Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 568/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_568/2015        
{T 0/2}

Urteil vom 16. Oktober 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Furrer.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap,
lic. iur. Claudia Pascali-Armanaschi,
Beschwerdeführerin,

gegen

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
Speichergasse 12, 3011 Bern,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung (unentgeltliche Rechtspflege),

Beschwerde gegen die Verfügung des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 17. Juni 2015.

Sachverhalt:

A. 
Mit Neuanmeldung vom 26. März 2014 ersuchte die 1980 geborene, an cystischer
Fibrose leidende A.________ um Prüfung des Rentenanspruchs. Die IV-Stelle Bern
trat auf das Gesuch ein und verneinte mit Verfügung vom 12. Februar 2015 den
Anspruch auf eine Invalidenrente.

B. 
Hiegegen erhob A.________ beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern Beschwerde
und stellte gleichzeitig ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung. Dieses
Gesuch wies der Instruktionsrichter mit Verfügung vom 17. Juni 2015 mangels
Bedürftigkeit und wegen Aussichtslosigkeit der Beschwerde ab.

C. 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den
Rechtsbegehren, unter Aufhebung der angefochtenen Verfügung sei ihr für das
Verfahren vor dem Verwaltungsgericht die unentgeltliche Prozessführung zu
gewähren. In verfahrensrechtlicher Hinsicht sei der Beschwerde aufschiebende
Wirkung zuzuerkennen.

Erwägungen:

1.

1.1. Die angefochtene Verfügung verneint den Anspruch der Beschwerdeführerin
auf unentgeltliche Rechtspflege für das vorinstanzlich hängige Verfahren
betreffend eine Rente der Invalidenversicherung und verpflichtet sie
gleichzeitig zur Leistung eines Kostenvorschusses. Dabei handelt es sich um
einen Zwischenentscheid nach Art. 93 Abs. 1 BGG, der einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil im Sinne von lit. a dieser Bestimmung bewirken kann.
Zudem steht in der Hauptsache die Beschwerde an das Bundesgericht offen. Daher
ist auf die Beschwerde einzutreten (Urteil 8C_665/2011 vom 26. Januar 2012 E.
3-5.2 mit Hinweisen).

1.2. Die Beschwerdeführerin reicht letztinstanzlich verschiedene
Bescheinigungen des Sozialamtes ein. Ob diese - teilweise vor, teilweise nach
Erlass der angefochtenen Verfügung datierenden - Unterlagen beachtlich sind
(Art. 99 Abs. 1 BGG), kann vorliegend offen bleiben: Bereits die
vorinstanzliche Aktenlage lässt die Beurteilung der Bedürftigkeit ohne Weiteres
zu (E. 3.3 hiernach). Die neu aufgelegte Stellungnahme der behandelnden
Pneumologin vom 13. August 2015ist erst nach Erlass der vorinstanzlichen
Verfügung entstanden und deshalb unzulässig.

2.

2.1. Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat
Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht
aussichtslos erscheint (Art. 29 Abs. 3 Satz 1 BV).

2.1.1. Als bedürftig im Sinne von Art. 29 Abs. 3 BV gilt eine Person dann, wenn
sie die Kosten eines Prozesses nicht aufzubringen vermag, ohne jene Mittel
anzugreifen, die für die Deckung des eigenen notwendigen Lebensunterhalts und
desjenigen ihrer Familie erforderlich sind (BGE 135 I 221 E. 5.1 S. 223; 128 I
225 E. 2.5.1 S. 232; je mit Hinweisen). Das Bundesgericht prüft frei, ob die
Kriterien zur Bestimmung der Bedürftigkeit zutreffend gewählt worden sind, legt
seinem Urteil aber den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG; BGE 135 I 221 E. 5.1 S. 223; Urteil 5A_761/2014 vom
26. Februar 2015 E. 2.2.2).

2.1.2. Rechtsbegehren sind aussichtslos, wenn deren Gewinnaussichten im
Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung deutlich geringer sind als die
Verlustgefahren. Entscheidend ist, ob eine nicht bedürftige Partei sich
vernünftigerweise zu einem Prozess entschliessen würde (BGE 138 III 217 E.
2.2.4 S. 218; 131 I 113 E. 3.7.3 S. 122; 129 I 129 E. 2.3.1 S. 136; je mit
Hinweisen). Die normative Frage, ob ein Rechtsmittel aussichtslos ist, prüft
das Bundesgericht grundsätzlich frei (vgl. BGE 129 I 129 E. 2.3.1 S. 136;
Urteil 9C_286/2009 vom 28. Mai 2009 E. 2.3). Es ist indessen nicht Aufgabe des
Bundesgerichts, dem Sachgericht vorgreifend zu prüfen, ob die im kantonalen
Verfahren gestellten Begehren zu schützen seien, sondern lediglich, ob der
verfolgte Rechtsstandpunkt im Rahmen des sachlich Vertretbaren liegt bzw. nicht
von vornherein unbegründet erscheint (BGE 119 III 113 E. 3a S. 115).

