Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 576/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_576/2015

Urteil vom 14. Januar 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Trütsch.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Christa Rempfler,
Beschwerdeführer,

gegen

Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St.
Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 8. Juni 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1992, bezieht seit mehreren Jahren eine Entschädigung wegen
Hilflosigkeit mittleren Grades und erhielt zusätzlich ab 1. Oktober 2010
Ergänzungsleistungen zugesprochen. Am 6. Juni 2011 ersuchte er um Entschädigung
des Erwerbsausfalls seiner Mutter als Folge der benötigten ständigen
persönlichen Überwachung. Nach Erstattung des Abklärungsberichts durch die vom
Gesundheitsdepartement des Kantons St. Gallen bezeichnete Stelle am 19. Oktober
2012 und anschliessender Stellungnahme der Dr. med. B.________, Fachärztin für
Neurologie und Psychiatrie, vom Regionalen ärztlichen Dienst (RAD), vom 3.
April 2013 wies die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen das
Gesuch um Vergütung des Pflegeaufwandes nach durchgeführtem Einspracheverfahren
am 10. Oktober 2013 ab.

B. 
Mit Entscheid vom 8. Juni 2015 wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen die Beschwerde von A.________ ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 8. Juni 2015 sei aufzuheben und es sei der Anspruch auf
Vergütung der Pflege- und Betreuungskosten durch seine Mutter ab dem 1. Oktober
2010 gutzuheissen; eventualiter sei die Sache zu neuer Abklärung und
Beurteilung an die Verwaltung zurückzuweisen, unter Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege.
Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen und das Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV) verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Der Beschwerdeführer hat mehrere nach Erlass des angefochtenen Entscheids
erstellte ärztliche Berichte und Zeugnisse ins Recht gelegt. Diese Dokumente
haben aufgrund des Verbots, im Beschwerdeverfahren echte Noven beizubringen
(statt vieler Urteil 8C_721/2014 vom 27. April 2015 E. 2), sowie aufgrund der
Bindung des Bundesgerichts an den vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt
(Art. 105 Abs. 1 BGG) mit Beschränkung der Prüfung in tatsächlicher Hinsicht
auf die in Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG festgelegten Beschwerdegründe
grundsätzlich unbeachtet zu bleiben (Urteil 9C_806/2014 vom 13. Januar 2015 E.
2.1 mit Hinweisen). Weiter hat er ein Arztzeugnis vom 19. Januar 2015 sowie
einen Bericht des Kantonsspitals C.________ vom 27. Mai 2015 eingereicht. Dabei
handelt es sich um unzulässige (unechte) Noven (Art. 99 Abs. 1 BGG), da diese
Dokumente ohne weiteres bereits im vorinstanzlichen Verfahren hätten aufgelegt
werden können (Urteil 9C_25/2015 vom 1. Mai 2015 E. 1 mit Hinweisen).

2. 
Streitgegenstand bildet der Anspruch auf Vergütung der Erwerbseinbusse im Sinne
von Art. 12 Abs. 1 der st. gallischen Verordnung über die Vergütung von
Krankheits- und Behinderungskosten bei den Ergänzungsleistungen vom 11.
Dezember 2007 (VKB; sGS 351.53), den der Beschwerdeführer für seine Mutter als
Folge seiner Pflege und Betreuung geltend macht. Die für die Beurteilung
massgebenden Bestimmungen, insbesondere Art. 12 Abs. 1 VKB, werden im
angefochtenen Entscheid richtig wiedergegeben (vgl. zur Kognition und
Rügepflicht in Bezug auf kantonales Recht: Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 138 I 225
E. 3.1 S. 227). Darauf wird verwiesen.

3.

