Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 578/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_578/2015

Urteil vom 13. Januar 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Trütsch.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Christa Ruedlinger,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

Sammelstiftung Vita,
c/o Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG,
8085 Zürich.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 17. Juni 2015.

Sachverhalt:

A. 
Nachdem die IV-Stelle des Kantons Aargau mit rechtskräftiger Verfügung vom 27.
Mai 2010 das Gesuch um Leistungen der Invalidenversicherung der A.________,
geboren 1955, abgewiesen hatte (Invaliditätsgrad: 27 %), meldete sich diese am
8. Dezember 2012 neu an und reichte das Gutachten des arbeitsmedizinischen
Instituts B.________ vom 9. April 2013 ein. Die Verwaltung veranlasste in der
Folge bei der ZVMB GmbH, Medizinische Abklärungsstelle Bern (MEDAS), eine
polydisziplinäre Expertise, welche am 29. September 2014 erstattet wurde. Nach
Prüfung der im Vorbescheidverfahren neu eingereichten Berichte des
arbeitsmedizinischen Instituts B.________ vom 22. Oktober 2014 und der Klinik
C.________ vom 20. Januar 2015 verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 2.
Februar 2015 erneut einen Rentenanspruch.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde der A.________ wies das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau nach Beiladung der Sammelstiftung Vita mit Entscheid vom 17.
Juni 2015 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 17. Juni 2015 sei aufzuheben und es sei ihr eine halbe Rente
zuzusprechen.

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz auf Rüge hin oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen,
wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne
von Art. 95 beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs.
1 BGG).

1.2. Einem ärztlichen Bericht kommt Beweiswert zu, wenn er für die streitigen
Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die
geklagten Beschwerden berücksichtigt und in Kenntnis der Vorakten (Anamnese)
abgegeben worden ist, wenn die Beschreibung der medizinischen Situation und
Zusammenhänge einleuchtet und die Schlussfolgerungen des Arztes begründet sind
(BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232). Ob einem Arztbericht Beweiswert zukommt, ist
eine grundsätzlich frei prüfbare Rechtsfrage (Urteil 8C_449/2014 vom 11.
Dezember 2014 E. 3).

1.3. Bei einander widersprechenden medizinischen Berichten hat das kantonale
Versicherungsgericht im Rahmen umfassender und pflichtgemässer Beweiswürdigung
die Gründe anzugeben, weshalb es auf den einen und nicht auf den andern
abstellt (Art. 61 lit. c ATSG; BGE 125 V 351 E. 3a S. 352). Der Verzicht auf
weitere Abklärungen oder im Beschwerdefall auf Rückweisung der Sache an die
Verwaltung zu diesem Zwecke (antizipierte Beweiswürdigung) verletzt etwa dann
Bundesrecht, wenn der festgestellte Sachverhalt unauflösbare Widersprüche
enthält oder wenn eine entscheidwesentliche Tatfrage, wie namentlich
Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit einer versicherten Person (BGE 132 V
393 E. 3.2 S. 397 ff.), auf unvollständiger Beweisgrundlage beantwortet wird
(Urteil 8C_148/2011 vom 5. Juli 2011 E. 1).

2.

2.1. Das kantonale Versicherungsgericht hat dem MEDAS-Gutachten vom 29.
September 2014 Beweiswert zuerkannt. Weiter stellte es fest, die
Arbeitsfähigkeit sei von orthopädischer Seite zu definieren. Dr. med.
D.________, FMH Allgemeine Innere Medizin und Arbeitsmedizin, vom
arbeitsmedizinischen Institut B.________ bestreite in seiner Stellungnahme vom
22. Oktober 2014 die Befunde der Fachärzte des ZVMB nicht; diese hätten gar
gleiche Ergebnisse wie anlässlich der arbeitsmedizinischen Begutachtung
bestätigt. Ferner stimme Dr. med. D.________ dem Anforderungsprofil der
Verweistätigkeit ausdrücklich zu. Es gehe demnach einzig um eine
unterschiedliche Einschätzung der Arbeitsfähigkeit. Der Arzt des
arbeitsmedizinischen Instituts B.________ habe eine arbeitsmedizinische
Beurteilung vorgenommen, während die Experten des ZVMB über die
versicherungsrechtliche Zumutbarkeit befunden hätten, welche in diesem
Verfahren entscheidend sei. Abgesehen davon habe Dr. med. D.________
eingeräumt, die Gutachter hätten ihre Einschätzung entsprechend der
herrschenden Praxis getroffen; im Übrigen verkenne er die Rechtsprechung zum
allgemeinen Arbeitsmarkt, wenn er die Umsetzung des Anforderungsprofils für
illusorisch halte. Dass seiner Kritik an der Umschreibung der relevanten
Diagnosen durch die MEDAS-Experten zuzustimmen sei, spiele in beweisrechtlicher
Hinsicht keine Rolle, da die Befunde nicht bestritten seien. Weiter habe Dr.
med. D.________ die fehlende Begründung der Diskrepanz zwischen der
Selbsteinschätzung der Beschwerdeführerin und der medizinisch-theoretischen
Arbeitsfähigkeit bemängelt. Hierzu hätten die Fachärzte der Medizinischen
Abklärungsstelle Inkonsistenzen im gezeigten Verhalten und in den
Beschwerdeschilderungen aufgezeigt. Zudem liege keine entsprechende
psychiatrische Diagnose vor, welche die subjektiven Schmerzen zu erklären
vermöchte. Auch Dr. med. E.________, Chefarzt Klinik C.________, bringe in
seinem Bericht vom 20. Januar 2015 keine neuen Gesichtspunkte vor. Insgesamt
lägen keine konkreten Indizien vor, die gegen die Zuverlässigkeit der Expertise
des ZVMB sprächen. Auf weitere Abklärungen könne in antizipierter
Beweiswürdigung verzichtet werden.