3.

3.1. Der Instruktionsrichter verweigerte die unentgeltliche Rechtspflege im
kantonalen Verfahren zum einen wegen nicht ausgewiesener Bedürftigkeit
hinsichtlich der Gerichtskosten von maximal Fr. 1'000.-. Er erwog, zwar bestehe
gemäss Sozialhilfebudget ein Fehlbetrag von Fr. 18.55 pro Monat. Indes sei
trotz Aufforderung zur Verbesserung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege
das im Budget berücksichtigte Einkommen von Fr. 1'500.- und damit die
Prozessarmut nicht nachgewiesen worden. Implizite ging die Vorinstanz damit
auch von einer Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit (Urteil 5A_897/2013 vom
8. Juli 2014 E. 3.1) der Beschwerdeführerin aus.

3.2. Die Beschwerdeführerin wendet ein, beim Sozialhilfebudget handle es sich
um ein sogenanntes Rahmenbudget, in welchem - bei unregelmässigen Einnahmen -
einkommensseitig ein hypothetischer Wert ausgewiesen werde. Die tatsächlichen
Einnahmen seien - wie den vor Bundesgericht aufgelegten Belegen zu entnehmen
sei - indes wesentlich tiefer ausgefallen, womit auch der effektive Fehlbetrag
wesentlich höher sei. Doch selbst bei Annahme eines Fehlbetrags von Fr. 18.55
pro Monat hätte das kantonale Gericht die Bedürftigkeit nicht verneinen dürfen.
Allein der Umstand, dass die Beschwerdeführerin, welche über kein Vermögen
verfüge, vom Sozialdienst unterstützt werde, belege die prozessuale
Bedürftigkeit.

3.3. Die Beschwerdeführerin war mit Verfügung vom 17. März 2015 aufgefordert
worden, das Formular "Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege" auszufüllen und
mit den geforderten Belegen einzureichen. Das ausgefüllte Formular ging am 15.
April 2015 beim kantonalen Gericht ein. Entsprechend den Vorgaben des Formulars
(S. 5 Rubrik "Belege", zweite Variante ["Aktuelle Bestätigung des Sozialamts
über Beginn und Höhe der Unterstützungsleistungen" und "Aktuelles
Sozialhilfebudget des Sozialamts"]) legte die Beschwerdeführerin - nebst dem
bereits aufgelegten Sozialhilfebudget (Rahmenbudget) - eine unterzeichnete
Bestätigung des Sozialamtes vom 13. April 2015 auf, gemäss welcher sie seit
Dezember 2013 von der Sozialhilfe unterstützt werde. Angesichts des Umstands,
dass die Beschwerdeführerin sämtliche gemäss Formular geforderten Beweisstücke
- aktuelle Einkommensnachweise gehören nicht dazu - einreichte, kann ihr nicht
vorgeworfen werden, sie sei ihrer Mitwirkungsobliegenheit nicht nachgekommen.
Mithin hätte es an der Vorinstanz gelegen, die Beschwerdeführerin zur
Einreichung weiterer Unterlagen bezüglich der Bedürftigkeit anzuhalten, falls
sie Zweifel an der Prozessarmut hegte (vgl. Stefan Meichssner, Aktuelle Praxis
der unentgeltlichen Rechtspflege, Jusletter vom 7. Dezember 2009, Rz. 20 mit
Hinweis auf Urteil 5A_26/2008 vom 4. Februar 2008 E. 4.3). Eine solche
Aufforderung ist von Seiten des Gerichts nicht ergangen. Ohnehin ist die
Bedürftigkeit - entgegen der angefochtenen Verfügung - bereits anhand der
vorinstanzlich aufgelegten Unterlagen überprüfbar und zu bejahen: Stellt man
die (mittels des Sozialhilfebudgets) ausgewiesenen Positionen des
zivilprozessualen Zwangsbedarfs (ohne Berücksichtigung der geltend gemachten
Nebenkosten, monatlichen Berufsauslagen und ausserordentlichen Arztkosten) von
Fr. 2'670.- (um 30 % erhöhter Grundbetrag [Fr. 1'200.-] von Fr. 1'560.- [Lit. A
des Kreisschreibens Nr. 1 der Zivilabteilung des Obergerichts des Kantons Bern
und des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 25. Januar 2011 i.V.m. Ziff. I
des Kreisschreibens Nr. B1 des Obergerichts des Kantons Bern vom 1. April
2010]; Miete von Fr. 900.-; Krankenkassenprämien von Fr. 210.-) den im
Rahmenbudget aufgeführten Einnahmen von Fr. 2'500.- gegenüber, resultiert
bereits ein monatliches Manko von Fr. 170.-. Mithin hält die Verweigerung der
unentgeltlichen Rechtspflege wegen fehlender Bedürftigkeit vor Bundesrecht
nicht stand.

