Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 617/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_617/2015

Urteil vom 19. September 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Williner.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle Basel-Landschaft,
Hauptstrasse 109, 4102 Binningen,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Advokat Stephan Müller,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 7. Mai
2015.

Sachverhalt:

A.

A.a. Die 1985 geborene A.________, Mutter zweier Kinder (geboren 2005 und
2007), meldete sich erstmals im September 2000 wegen einer Minderintelligenz
und einem Entwicklungsrückstand bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Basel-Landschaft gewährte ihr berufliche
Massnahmen in Form einer Anlehre im Verkauf (Verfügung vom 29. Mai 2001).

Nach erfolgter Neuanmeldung im September 2010 sprach die IV-Stelle
Arbeitsvermittlung zu (Mitteilung vom 7. März 2011), schloss berufliche
Massnahmen in der Folge jedoch mit der Begründung ab, die Kinderbetreuung sei
zur Zeit nicht gewährleistet (Mitteilung vom 19. August 2011). Im Rahmen der
anschliessenden Rentenprüfung führte die IV-Stelle verschiedene erwerbliche und
medizinische Abklärungen durch, namentlich veranlasste sie ein
versicherungspsychiatrisches Fachgutachten der Kliniken B.________ (Gutachten
vom 25. Juni 2012 mitsamt Ergänzungen vom 7. August 2012 [testpsychologische
Untersuchung], vom 7. Mai 2013 und vom 4. Dezember 2013) sowie eine
Haushaltabklärung (Abklärungsbericht vom 14. November 2012). Mit Vorbescheid
vom 6. Januar 2014 stellte die Verwaltung die Abweisung des Leistungsbegehrens
in Aussicht (Invaliditätsgrad 36 %). Dagegen liess die Versicherte verschiedene
Einwände vorbringen.

A.b. Im Juli 2014 meldete sich A.________ zum Bezug einer
Hilflosenentschädigung an. Die IV-Stelle veranlasste eine Abklärung
Hilflosigkeit (Abklärungsbericht vom 1. September 2014) und sprach der
Versicherten - ohne bis dahin über den Rentenanspruch verfügt zu haben - eine
Entschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades ab 1. Juli 2013 zu (Verfügung
vom 13. Oktober 2014).

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Basel-Landschaft in
dem Sinne gut, als es die angefochtene Verfügung aufhob und feststellte, die
Versicherte habe bereits ab dem 1. Juli 2009 Anspruch auf eine
Hilflosenentschädigung leichten Grades (Entscheid vom 7. Mai 2015).

C. 
Die IV-Stelle Basel-Landschaft führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten und beantragt die Rückweisung der Angelegenheit an die
Vorinstanz, damit diese das Beschwerdeverfahren bis zum Vorliegen eines
rechtskräftigen Rentenentscheids sistiere. Eventualiter sei die Sache an die
IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese nach erfolgter Abklärung betreffend den
Rentenanspruch über einen allfälligen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung
neu verfüge.

A.________ schliesst in der dazu eingeholten Vernehmlassung auf Abweisung der
Beschwerde und beantragt die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege (im
Sinne der Kostenbefreiung und der unentgeltlichen Verbeiständung). Das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Es ist unbestritten, dass die Beschwerdegegnerin auf lebenspraktische
Begleitung im Umfang von wöchentlich 150 Minuten angewiesen ist. Streitig und
zu prüfen ist einzig, ob - und allenfalls ab wann - sie deshalb Anspruch auf
eine Hilflosenentschädigung hat.

2.1. Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen und die von der
Rechtsprechung dazu entwickelten Grundsätze, namentlich diejenigen zum Anspruch
auf Hilflosenentschädigung (Art. 9 ATSG; Art. 42 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 37 IVV)
und zum Tatbestand der lebenspraktischen Begleitung (Art. 42 Abs. 3 IVG; Art.
38 Abs. 1 IVV; BGE 133 V 450) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.2. Zu ergänzen ist, dass für die Annahme einer Hilflosigkeit wegen Bedarfs an
lebenspraktischer Begleitung mindestens ein Anspruch auf eine Viertelsrente
bestehen muss, sofern lediglich die psychische Gesundheit betroffen ist (Art.
42 Abs. 3 IVG und Art. 38 Abs. 2 IVV).

3. 
Die Vorinstanz bejahte die Voraussetzungen für eine Hilflosenentschädigung
leichten Grades im Sinne von Art. 42 Abs. 3 IVG. Indessen enthält der
angefochtene Entscheid keine Ausführungen dazu, ob die diagnostizierte
Intelligenzminderung (ICD-10 Ziff. F70), welcher gemäss ICD-10 eine leichte
geistige Behinderung inhärent ist, eine Beeinträchtigung der  psychischen
Gesundheit im Sinne von Art. 42 Abs. 3 IVG und Art. 38 Abs. 2 IVV darstellt (so
die Beschwerdeführerin) oder nicht (so die Beschwerdegegnerin). Ist der
Argumentation der Beschwerdeführerin folgend lediglich die psychische
Gesundheit im Sinne der genannten Normen betroffen, so muss für die Annahme
einer Hilflosigkeit wegen Bedarfs an lebenspraktischer Begleitung gleichzeitig
mindestens ein Anspruch auf eine Viertelsrente bestehen (vgl. E. 2.2 hievor).
Weil indessen über den Rentenanspruch noch kein rechtskräftiger Entscheid
vorliegt, ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese das
Verfahren bis zur Klärung der Rentenfrage sistiert. Danach wird sie -
allenfalls unter Beantwortung der Frage, ob die leichte Intelligenzminderung
(ICD-10 Ziff. F70) eine Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit im Sinne
von Art. 42 Abs. 3 IVG und Art. 38 Abs. 2 IVV darstellt, sowie unter
allfälliger Androhung einer reformatio in peius - über die
Hilflosenentschädigung neu zu befinden haben. Soweit es zu einem Rückzug der
(kantonalen) Beschwerde kommen sollte, steht der IV-Stelle der Weg gemäss Art.
53 Abs. 2 ATSG (wieder) offen.

4.

4.1. Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Rückweisung an die
Vorinstanz (mit noch offenem Ausgang) gilt praxisgemäss als Obsiegen der
Beschwerde führenden Partei (vgl. SVR 2013 IV Nr. 26 S. 75, 8C_54/2013 E. 6 mit
Hinweisen). Die Gerichtskosten sind daher der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen
(Art. 66 Abs. 1 BGG). Der IV-Stelle steht keine Parteientschädigung zu (Art. 68
Abs. 3 BGG).

4.2. Dem Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne
der vorläufigen Befreiung der Gerichtskosten und der unentgeltlichen
Verbeiständung) kann entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird
indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die
begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn
sie später dazu im Stande ist.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 7. Mai 2015 wird
aufgehoben. Die Sache wird im Sinne der Erwägungen zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Der Beschwerdegegnerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Advokat
Stephan Müller wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'400.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. September 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Williner

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