreichender Fachkenntnisse allfällige
objektiv-fachliche Mängel in Gutachten nicht immer erkennen können und diese
daher aufgrund ihrer Fachspezifität faktisch vorentscheidenden Charakter haben
(vgl. BGE 137 V 210 E. 2.5 S. 241; Urteil 2C_487/2013 vom 5. September 2013 E.
2.5.3). Im dargelegten Sinne sind jedoch lediglich die für den Einzelfall
erheblichen Fragen weiterzuleiten. Ziel dieser Mitwirkungsmöglichkeit ist eine
einzelfalladäquate Fragestellung, welche zur Qualität des Gutachtens wesentlich
beitragen kann. Von der Beantwortung von Ergänzungsfragen durch den Experten
kann somit abgesehen werden, wenn davon keine neuen Erkenntnisse zu erwarten
sind (Urteil 8C_386/2014 vom 6. Oktober 2014 E. 4.3 mit Hinweis).

4.2. Das Kantonsgericht hat in antizipierender Beweiswürdigung darauf
verzichtet, die Ergänzungsfragen der Vorsorgeeinrichtung in ihrer Eingabe vom
19. März 2014 dem Experten vorzulegen. In E. 3.3.2 seines Entscheids hat es
sodann begründet, weshalb nach seiner Auffassung die Fragen bereits beantwortet
sind oder die Antwort nicht von Relevanz ist. Die Vorsorgeeinrichtung
bestreitet die betreffenden Erwägungen nicht substanziiert (Art. 42 Abs. 2
BGG). Unter diesen Umständen ist fraglich, ob eine Gehörsverletzung vorliegt,
was indessen mit Blick auf den Verfahrensausgang nicht entschieden zu werden
braucht.

5. 
Die Vorinstanz hat dem Gerichtsgutachten Beweiswert zuerkannt. Insbesondere
erfülle die Expertise die Vorgabe, dass die Exploration unter der Prämisse zu
erfolgen habe, dass der Versicherte strafbare Handlungen beging und deswegen
die fristlose Entlassung, die Verhaftung und die Hausdurchsuchung
gerechtfertigt waren. Ebenfalls habe ihn der Gerichtsgutachter mit seinen
deliktischen Handlungen konfrontiert. Demgemäss sei der Versicherte aufgrund
seiner Persönlichkeitsstörung und der depressiven Erkrankungen seit.... in der
bisherigen Arbeit vollständig arbeitsunfähig. Spätestens seit der Begutachtung,
d.h. 6. November 2013, bestehe ausschliesslich in einer leidensadaptierten
Verweistätigkeit zwar eine 20%ige Arbeitsfähigkeit, welche jedoch aufgrund der
Anforderungen an einen Arbeitsplatz sowie den Belastungsfaktoren aus
medizinischer Sicht wirtschaftlich nicht mehr verwertbar sei. Der
Invaliditätsgrad betrage somit 100 %. Beginn der ganzen Rente sei der 1.
Oktober 2004.
Die Vorsorgeeinrichtung bestreitet den Beweiswert des Gerichtsgutachtens (vgl.
dazu BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3b/aa S. 352). Insbesondere sei
die - gemäss dem Experten im Vordergrund stehende - Diagnose einer
narzisstischen Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.80) im Hinblick auf die
hierfür zu erfüllenden Kriterien nicht nachvollziehbar. Diese seien beim
Exploranden grösstenteils nicht oder nicht ausreichend feststellbar gewesen.
Der Gerichtsgutachter wie auch alle behandelnden Ärzte und vorherigen Gutachter
hätten sich ganz überwiegend auf die oft nur sehr spärlichen, teils auch
widersprüchlichen Angaben des Versicherten oder von Familienangehörigen
(Ehefrau, Schwester) gestützt. Es liege weder eine Persönlichkeitsstörung noch
eine Depression vor. Sodann werde im Gerichtsgutachten die Frage nach dem
Vorliegen von Simulation sowie in Bezug auf die Medikamenteinnahme und
diesbezüglicher Compliance nicht ausführlich genug geprüft.

6. 

