Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 633/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_633/2015

Urteil vom 3. November 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Attinger.

Verfahrensbeteiligte
 A.________, vertreten durch Advokatin Corinne Gadola,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

 AXA Stiftung Berufliche Vorsorge, Paulstrasse 9, 8400 Winterthur.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Wiedererwägung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 11. August 2015.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügung vom 15. September 2000 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau
dem 1958 geborenen A.________ unter Zugrundelegung eines Invaliditätsgrades von
100 % ab 1. April 2000 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zu. In den
folgenden Jahren wurde diese Rente anlässlich verschiedener Revisionen jeweils
bestätigt (Mitteilungen der IV-Stelle vom 9. Januar 2002, 14. April 2004 und
27. August 2009). Im Rahmen eines weiteren Revisionsverfahrens holte die
Verwaltung bei der MEDAS B.________ eine polydisziplinäre Expertise vom 26. Mai
2014 ein. Gestützt darauf und unter Hinweis auf die am 1. Januar 2012 in Kraft
getretenen Schlussbestimmungen zur 6. IV-Revision hob die IV-Stelle mit
Verfügung vom 29. August 2014 die bisher ausgerichtete ganze Invalidenrente auf
Ende Oktober 2014 hin ersatzlos auf.

B. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die dagegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 11. August 2015 ab. Es schützte die
rentenaufhebende Revisionsverfügung mit der substituierten Begründung
zweifelloser Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung, nachdem es den
Parteien diesbezüglich Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hatte.

C. 
A.________ führt Beschwerde ans Bundesgericht mit dem Antrag auf
Weiterausrichtung der ganzen Invalidenrente über Ende Oktober 2014 hinaus.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der
angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell-
und beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a
BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften
Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine freie
Überprüfung des vorinstanzlichen Entscheids in tatsächlicher Hinsicht hat
hingegen zu unterbleiben.

2. 

2.1. Der Versicherungsträger kann durch Wiedererwägung auf formell
rechtskräftige Verfügungen (oder Einspracheentscheide) zurückkommen, wenn diese
zweifellos unrichtig sind und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist
(Art. 53 Abs. 2 ATSG [SR 830.1]). Während letzteres Erfordernis bei
periodischen Leistungen (wie hier) regelmässig gegeben ist (BGE 140 V 85 E. 4.4
S. 87; 119 V 475 E. 1c S. 480 mit Hinweisen), setzt zweifellose Unrichtigkeit
voraus, dass kein vernünftiger Zweifel an der (von Beginn weg bestehenden)
Unrichtigkeit der Verfügung besteht, also einzig dieser Schluss denkbar ist.
Das Erfordernis ist in der Regel erfüllt, wenn eine Leistungszusprechung
aufgrund falscher Rechtsregeln erfolgte oder weil massgebliche Bestimmungen
nicht oder unrichtig angewandt wurden (BGE 140 V 77 E. 3.1 S. 79; 138 V 324 E.
3.3 S. 328). Darunter fällt insbesondere eine unvollständige
Sachverhaltsabklärung aufgrund einer klaren Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes (vgl. Art. 43 Abs. 1 ATSG). Eine auf keiner
nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung der massgeblichen Arbeitsfähigkeit
beruhende Invaliditätsbemessung ist nicht rechtskonform und die entsprechende
Verfügung zweifellos unrichtig im wiedererwägungsrechtlichen Sinne (Urteile
9C_317/2015 vom 20. Oktober 2015 E. 3 und 9C_6/2014 vom 15. Dezember 2014 E.
2.1). Die Frage nach der zweifellosen Unrichtigkeit beurteilt sich nach der
Rechtslage im Zeitpunkt des Verfügungserlasses, einschliesslich der damaligen
Rechtspraxis (BGE 140 V 77 E. 3.1 S. 79; 138 V 147 E. 2.1 S. 149, 324 E. 3.3 S.
328).

