Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 4/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_4/2015          
{T 0/2}

Urteil vom 5. Mai 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Elisabeth Tribaldos,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

Sammelstiftung B.________,

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 12. November 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1953, arbeitete seit 1993 als selbstständiger Tapezierer.
Am 5. Dezember 2007 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Er gab an, durch Schmerzen im Rückenbereich und insbesondere
im Nacken unter starken Bewegungseinschränkungen zu leiden. Nach medizinischen
Abklärungen verneinte die IV-Stelle des Kantons Aargau einen Rentenanspruch
(Verfügung vom 23. März 2010). Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das
Versicherungsgericht des Kantons Aarau, auch gestützt auf die Ergebnisse der
aus gesundheitlichen Gründen abgebrochenen beruflichen Abklärung des Spitals
C.________ (Kurzbericht vom 23. Juli 2010) mit Entscheid vom 30. März 2011
teilweise gut und wies die Sache zur Neuverfügung zurück. Es befand, die
Grundlagen genügten weder für eine verlässliche Einschätzung des
Gesundheitszustandes noch für die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die
Arbeits- bzw. Leistungsfähigkeit. Die IV-Stelle holte in der Folge
Verlaufsberichte ein. Sie veranlasste ein polydisziplinäres (neurologisch/
rheumatologisch/psychiatrisch/neuropsychologisches) Gutachten der MEDAS (vom 8.
März 2013). Mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit diagnostizierten die
Experten eine chronische zerviko- und lumbospondylogene Symptomatik bei
Vorliegen verschiedener degenerativer Wirbelsäulenveränderungen. Eine
Persönlichkeitsstörung verneinten sie. Aufgrund der rheumatologischen
Schädigung sei die angestammte Tätigkeit nicht mehr zumutbar. In einer
wechselbelastenden leichten Arbeit bestehe eine Arbeits- und Leistungsfähigkeit
von 80 %. Mit Vorbescheid vom 18. April 2013 und Verfügung vom 11. Juni 2013
verneinte die IV-Stelle den Rentenanspruch (Invaliditätsgrad von 38 %).

B. 
Die von A.________ erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau mit Entscheid vom 12. November 2014 ab (Invaliditätsgrad von 30
%).

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen.
Er beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Die Vorinstanz sei
anzuweisen, eine öffentliche Verhandlung sowie ein gerichtliches Obergutachten
anzusetzen. Eventualiter sei der Entscheid aufzuheben und die Sache zur
nochmaligen Abklärung an die IV-Stelle zurückzuweisen.

Erwägungen:

1. 
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).
Seinem Urteil legt es den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz,
auf Rüge hin oder von Amtes wegen, berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine
Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich unrichtig, wenn
sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und augenfällig
unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Es liegt noch keine
offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere Lösung ebenfalls in
Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erschiene (vgl. BGE 129 I
8 E. 2.1 S. 9; Urteil 9C_967/2008 vom 5. Januar 2009 E. 5.1). Diese Grundsätze
gelten auch in Bezug auf die konkrete Beweiswürdigung (Urteil 9C_8/2015 vom 9.
April 2015 E. 1).

2.

2.1. Als Verletzung des rechtlichen Gehörs wird gerügt, das kantonale Gericht
habe den Antrag auf eine mündliche Verhandlung mit Befragung von Zeugen nicht
berücksichtigt, sondern ihn in antizipierter Beweiswürdigung abgewiesen, obwohl
auf eine öffentliche Verhandlung nicht explizit verzichtet worden sei.

