Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 505/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_505/2015

Urteil vom 12. Oktober 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Advokatin Sonja Ryf,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Basel-Stadt,
Lange Gasse 7, 4052 Basel,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Basel-Stadt vom 20. Mai 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________ meldete sich im Juni 2012 bei der Invalidenversicherung zur
beruflichen Integration und/oder zum Bezug einer Rente an. Nach Abklärungen
(u.a. bidisziplinäres psychiatrisches und rheumatologisches Gutachten Dres.
med. B.________ und C.________ vom 21. und 24. Oktober 2012 sowie
pneumologisches Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle D.________, Spital
E.________, vom 2. September 2014) und nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren
verneinte die IV-Stelle Basel-Stadt mit Verfügung vom 31. Oktober 2014 einen
Rentenanspruch.

B. 
Die Beschwerde des A.________ wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Basel-Stadt nach zweifachem Schriftenwechsel mit Entscheid vom 20. Mai 2015 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 20. Mai 2015 sei aufzuheben und es seien ihm die gesetzlichen
Leistungen zu erbringen; das kantonale Sozialversicherungsgericht sei zu
verpflichten, ein polydisziplinäres Gutachten insbesondere in den
Fachdisziplinen Rheumatologie, Kardiologie, Pneumologie und Psychiatrie
anzuordnen, unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Die IV-Stelle Basel-Stadt ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt
für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Der Beschwerdeführer rügt, der vorinstanzliche Entscheid beruhe auf einem in
Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c
ATSG) unrichtig und unvollständig abgeklärten Sachverhalt (BGE 136 V 376 E.
4.1.1 S. 377), was Bundesrecht verletzte (Art. 95 lit. a BGG; Urteil 2C_647/
2013 vom 1. Mai 2014 E. 2.4). Trotz vom Hausarzt empfohlener interdisziplinärer
Begutachtung seien lediglich eine bidisziplinäre (psychiatrische und
rheumatologische) sowie eine monodisziplinäre (pneumologische) Expertise
eingeholt worden. Dementsprechend sei es zu sich widersprechenden
Schlussfolgerungen bezüglich Zumutbarkeit einer Verweistätigkeit aus
rheumatologischer und pneumologischer Sicht gekommen. Die abschliessende
Einschätzung eines Allgemeinmediziners vom regionalen ärztlichen Dienst (RAD)
bilde, entgegen der Auffassung der Vorinstanz, keine genügende
Entscheidungsgrundlage.

2.

2.1.

2.1.1. In BGE 139 V 349 E. 3.2 S. 352 hat das Bundesgericht bezüglich der
Abgrenzung der Anwendungsfelder polydisziplinärer Gutachten und mono- oder
bidisziplinärer Expertisen u.a. festgehalten, dass die grosse Vielfalt von
Begutachtungssituationen Flexibilität erfordert. Eine polydisziplinäre
Expertise ist u.a. auch dann einzuholen, wenn der Gesundheitsschaden zwar bloss
als auf eine oder zwei medizinische Disziplinen fokussiert erscheint, die
Beschaffenheit der Gesundheitsproblematik aber noch nicht vollends gesichert
ist. In begründeten Fällen kann von einer polydisziplinären Begutachtung
abgesehen und eine mono- oder bidisziplinäre durchgeführt werden, sofern die
medizinische Situation offenkundig ausschliesslich ein oder zwei Fachgebiete
beschlägt; weder dürfen weitere interdisziplinäre Bezüge (z.B. internistischer
Art) notwendig sein, noch darf ein besonderer arbeitsmedizinischer bzw.
eingliederungsbezogener Klärungsbedarf bestehen.