6.1. Wie die Vorinstanz richtig erkannt hat, kommt es - von hier nicht
interessierenden Ausnahmen abgesehen - invalidenversicherungsrechtlich nicht
auf die Diagnose, sondern einzig darauf an, welche Auswirkungen eine Erkrankung
auf die Arbeitsfähigkeit hat (BGE 136 V 279 E. 3.2.1 S. 281; Urteil 9C_270/2011
vom 24. August 2011 E. 4.2; Renato Marelli, Das psychiatrische Gutachten,
Einflüsse und Grenzen, in: Psyche und Sozialversicherung [Gabriela Riemer-Kafka
(Hrsg.)], S. 85). Massgebend ist in erster Linie der lege artis erhobene
psychopathologische Befund und der Schweregrad der Symptomatik (vgl. BGE 130 V
352 E. 2.2.3 S. 353 f. mit Hinweisen; Harald Dressing/Klaus Foerster,
Forensisch-psychiatrische Untersuchung, in: Psychiatrische Begutachtung
[Venzlaff/Foerster/Dressing/Habermeyer (Hrsg.)], 6. Aufl. 2015, S. 23). Wird
eine 'ICD-10 F'-kodierte psychiatrische Diagnose gestellt, ist für die
Nachvollziehbarkeit der Diagnosefindung für die rechtsanwendenden Behörden
erforderlich, dass der Gutachter oder die Gutachterin wenigstens kurz darlegt,
welche der charakterisierenden Kriterien inwiefern und wie ausgeprägt gegeben
sind (in diesem Sinne auch Marelli, a.a.O., S. 79). In diesem Zusammenhang gilt
zu berücksichtigen, dass die psychiatrische Exploration von der Natur der Sache
her nicht ermessensfrei erfolgen kann und dem oder der medizinischen
Sachverständigen deshalb praktisch immer einen gewissen Spielraum eröffnet,
innerhalb welchem verschiedene Interpretationen möglich, zulässig und im Rahmen
einer Exploration lege artis zu respektieren sind (vgl. statt vieler Urteil
9C_353/2015 vom 24. November 2015 E. 4.1).

6.2.

6.2.1. Der Gerichtsgutachter stellte folgende Diagnosen: Narzisstische
Persönlichkeitsstörung F60.8. Differenzialdiagnostisch kombinierte
Persönlichkeitsstörung F61.0 mit narzissistischen und dependenten
Persönlichkeitsanteilen. Persistierende depressive Episode, schwankend zwischen
leicht und mittelgradig F32.0/32.1. Dabei ordnete er der vom Exploranden als
ungerechtfertigt erlebten fristlosen Kündigung, den Vorwürfen des Diebstahls am
Arbeitsplatz sowie den polizeilichen Abklärungen (u.a. Durchsuchung der Wohnung
morgens um 06.00 Uhr, Mitnahme auf den Polizeiposten, Foto machen und
Fingerabdrücke nehmen) massgebende Bedeutung zu. Das subjektive Erleben dieser
Ereignisse habe ihn aus psychiatrischer Sicht erschüttert. Unmittelbar danach
habe sich eine gut dokumentierte und in den Berichten psychopathologisch
nachvollziehbare schwere depressive Störung entwickelt. Das typisch
Narzisstische ist gemäss dem Experten darin zu sehen, dass der Explorand alle
Ursachen für negative Aspekte seines Lebens externalisiere. Diese gestörte
Kognition der Selbstwahrnehmung zeige sich deutlich im Rahmen der
Befunderhebung des Beck Depressionsinventars, bei dem er alle auf eigene
Aspekte hindeutenden Faktoren negiere. Er fühle sich für nichts bestraft, sei
nicht von sich enttäuscht, habe kein Gefühl, schlechter zu sein als andere, und
fühle sich nicht als Versager. Er negiere auch Schuldgefühle. In diesem Sinne
sei die Persönlichkeit des Exploranden durch eine starke
Externalisierungsneigung geprägt, wenn seine Aussagen mit der realen Situation
verglichen würden, d.h. mit der Tatsache, dass die fristlose Entlassung wegen
Vermögensdelikten mit einer Deliktssumme von mindestens Fr. 437.- im
gerichtlichen Verfahren als gerechtfertigt erkannt wurde.