2.2. Die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung (Art. 6 Ziff. 1 EMRK; BGE
137 I 16 E. 2.2 S. 18; 120 V 1 E. 3b S. 7) setzt voraus, dass der entsprechende
Parteiantrag wenigstens minimal begründet wurde (BGE 122 V 47 E. 3a und b S. 55
f.). Eine solche Begründung fehlte in der vorinstanzlichen Beschwerde. Es wurde
lediglich darauf hingewiesen, die IV-Stelle habe gewisse - bereits schriftlich
in den Akten beurkundete - Beweise nicht abnehmen wollen. Dies habe nun im
gerichtlichen Verfahren zu geschehen. Der Beschwerdeführer strebte die
öffentliche Verhandlung somit im Hinblick auf eine Beweisabnahme an. Der
Öffentlichkeitsgrundsatz beinhaltet indes keinen Anspruch darauf, dass
bestimmte Beweismittel öffentlich und in Anwesenheit der Parteien abgenommen
werden (vgl. Urteil 9C_49/2014 vom 29. Oktober 2014 E. 1).

3.

3.1. Weiter wird der Vorwurf einer mangelnden Qualitätskontrolle des Gutachtens
und darum die Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6
EMRK erhoben. Durch das "vorbehaltlose Akzeptieren des gutachterlichen Diktums
ohne eine neutrale und echte qualitative Inhaltskontrolle" sei der Anspruch auf
ein faires Verfahren verletzt worden. Es bestehe ein grosser Unterschied
zwischen der gutachterlichen Einschätzung und der Würdigung durch die
behandelnden Ärzte. Letztere seien sämtliche der Meinung, der Beschwerdeführer
sei aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur nicht in der Lage, sich in einer
neuen Arbeitsstelle zurechtzufinden. Es greife zu kurz, diese Differenz unter
Hinweis auf den höheren Beweiswert des Gutachtens aus dem Recht zu weisen. Im
Gutachten werde zwar gesagt, die Hilflosigkeit sei erlernt, aber mit keinem
Wort erklärt, ob und wie dies wieder verlernt werden könne.

3.2. "Die qualitative Kontrolle (des MEDAS-Gutachtens) durch eine unabhängige
Instanz" ist Bestandteil des gerichtlichen Verfahrens; die Anforderungen an den
Beweiswert ärztlicher Unterlagen stellt eine frei überprüfbare Rechtsfrage dar
(Urteil 9C_559/2012 vom 27. November 2012 E. 1.3). In formeller Hinsicht ist
zudem auf die zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz (E. 2.1 des
vorinstanzlichen Entscheides) hinzuweisen.

Wenn sich der Beschwerdeführer auf Berichte behandelnder Ärzte beruft, ist
zunächst zu berücksichtigen, dass solche Berichte nach der Rechtsprechung
aufgrund der auftragsrechtlichen Vertrauensstellung zum Patienten mit Vorbehalt
zu würdigen sind (BGE 125 V 351 E. 3b/cc S. 353). Die unterschiedliche
Beurteilung ergibt sich aus der Divergenz zwischen Behandlungs- und
Abklärungsauftrag (vgl. dazu Urteil 8C_260/2011 vom 25. Juli 2011 E. 5.2). Hier
erschöpften sich die Abweichungen im Wesentlichen auch in einer anderen
Einschätzung des gleichen Sachverhaltes. Zudem kann eine psychiatrische
Exploration von der Natur der Sache her nicht ermessensfrei erfolgen. Sie
eröffnet dem begutachtenden Psychiater praktisch immer einen Spielraum für
verschiedene medizinisch-psychiatrische Interpretationen, was zulässig und zu
respektieren ist, sofern der Experte - wie hier - lege artis vorgegangen ist.
Daher kann es nicht angehen, eine medizinische Administrativ- oder
Gerichtsexpertise stets dann in Frage zu stellen und zum Anlass weiterer
Abklärungen zu nehmen, wenn die behandelnden Ärzte zu unterschiedlichen
Einschätzungen gelangen oder an vorgängig geäusserten abweichenden Auffassungen
festhalten (BGE 124 I 170 E. 4 S. 175; Urteil 9C_794/2012 vom 4. März 2013 E.
4.2 mit Hinweisen).
Soweit der Beschwerdeführer im Bezug auf sich von "sozial inadäquate (r)
Verhaltensweise" spricht, so findet sich eine solche Qualifikation weder
explizit noch implizit im MEDAS-Gutachten. Darin war daher auch nicht zu
erörtern, wie eine solche Verhaltensweise abgelegt werden kann.