2.2. Die Beschwerdeführerin bringt zu Recht vor, dass bezüglich der Beurteilung
der Arbeitsfähigkeit - der zentralen Grundlage für die Invaliditätsbemessung -
erhebliche und nicht miteinander in Einklang zu bringende Unterschiede zwischen
dem MEDAS-Gutachten vom 29. September 2014 und der Expertise des
arbeitsmedizinischen Instituts B.________ vom 9. April 2013 bestehen. Während
Dr. med. D.________ die effektive Leistungsfähigkeit in einer
leidensadaptierten Tätigkeit mit 30 bis 40 % bezifferte, attestierten die
Fachärzte des ZVMB eine solche von 100 %. Eine Begründung für ihre abweichende
Einschätzung gaben sie nicht an, was indessen angesichts der von ihnen
ausdrücklich bestätigten übereinstimmenden Befunde und des nahezu gleich
umschriebenen Anforderungsprofils aus beweisrechtlicher Sicht erforderlich
gewesen wäre, zumal bereits Dr. med. F.________ vom Regionalen Ärztlichen
Dienst (RAD) in ihrer Stellungnahme vom 10. März 2010 lediglich noch von einer
verbliebenen Arbeitsfähigkeit von 50 % in einer Verweistätigkeit ausgegangen
war. Diese Differenz vermag auch die Vorinstanz nicht schlüssig zu erklären.
Dabei ist nicht einsehbar, inwiefern für die Feststellung des
Gesundheitsschadens und dessen funktionellen Auswirkungen es einen Unterschied
machen soll, ob dies aus arbeits- oder versicherungsmedizinischer Sicht
geschah, wie die Beschwerdeführerin zutreffend vorbrachte. Denn die
Arbeitsmedizin befasst sich mit der Wechselwirkung zwischen den Anforderungen
und Belastungen der Arbeit und ihren gesundheitlichen Auswirkungen auf den
Menschen (vgl. Ziff. 1 des Weiterbildungsprogramms Facharzt für Arbeitsmedizin
vom Schweizerischen Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung, Stand 6.
Juni 2013). Die Disziplin kann somit - wie grundsätzlich alle medizinischen
Fachbereiche - ebenfalls sachdienliche Informationen zur (Rest-)
Arbeitsfähigkeit einer konkreten Person liefern. Es ist deshalb nicht
ersichtlich, inwiefern die Einschätzung von Dr. med. D.________, der im Übrigen
auch Internist ist, weniger Gewicht haben sollte als jene der MEDAS-Gutachter,
zumal er sich als zertifizierter Gutachter an der Wegleitung zur Einschätzung
der zumutbaren Arbeitsfähigkeit nach Unfall und bei Krankheit der Swiss
Insurance Medicine (SIM) orientiert hat. Ein weiterer Punkt bedarf ebenfalls
der Klärung: Die MEDAS-Begutachtung erhob weder eine psychiatrische noch eine
relevante neurologische Diagnose; eine relevante Einschränkung ergab sich vor
allem aus orthopädischer Sicht. Die Experten vermerkten dabei - relativierend -
ein inkonsistentes Verhalten der Versicherten, mit anderen Worten eine fehlende
Übereinstimmung zwischen dem geschilderten Leiden und dem dargebotenen
Verhalten. Die Vorinstanz führt hiezu grundsätzlich zutreffend, aber in
Verkennung des Themas "Inkonsistenz" aus, die Diskrepanz zwischen der
Selbsteinschätzung der Versicherten, die sich lediglich zu 30 % arbeitsfähig
sehe, und der gutachterlichen Einschätzung sei für die Bemessung der
Invalidität nicht von Bedeutung.

2.3. Da auch das Gutachten des arbeitsmedizinischen Instituts B.________ den an
den Beweiswert ärztlicher Berichte gestellten Anforderungen genügt (vgl. E. 1.2
hievor), ist beweismässig von zwei gleichwertigen Expertisen auszugehen, sodass
nicht willkürfrei und ohne Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43
Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG) auf nur eine davon abgestellt werden kann. Die
Frage der Arbeitsfähigkeit wurde auf unvollständiger Beweisgrundlage
beantwortet, was Bundesrecht verletzt (vgl. E. 1.3 hievor). Die Sache ist daher
an die Vorinstanz zwecks Einholung eines orthopädischen Obergutachtens
zurückzuweisen.

3. 
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen
(Art. 68 Abs. 2 BGG; BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 17. Juni 2015 aufgehoben. Die
Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen
wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Sammelstiftung Vita, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. Januar 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Trütsch

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