2.1.2. Im Weitern kann auch einem auf eigenen Untersuchungen beruhenden
RAD-Bericht nach Art. 49 Abs. 2 IVV Beweiswert zukommen, vergleichbar einem
externen medizinischen Sachverständigengutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232;
125 V 351 E. 3b/bb S. 353). In der Regel ist indessen eine solche (meist
polydisziplinäre) Expertise einzuholen, wenn eine medizinische Problemlage mit
ausgeprägt interdisziplinärem Charakter vorliegt, wenn der RAD nicht über die
fachlichen Ressourcen verfügt, um eine sich stellende Frage beantworten zu
können, oder wenn zwischen RAD-Bericht und allgemeinem Tenor im medizinischen
Dossier eine Differenz besteht, welche nicht offensichtlich auf
unterschiedlichen versicherungsmedizinischen Prämissen beruht (BGE 137 V 210 E.
1.2.1 S. 219). Schliesslich können selbst nicht auf eigenen Untersuchungen
beruhende Berichte und Stellungnahmen regionaler ärztlicher Dienste
beweiskräftig sein, sofern ein lückenloser Befund vorliegt und es im
Wesentlichen nur um die Beurteilung eines an sich feststehenden medizinischen
Sachverhalts geht (Urteil 4A_505/2012 vom 6. Dezember 2012 E. 3.6), mithin die
direkte fachärztliche Befassung mit der versicherten Person in den Hintergrund
rückt (Urteil 9C_25/2015 vom 1. Mai 2015 E. 4.1 mit Hinweisen).

2.2. Der Beschwerdeführer wurde psychiatrisch und rheumatologisch (Expertisen
Dres. med B.________ und C.________ vom 21. und 24. Oktober 2013) sowie
pneumologisch (Expertise der Medizinischen Abklärungsstelle D.________ vom 2.
September 2014) untersucht und begutachtet. Wie die Vorinstanz sodann nicht
offensichtlich unrichtig, für das Bundesgericht somit verbindlich festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG), waren bereits im Zeitpunkt der
Auftragserteilung an Dr. med. B.________ und Dr. med. C.________ eine
kardiologische Problematik (NSTEMI bei koronarer 2-Asterkrankung [RIVA, RCX];
Bericht Spital E.________, Klinik Innere Medizin, vom 1. Oktober 2012)
aktenkundig. Im Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle D.________ vom 2.
September 2014 wurde bei den medizinischen Massnahmen u.a. eine kardiale
Standortbestimmung erwähnt. Es besteht somit, was unbestritten ist, eine
mehrere medizinische Fachgebiete beschlagende gesundheitliche Problematik im
Sinne des in E. 2.1.1 hievor Gesagten. Die Vorinstanz hat die Voraussetzungen
für eine polydisziplinäre Begutachtung im Grundsatz bejaht, eine solche jedoch
als entbehrlich erachtet, da der medizinische Sachverhalt "im Ergebnis"
hinreichend abgeklärt erscheine. Ihre diesbezüglichen Erwägungen lassen
indessen einen wichtigen Aspekt ausser Acht:

2.2.1. Vorab ist unerheblich, dass sich der Beschwerdeführer nicht gegen die
bidisziplinäre (psychiatrische und rheumatologische) Begutachtung gewehrt
hatte. Im Übrigen beantragte sein Hausarzt in seinen Schreiben vom 17. Februar
und 5. Oktober 2014 auf die beiden Vorbescheide vom 13. Januar und 22.
September 2014 hin eine erneute umfassende (internistische bzw. medizinische)
Begutachtung. Ebenso wenig kann entscheidend sein, dass nach der
psychiatrischen und rheumatologischen Begutachtung bis zur Begutachtung durch
die Medizinische Abklärungsstelle D.________ einige Zeit verstrichen war und
eine eigentliche Konsensbesprechung zwischen den Experten gar nicht mehr
möglich war, wie die Vorinstanz ausführt. Jedenfalls stand nichts entgegen,
zumindest den Rheumatologen Dr. med. C.________ mit dem pneumologischen
Gutachten der Abklärungsstelle zu konfrontieren, da deren Einschätzungen der
Arbeitsfähigkeit nicht unwesentlich voneinander abwichen.