6.2.2. Gemäss ICD-10-Kodierung ist die Diagnose einer narzisstischen
Persönlichkeitsstörung (F60.80) zu stellen, wenn die sechs allgemeinen
Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung (F60.-) und mindestens fünf der neun
im Anhang I (Vorläufige Kriterien für ausgewählte Störungen) gegeben sind. Der
Gerichtsgutachter äusserte sich in seiner Beurteilung unter 'Herleitung der
Diagnosen' zu den ersten vier der sechs allgemeinen Kriterien. Zu den weiteren
Kriterien im Anhang I sagte er nicht ausdrücklich etwas. Von diesen sind nach
Auffassung der Vorsorgeeinrichtung höchstens zwei möglicherweise teilweise
erfüllt, die übrigen entweder nicht belegt oder es liegt diesbezüglich eher
sogar gegenteiliges Verhalten vor. So passe die Angabe der Schwester des
Versicherten, wonach ihr Bruder immer ein zurückgezogener, eher in sich
gekehrter, konfliktscheuer Mensch gewesen sei, nicht in das Krankheitsbild
einer narzisstischen Störung. Weiter bringt die Vorsorgeeinrichtung insoweit
richtig vor, dass nach dem vierten allgemeinen Kriterium für eine
Persönlichkeitsstörung Normabweichungen im Sinne der ersten drei Kriterien im
späten Kindesalter oder in der Adoleszenz begonnen haben (müssten). Solche
Auffälligkeiten liessen sich indessen lediglich auf frühere fremdanamnestische
Angaben der jüngsten Schwester stützen, welche ihren Bruder als immer
zurückgezogenen, etwas in sich gekehrten Menschen beschrieben habe. Der
Gerichtsgutachter bezeichnete die Beziehungsgestaltung des Exploranden als
dependent, was er damit begründete, der Explorand habe bis zum 30. Lebensjahr
bei seinen Eltern gewohnt und und danach nur zwei Jahre in einer eigenen
Wohnung gelebt, bevor er geheiratet habe. Es bestünden Hinweise, dass auf
beruflicher Ebene Auffälligkeiten in der Funktionalität durch eine spezifische
Persönlichkeitsstörung vorgelegen haben könnten. Allerdings würden in Bezug auf
die gescheiterte Berufslehre und die verschiedenen Stellenwechsel konflikthafte
Anteile, die hier eine Rolle gespielt haben könnten, vom Exploranden nicht
erzählt. Die Vorsorgeeinrichtung bringt vor, es fehlten Hinweise darauf, dass
der Versicherte während des letzten über vier Jahre dauernden
Beschäftigungsverhältnisses als Tankwart und Kassierer mit täglich zahlreichem
Kundenkontakt abgesehen von den ihm zur Last gelegten Vermögensdelikten ein im
Sinne des zweiten Kriteriums unflexibles, unangepasstes oder unzweckmässiges
Arbeitsverhalten gezeigt hätte. Sie bemängelt das Fehlen fremdanamnestischer
Auskünfte von Arbeitskollegen und Vorgesetzten. Gemäss dem Experten liess sich
die Entwicklung der Probleme am Arbeitsplatz, die zum strafrechtlich relevanten
Fehlverhalten geführt hätten, dessen Motiv unklar geblieben sei, nicht im
Detail erfragen.

Nach dem in E. 6.1 Gesagten kann zwar das Vorliegen einer invalidisierenden
Persönlichkeitsstörung nicht allein deshalb verneint werden, weil der
Gerichtsgutachter nicht explizit alle Kriterien einzeln erwähnte und
diskutierte. Aufgrund des Vorstehenden ist es jedoch für den Rechtsanwender
schlechterdings nicht nachvollziehbar, dass die erwähnten dependenten Züge sich
im erwerblichen Bereich in dem Sinne auswirken sollen, dass der Versicherte
nicht in der Lage wäre, verantwortungsvolle Tätigkeiten mit einem Anteil an
Selbstverantwortung wahrzunehmen, sondern lediglich einfache, gut strukturierte
und engmaschig begleitete Arbeiten, wie der Experte bei der Diskussion der
zumutbaren Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht festhielt (vgl. auch E.
6.3 hiernach). Gegen eine solche andauernde Auswirkung der narzisstischen
Persönlichkeitsstörung spricht die gesamte (Berufs-) Biographie des
Versicherten.