3.1. Das kantonale Versicherungsgericht hat im Wesentlichen gestützt auf die
Stellungnahme der Dr. med. B.________ vom 3. April 2013 eine dauernde
Überwachungsbedürftigkeit bzw. die Notwendigkeit einer weitgehenden Präsenz der
Mutter und damit den streitigen Vergütungsanspruch verneint. Insbesondere sei
der Beschwerdeführer aufgrund der Visusprobleme aus ärztlicher Sicht nicht auf
Fremdhilfe angewiesen. Ebensowenig vermöchten die Anfälle sowie die Angst- und
Panikattacken einen permanenten Betreuungsbedarf zu begründen; ein solcher sei
medizinisch in keiner Weise nachvollziehbar. Daher sei es der Mutter des
Beschwerdeführers möglich und zumutbar, tagsüber einer Vollzeittätigkeit
nachzugehen.

3.2. Der Beschwerdeführer bringt unter anderem vor, dass selbst die RAD-Ärztin
in ihrem Bericht vom 20. Juni 2012 explizit bestätigt habe, dass er dauernd der
persönlichen Überwachung bedürfe, dies tags und nachts. Es sei für ihn wichtig,
die Sicherheit zu haben, dass die Mutter in der Nähe und abrufbereit sei. Da
die dissoziativen Störungen unerwartet und jederzeit auftreten können, habe die
Präsenz bzw. Stand-by-Abrufbarkeit einer vertrauten Person eine wichtige
stabilisierende Bedeutung für den Versicherten. An dieser Tatsache habe sich
bis heute nichts geändert.

4.

4.1. Dr. med. B.________ hatte den Beschwerdeführer am 7. Juni 2012 im Rahmen
der revisionsweisen Überprüfung der Hilflosenentschädigung zwecks Ermittlung
des Unterstützungsbedarfs im Alltag untersucht. Im Bericht vom 20. Juni 2012
hielt sie fest, sie habe sich vom gebesserten Gesundheitszustand und den
therapeutischen Fortschritten überzeugen können, wie es der behandelnde
Psychiater Dr. med. D.________ in seinem Verlaufsbericht vom 1. Februar 2012
attestiert habe. Es bestehe allerdings weiterhin ein anhaltender
Unterstützungsbedarf im Sinne einer permanenten Begleitung durch eine gut
vertraute Person im Hinblick auf die noch ausgeprägten angstbesetzten
psychischen Störungen. Auf ihre vormaligen Erhebungen und Ergebnisse verwies
Dr. med. B.________ mehrmals explizit in ihrer späteren Stellungnahme vom 3.
April 2013 zum Abklärungsbericht des Gesundheitsdepartementes vom 19. Oktober
2012. Hinsichtlich der psychischen Beschwerden nahm sie, wie schon anlässlich
der revisionsweisen Überprüfung der Hilflosenentschädigung, Bezug auf den
Verlaufsbericht von Dr. med. D.________ vom 1. Februar 2012, wonach eine
deutliche Tendenz zur Besserung erkennbar sei und die psychogenen/dissoziativen
Anfälle nicht mehr aufgetreten seien. Eine weitere Verbesserung des
Gesundheitszustandes im Vergleich zum Juni 2012 ist demnach nicht ausgewiesen
und auch den übrigen Akten nicht zu entnehmen. Dennoch erachtete die RAD-Ärztin
eine dauernde Überwachung nicht mehr als indiziert, was einen unauflösbaren
Widerspruch zu ihrer vormaligen Einschätzung darstellt.

4.2. Nach dem Gesagten bestehen erhebliche Zweifel an der Schlüssigkeit der
neuerlichen Beurteilung von Dr. med. B.________ vom 3. April 2013. Auf den
Abklärungsbericht des Gesundheitsdepartementes vom 19. Oktober 2012 kann gemäss
den vorinstanzlichen Feststellungen indessen ebenso wenig abgestellt werden.
Auch den übrigen medizinischen Akten können keine ausreichenden Angaben für
eine abschliessende Beurteilung der Betreuungsbedürftigkeit entnommen werden.
Die Sache ist daher an die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen
zwecks ergänzender Abklärungen zurückzuweisen. Die Beschwerde ist im
Eventualstandpunkt begründet.

5. 
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art.
68 Abs. 2 BGG; BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 8. Juni 2015 und der
Einspracheentscheid der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen vom
10. Oktober 2013 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen zurückgewiesen. Im Übrigen
wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. Januar 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Trütsch

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