2.2. Die Praxis zur substituierten Begründung des Rückkommens auf einen
laufenden Rentenanspruch durch das Gericht (BGE 125 V 368 E. 2 S. 369) kommt
nicht nur dann zum Tragen, wenn der Leistungsanspruch (entgegen der
Administrativverfügung) nicht nach Art. 17 Abs. 1 ATSG aufgehoben oder
herabgesetzt werden kann, sondern auch im Zusammenhang mit einer
fehlgeschlagenen (oder - wie hier - offen gelassenen) Anwendung von lit. a Abs.
1 der Schlussbestimmungen zur 6. IV-Revision vom 18. März 2011 (SVR 2014 IV Nr.
39 S. 137, 9C_121/2014 E. 3.2.2).

3. 

3.1. Die Vorinstanz hat verbindlich (E. 1 hievor) festgestellt, dass sich die
IV-Stelle bei der ursprünglichen Rentenverfügung vom 15. September 2000 auf den
Schlussbericht der Berufsberaterin vom 19. Juni 2000 stützte. Darin war
festgehalten worden, zum heutigen Zeitpunkt schätze sich der Beschwerdeführer
aufgrund seiner Rücken- und Unterleibsschmerzen als zu 100 % arbeitsunfähig
ein. Aus berufsberaterischer Sicht würden bei diesem auch psychisch erheblich
belasteten, grundsätzlich aber sicher arbeitswilligen Versicherten berufliche
Eingliederungsmassnahmen für nicht durchführbar erachtet; selbst mit einer
Arbeitsabklärung wäre er überfordert. Eine Vermittelbarkeit bestehe ebenfalls
nicht. Demgegenüber hatte Hausarzt Dr. C.________ im Bericht vom 15. März 2000
für körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten in Wechselbelastung
medizinisch-theoretisch eine 50%ige Arbeitsfähigkeit attestiert. Die Fachärzte
der Klinik D.________ veranschlagten die Leistungsfähigkeit in der angestammten
Tätigkeit als Spinnereiangestellter ab Ende Juli 1999 gar auf 100 % (Bericht
vom 15. Juli 1999). Weitere ärztliche Stellungnahmen zur Arbeitsunfähigkeit
lagen nicht vor. Für die durch nichts belegte Behauptung des Beschwerdeführers,
wonach zusätzliche Unterlagen "verloren gegangen sind oder vielleicht noch
irgendwo in einem Archiv lagern", gibt es keinerlei Anhaltspunkte.

3.2. Im Hinblick auf diese Aktenlage hat das kantonale Gericht zu Recht
erkannt, dass die seinerzeitige Annahme einer vollständigen Arbeits- und
Erwerbsunfähigkeit in keiner Weise nachvollzogen werden kann. Indem die
IV-Stelle auf den Schlussbericht der Berufsberaterin abstellte, statt den
massgebenden medizinischen Sachverhalt vollständig abzuklären, verletzte sie
klar den Untersuchungsgrundsatz. Dies muss umso mehr gelten, als die
Schlussfolgerungen der Berufsberaterin nicht etwa auf der "tatsächlich
gezeigten Leistung" im Rahmen einer praktischen Arbeitsabklärung beruhten (wie
die Vorinstanz fälschlicherweise annimmt), sondern auf den subjektiven Angaben
des Beschwerdeführers im einzigen Beratungsgespräch vom 19. Juni 2000. Überdies
fehlt es gänzlich am gesetzlich vorgeschriebenen Einkommensvergleich (vgl.
Urteil I 222/02 vom 19. Dezember 2002 E. 3.2 in fine und 4.1). Dem kantonalen
Gericht ist darin beizupflichten, dass die der ursprünglichen Rentenverfügung
zugrundeliegende Invaliditätsbemessung nicht auf nachvollziehbaren ärztlichen
Einschätzungen der verbliebenen Leistungsfähigkeit beruhte und die
seinerzeitige Rentengewährung demnach im Sinne der dargelegten Rechtsprechung
zweifellos unrichtig war. Bei zweifelloser Unrichtigkeit wegen Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes erübrigt es sich, den damals rechtserheblichen
Sachverhalt weiter abzuklären und auf dieser nunmehr hinreichenden
tatsächlichen Grundlage den Invaliditätsgrad zu ermitteln. Abgesehen davon,
dass Abklärungen, welche einen weiter zurückliegenden Zeitraum betreffen,
häufig keine verwertbaren Ergebnisse zu liefern vermögen, geht es im
vorliegenden Kontext darum, mit Wirkung ex nunc et pro futuro einen
rechtskonformen Zustand herzustellen (Urteile 9C_692/2014 vom 22. Januar 2015
E. 4, 8C_339/2008 vom 11. November 2008 E. 3.3 und 9C_19/2008 vom 29. April
2008 E. 2.1).
Sind nach dem Gesagten die Wiedererwägungsvoraussetzungen erfüllt, ist im
Folgenden die künftige Anspruchsberechtigung zu prüfen. Dabei ist wie bei einer
Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG auf der Grundlage eines richtig und
vollständig festgestellten Sachverhalts der Invaliditätsgrad im Zeitpunkt der
rentenaufhebenden Verfügung vom 29. August 2014 zu ermitteln (Urteile 9C_173/
2015 vom 29. Juni 2015 E. 2.2 und 9C_11/2008 vom 29. April 2008 E. 4.2.1 mit
Hinweisen). Anzumerken gilt, dass der Umstand, wonach die ursprüngliche
Rentenverfügung anlässlich mehrerer Revisionen bestätigt worden ist (vgl.
Sachverhalt lit. A), der späteren Wiedererwägung nicht entgegensteht; die
zwischenzeitlichen Bestätigungen der ganzen Rente sind wiedererwägungsrechtlich
unerheblich, weil ihnen jeweils keine  materielle Prüfung des Rentenanspruchs
zugrundelag (Umkehrschluss aus BGE 140 V 514 E. 5.2 am Anfang S. 520).