2.2.2. Gemäss Dr. med. C.________ besteht aus rheumatologischer Sicht eine
Arbeitsfähigkeit von 100 % für Tätigkeiten, bei denen der Versicherte nicht
über 10 kg heben, stossen oder ziehen, nicht dauernd in Zwangsstellungen oder
vornübergebeugt, kniend oder in der Hocke, und nicht nur sitzend oder nur
stehend arbeiten muss. Die Pneumologen der Medizinischen Abklärungsstelle
D.________ gehen ebenfalls von einer uneingeschränkten Arbeitsfähigkeit aus in
einer sitzenden, körperlich nicht belastenden, leichten Tätigkeit. Denkbar wäre
eine Chauffeur-Tätigkeit in reiner Fahrtätigkeit ohne Hilfe bei Montagen oder
Umzügen. Nach dieser Umschreibung umfasst das Belastungsprofil aus
pneumologischer Sicht lediglich sitzende oder vorwiegend im Sitzen auszuübende
Tätigkeiten. Solche Tätigkeiten sind aus rheumatologischer Sicht jedoch
ungeeignet, wie der Beschwerdeführer richtig bemerkt. Umgekehrt erscheint
fraglich, ob alle vom Bewegungsapparat grundsätzlich zumutbaren Tätigkeiten
auch aus pneumologischer Sicht in Betracht fallen. Die Abklärung der
Lungenfunktion vom 17. Juli 2014 zeigte - bei guter Kooperation - eine schwer
eingeschränkte Leistungsfähigkeit auf dem Fahrradergometer mit leicht bis
mittelschwer eingeschränkter maximaler Sauerstoffaufnahme
(medizinisch-theoretische Ateminvalidität von gut 50 %). Als Gründe wurden die
obstruktive Pneumopathie, eine inadäquate Hyperventilation sowie eine
chronotrope Inkompetenz genannt. In der Beschwerde wird vorgebracht, schnelles
Gehen über wenige Meter oder Treppensteigen würden zu massiv erhöhtem Puls,
Atembeschwerden und Schwindel führen.

2.2.3. Aus den Belastungsprofilen aus rheumatologischer und aus pneumologischer
Sicht lässt sich entgegen der Vernehmlassung der Beschwerdegegnerin kein
gesamtes Belastungsprofil gewinnen, dem ein genügend breites Spektrum an
zumutbaren Tätigkeiten auf dem in Betracht fallenden (ausgeglichenen)
Arbeitsmarkt zugeordnet werden könnte. Unter diesen Umständen konnte jedenfalls
eine abschliessende Aktenbeurteilung durch einen Allgemeinmediziner vom RAD
nicht genügen (vgl. E. 2.2.1 in fine). Auf dessen verknappte Umschreibung des
Belastungsprofils ("leichte, wechselbelastende Tätigkeiten") kann nach dem in
E. 2.2.2 Gesagten nicht abgestellt werden. Der angefochtene Entscheid tut dies,
womit er Bundesrecht verletzt (E. 1 vorne).

2.3. Im Sinne des Vorstehenden wird die Beschwerdegegnerin ergänzende
Abklärungen vorzunehmen haben und danach neu verfügen. Die Beschwerde ist im
Eventualstandpunkt begründet.

3. 
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art.
68 Abs. 2 BGG). Diese ist nach dem Normalansatz (Fr. 2'800.-) zu bemessen. Es
sind keine aussergewöhnlichen Umstände ersichtlich noch werden solche geltend
gemacht, die ein Abweichen davon rechtfertigten. Solche Gründe ergeben sich
auch nicht aus der eingereichten Honorarnote.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 20. Mai 2015 und die
Verfügung der IV-Stelle Basel-Stadt vom 31. Oktober 2014 werden aufgehoben. Die
Sache wird zu neuer Verfügung im Sinne der Erwägungen an die Verwaltung
zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Basel-Stadt zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. Oktober 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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