Der Vorinstanz lässt sich im vorliegenden Punkt keine Bundesrechtswidrigkeit
vorwerfen.

4.

4.1. Des Weiteren wird gerügt, die Vorinstanz habe durch die Nichtvornahme
eines leidensbedingten Abzuges das Invalideneinkommen fehlerhaft festgelegt.
Der Beschwerdeführer sei im Verfügungszeitpunkt sechzig Jahre alt gewesen. Er
leide an verschiedenen Erkrankungen und verfüge über eine schwierige
Persönlichkeitsstruktur. Ein Arbeitgeber und Kollegen müssten deswegen flexibel
und tolerant sein. Nebst Erschwernissen persönlicher und arbeitsmarktlicher Art
(Konkurrenz zu jüngeren und gesunden Bewerbern, welche weniger Sozialleistungen
kosteten) müsste er sich mit einem unterdurchschnittlichen Lohn zufrieden
geben. Die Argumentation der Vorinstanz würde deshalb auf eine generelle
Verweigerung des Anspruchs auf einen leidensbedingten Abzug hinauslaufen, was
per se eine Verletzung von Bundesrecht darstelle.

4.2. Praxisgemäss kann von dem anhand der LSE-Tabellenlöhne ermittelten
Invalideneinkommen unter bestimmten Voraussetzungen ein leidensbedingter Abzug
vorgenommen werden. Dieser soll persönlichen und beruflichen Umständen
(leidensbedingte Einschränkung, Alter, Dienstjahre, Nationalität/
Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad) Rechnung tragen, welche negative
Auswirkungen auf die Lohnhöhe der gesundheitlich beeinträchtigten Person haben
können. Der Einfluss sämtlicher Merkmale auf das Invalideneinkommen ist nach
pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen, wobei der Abzug auf höchstens
25 % zu begrenzen ist (BGE 126 V 75 und seitherige Entscheide). Ob ein
leidensbedingter Abzug vorzunehmen ist, ist eine vom Bundesgericht frei
überprüfbare Rechtsfrage. Die Höhe des vorgenommenen Abzuges hingegen kann das
Bundesgericht lediglich auf Überschreitung, Missbrauch und Unterschreitung des
vorinstanzlichen Ermessens überprüfen (vgl. BGE 137 V 71 E. 5.1 S. 72 mit
Hinweis).

4.3. Die Vorinstanz hat einlässlich begründet, warum sie die Voraussetzungen
für einen leidensbedingten Abzug nicht erfüllt sah; darauf kann verwiesen
werden (vorinstanzlicher Entscheid E. 3.3.3). Sie hat die Rechtsfrage nach dem
leidensbedingten Abzug richtig beantwortet, insbesondere ist sie auf die
individuellen Umstände des Beschwerdeführers eingegangen. Selbst wenn sie den
von der Verwaltung gewährten Abzug von 10 % bestätigt hätte, hätte der
Versicherte bei dem vorinstanzlichen Lohnvergleich, der in der Beschwerde im
Übrigen unbestritten geblieben ist,einen Invaliditätsgrad von lediglich 37 %
erreicht, was auch keinen Rentenanspruch eingeräumt hätte.

5. 
Die Beschwerde ist offensichtlich unbegründet. Das vorliegende Urteil erfolgt
deshalb mit teilweisem Verweis auf den angefochtenen Entscheid (Art. 109 Abs. 2
lit. a BGG).

6. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem
unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 65 Abs. 4 lit. a i.V. mit Art.
66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Sammelstiftung B.________
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. Mai 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Schmutz

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