6.3. Die seit dem Vorfall im.... dekompensierende Symptomatik wurde, wie in E.
6.2.1 dargelegt, durch die subjektiv erlebte Kränkung wegen der fristlosen
Kündigung und der polizeilichen Abklärungen ausgelöst. Bei der narzisstischen
Konstellation sei, so der Gerichtsgutachter, der Bezug zur realen Einschätzung
der Handlung durch die Aussenwelt schwer beeinträchtigt. Für den Exploranden
und den Krankheitsverlauf sei das subjektive Erleben der Reaktion der Umwelt
(fristlose Entlassung, Verhaftung) ausschlaggebend. Das Verleugnen und
Verdrängen von Vorwürfen sei für sich gesehen eine häufige Abwehrreaktion, die
unabhängig von der Persönlichkeitsstörung betrachtet werden müsse. Aus diesem
Grund würde er zur selben Einschätzung (einer maximalen Leistungsfähigkeit von
20 % aus psychiatrischer Sicht) kommen, auch wenn angenommen würde, die
fristlose Entlassung und die Verhaftung seien ungerechtfertigt gewesen. Weiter
verneinte der Gerichtsgutachter bezüglich der depressiven Symptomatik Hinweise
für Aggravation oder Simulation. Dabei führte er u.a. aus, es sei
offensichtlich, dass der Versicherte weiterhin jegliche eigenen schuldhaften
Anteile an seinen strafrechtlich relevanten Handlungen negiere. Dieses
Verhalten beziehe sich aber nicht auf die Äusserung bezüglich psychiatrischer
Symptomatik. "Einen konzeptuellen Zugang zum Aspekt der Persönlichkeitsstörung
hat er nicht".

Diese Aussagen sind unklar, wenn nicht widersprüchlich. Das Negieren von
Schuldgefühlen, die Externalisierung aller Ursachen für negative Aspekte seines
Lebens als Ausdruck der gestörten Kognition der Selbstwahrnehmung bezeichnete
der Experte bei der Umschreibung der psychopathologischen Befunde als das
typisch Narzisstische (E. 6.2.1). Hat der Versicherte dazu keinen
(konzeptuellen) Zugang und ist das Verleugnen und Verdrängen von Vorwürfen für
sich gesehen eine häufige Abwehrreaktion, die unabhängig von der
Persönlichkeitsstörung betrachtet werden muss, stellt sich die Frage, inwiefern
die Störung die Fähigkeit des Versicherten beeinträchtigt, zwischen Recht und
Unrecht zu unterscheiden sowie einsichtsgemäss zu handeln. Ist die Frage zu
verneinen, ist nicht einsehbar, dass die Arbeitsfähigkeit durch "die
unrealistische Einschätzung eigener Handlungen im sozialen Kontext durch die
Persönlichkeitsstörung" eingeschränkt sein soll, und es eine enge Führung und
eine Arbeit braucht, "bei der strafrechtlich relevante Handlungen kaum möglich
sein sollten (Kontrollen) ", wie der Experte bei der Diskussion der
Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht festhielt.
Vor dem Hintergrund des soeben Gesagten erscheint es durchaus auch plausibel,
dass das hartnäckige Bestreiten einer strafbaren Handlung zu Lasten des
Arbeitgebers, dem er Vertrauen entgegengebracht habe und von dem er enttäuscht
worden sei, wie der Versicherte dem Gerichtsgutachter gegenüber angab, (auch)
dazu diente, seine dekompensierende Reaktion auf die fristlose Entlassung und
die polizeilichen Abklärungen dramatischer, "ungerechter" und insoweit
überzeugender darzustellen. Nicht auszuschliessen ist, dass allenfalls
kulturell bedingt (Wahrung des Gesichts) das Gekränktsein wegen des angeblich
ungerechtfertigten Vorgehens von Arbeitgeber und Polizei ganz oder zumindest
zum Teil vorgeschoben ist. Gemäss Vorsorgeeinrichtung ist ein Indiz für
Simulation auch im Umstand zu sehen, dass die Vorgutachter andere Diagnosen
gestellt hatten bzw. "bislang kein Gutachter den Beschwerdegegner korrekt zu
diagnostizieren" vermochte. Im Übrigen sei nach herrschender Lehre das Beck
Depressionsinventar nicht geeignet, eine Persönlichkeitsstörung zu
diagnostizieren; hierfür gäbe es andere Testverfahren. Schliesslich misst der
Gerichtsgutachter auch der depressiven Symptomatik massgebende Bedeutung zu,
wenn er etwa ausführt, der Versicherte sei in seinen Gefühlen der
Gefühllosigkeit im affektiven Bereich, der Wut, des Ärgers und der
Enttäuschung, welche er im Unterschied zur Traurigkeit wahrnehmen könne,
regelrecht gefangen; im Rahmen der komorbiden Depression könne er aus seiner
depressiven Kognition keinen Ausweg finden, wie es sonst häufig bei
Depressionen möglich werde. Mit Blick auf das vorhin im Zusammenhang mit einer
möglichen Simulation Gesagte kann sich die Frage nach der (richtigen)
Behandlung bzw. der diesbezüglichen Compliance des Versicherten stellen. Die
Vorsorgeeinrichtung bringt vor, der Umstand, dass seit über zwölf Jahren keine
Besserung in Sicht sein soll, wecke den Verdacht, der Versicherte nehme die
verordneten Medikamente nicht oder immer nur vor den Begutachtungen ein.