3.4. Zum anderen erachtete das kantonale Gericht die Beschwerde als
aussichtslos, weil gestützt auf die Beurteilung der RAD-Ärztin vom 29.
September 2014 seit Dezember 2013 keine Veränderung des Gesundheitszustands
erstellt sei, womit weiterhin vom bisherigen Zumutbarkeitsprofil ausgegangen
werden könne. Hiegegen wendet die Beschwerdeführerin ein, die behandelnde Dr.
med. B.________, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin und Pneumologie FMH,
habe die Gesundheitsverschlechterung hinreichend begründet. Indem die
Vorinstanz einzig auf die nicht fachärztliche Stellungnahme des RAD abstütze,
die ausschliesslich auf den Akten beruhe, verletze sie die Grundsätze der
Beweiswürdigung.

In den Akten finden sich im Wesentlichen zwei Berichte der behandelnden
Pneumologin Dr. med. B.________ vom 22. August 2014 und 19. Januar 2015 sowie
dazu verfasste Stellungnahmen der RAD-Ärztin Dr. med. C.________, Fachärztin
für Allgemeine Innere Medizin FMH, vom 29. September 2014 und 4. Februar 2015.
Die Pneumologin begründete die seit 21. Dezember 2013 postulierte
Gesundheitsverschlechterung (Arbeitsunfähigkeit von neu 50 % statt bisher 40 %)
im Wesentlichen mit der zunehmenden Verschlechterung der pulmonalen Situation
(Abnahme der exspiratorischen Einsekundenkapazität [FEV1]), der herabgesetzten
Leistungsfähigkeit bzw. chronischen Müdigkeit aufgrund der chronischen
Infektion im Respirationstrakt sowie mit dem gestiegenen täglichen
Therapieaufwand (drei Stunden pro Tag), welcher für die Erhaltung des aktuellen
Zustands notwendig sei. Demgegenüber hielt die RAD-Internistin eine 50%ige
Einschränkung für nicht nachvollziehbar, u.a. weil der geltend gemachte
Therapieaufwand über dem Durchschnitt von CF-Kranken liege. Sie befand, die
Beschwerdeführerin habe als Juristin nun einen Beruf, der von der physischen
Belastung her ein 100 %-Pensum zuliesse. Abzüglich zwei Stunden für die
tägliche Therapie und (allenfalls) eines Abzugs von 30 Minuten für den
Arbeitsweg resultiere eine Arbeitsunfähigkeit von maximal 31.5 %.

Mit Blick auf die summarisch wiedergegebenen, sich widersprechenden
Einschätzungen zur Arbeitsfähigkeit, wobei sich die Widersprüche nicht ohne
Weiteres auflösen lassen, und eingedenk der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
zum Beweiswert fachärztlicher Aussagen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit (Urteil 9C_942/2008 vom 16. März 2009 E. 5.3) bzw. von
versicherungsinternen ärztlichen Feststellungen (BGE 139 V 225 E. 5.2 S. 229)
kann die bei der Vorinstanz anhängig gemachte Beschwerde zumindest nicht als
von vornherein aussichtslos bezeichnet werden.

3.5. Zusammenfassend ist die Bedürftigkeit der Beschwerdeführerin erstellt und
das Rechtsmittel nicht aussichtslos. Die angefochtene Verfügung ist aufzuheben
und das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne
der Kostenbefreiung) für das vorinstanzliche Beschwerdeverfahren gutzuheissen.
Mit dem Entscheid in der Hauptsache wird das Gesuch um Gewährung der
aufschiebenden Wirkung gegenstandslos.

4. 
Die unterliegende Vorinstanz resp. der Kanton Bern hat keine Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 4 BGG), jedoch der Beschwerdeführerin eine
Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die Verfügung des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern vom 17. Juni 2015 wird aufgehoben und das Gesuch der
Beschwerdeführerin um unentgeltliche Prozessführung für das Beschwerdeverfahren
vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern gegen die Verfügung der IV-Stelle
Bern vom 12. Februar 2015 gutgeheissen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Der Kanton Bern hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle Bern und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. Oktober 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Furrer

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