4. 

4.1. Das kantonale Gericht hat - insbesondere gestützt auf das
interdisziplinäre Gutachten der MEDAS B.________ vom 26. Mai 2014 - für das
Bundesgericht verbindlich festgestellt (vgl. E. 1 hievor), dass der
Beschwerdeführer trotz chronischer Becken- und Beinbeschwerden bei Ausübung
einer körperlich leichten bis intermittierend mittelschweren,
wechselbelastenden Erwerbstätigkeit vollständig arbeits- und leistungsfähig
wäre. Eine rentenbegründende Erwerbseinbusse scheidet somit aus, weshalb die
ganze Invalidenrente für die Zukunft zu Recht aufgehoben wurde.

4.2. Wenn der Versicherte in seiner letztinstanzlichen Beschwerde unter Hinweis
auf Arztberichte von Dr. C.________ vom 13. Dezember 2013 und des Psychiaters
Dr. E.________ vom 4. August 2014 rein appellatorisch eine "mindestens
mittelschwere Depression" geltend macht, übersieht er, dass die im
angefochtenen Entscheid einlässlich begründete Würdigung der gesamten
medizinischen Akten Fragen tatsächlicher Natur beschlägt und daher einer
Überprüfung durch das Bundesgericht grundsätzlich entzogen ist, zumal von
willkürlicher Abwägung durch die Vorinstanz oder anderweitiger
Rechtsfehlerhaftigkeit im Sinne von Art. 105 Abs. 2 BGG nicht die Rede sein
kann. Die Vorinstanz hat denn auch zu Recht mitberücksichtigt, dass trotz des
geltend gemachten psychischen Leidens keine eigentliche fachärztliche
Behandlung erfolgt (Dr. E.________ wurde lediglich zwei Mal aufgesucht). Soweit
der Beschwerdeführer aus der - nicht angefochtenen - Verfügung vom 23. Oktober
2014, mit welcher der Anspruch auf Wiedereingliederungsmassnahmen verneint
wurde, etwas zu seinen Gunsten ableiten will, ist er daran zu erinnern, dass er
anlässlich des Beratungsgesprächs vom 27. August 2014 mehrmals erklärte, er sei
nicht willens, an Integrationsmassnahmen mitzuwirken.

5. 
Die Gerichtskosten werden dem Beschwerdeführer als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
dem Bundesamt für Sozialversicherungen, der Ostschweizerischen Ausgleichskasse
für Handel und Industrie, St. Gallen, und der AXA Stiftung Berufliche Vorsorge
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. November 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Attinger

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