6.4. Zusammenfassend ist das Gerichtsgutachten vom 31. Dezember 2013 nicht
schlüssig, sondern in seinen Schlussfolgerungen bezüglich Folgenabschätzung
rein spekulativ. Von Ergänzungsfragen an den Gerichtsgutachter, wie von der
Vorsorgeeinrichtung im Eventualstandpunkt beantragt oder von der Einholung
eines Obergutachtens ist indessen abzusehen. Zur Annahme einer Invalidität
braucht es in jedem Fall ein medizinisches Substrat, das (fach) ärztlicherseits
schlüssig festgestellt wird und nachgewiesenermassen die Arbeits- und
Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt. Das Erfordernis eines schlüssigen
Beweises im Sinne der Rechtsprechung (BGE 141 V 281 E. 3.7 S. 295 f.) ist in
casu von besonderer Bedeutung angesichts des Umstandes, dass der Versicherte zu
den drei von vier zu Recht fristlos entlassenen Arbeitnehmern zählt, die sich
gleichentags psychiatrisch krank schreiben liessen und nachträglich eine
Invalidenrente zu erhalten suchten. Es kommt dazu, dass sich in den
umfangreichen medizinisch-psychiatrisch und anderweitigen Akten derart viele
Inkonsistenzen und Diskrepanzen finden, dass auch von einer zusätzlichen
Abklärung keine Plausibilisierung des Ausmasses der Einschränkungen zu erwarten
ist (vgl. BGE 139 V 547 E. 9.1.3 S. 566). Sind aber, wie vorliegend (vgl. E.
6.2.2), die Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit nicht
hinreichend erstellt, wirkt sich die diesbezügliche Beweislosigkeit zu Lasten
des Versicherten aus; mit anderen Worten lässt sich nicht sagen, ob sich der
erhobene Gesundheitsschaden invalidisierend auswirkt oder nicht. Somit fehlt es
an einem Rentenanspruch des Versicherten. Die Beschwerde der
Vorsorgeeinrichtung (Verfahren 9C_665/2015) ist begründet. Bei diesem Ergebnis
stellt sich die Frage einer Leistungskürzung nach Art. 21 Abs. 1 ATSG nicht und
auf die diesbezüglichen Vorbringen der Verfahrensbeteiligten ist nicht
einzugehen.

7. 
Der Versicherte hat in beiden Verfahren 9C_634/2015 und 9C_665/ 2015 als
unterliegende Partei zu gelten und somit grundsätzlich die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann
jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird
indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach er der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der Lage ist.

Die Vorsorgeeinrichtung und die IV-Stelle haben keinen Anspruch auf
Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG; vgl. Urteil 9C_950/2008 vom 18. März
2009 E. 5).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Verfahren 9C_634/2015 und 9C_665/2015 werden vereinigt.

2. 
Die Beschwerde im Verfahren 9C_634/2015 wird im Sinne der Erwägungen
abgewiesen.

3. 
Die Beschwerde im Verfahren 9C_665/2015 wird gutgeheissen. Der Entscheid des
Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 23.
April 2015 wird aufgehoben und es wird festgestellt, dass der Versicherte
keinen Anspruch auf eine Invalidenrente hat.

4. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen und es wird dem
Versicherten für beide Verfahren 9C_634/2015 und 9C_665/ 2015 Rechtsanwalt
Daniel Levy als Rechtsbeistand beigegeben.

5. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

6. 
Dem Rechtsvertreter des Versicherten wird für das bundesgerichtliche Verfahren
aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 3'600.- ausgerichtet.

7. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung der
vorangegangenen Verfahren an die Vorinstanz zurückgewiesen.

8. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle Basel-Landschaft, dem
Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem
Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 15. März 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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