Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 497/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_497/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 22. Dezember 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner,
Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Maron,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 13. Mai 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1985, erlitt im Alter von drei Monaten eine
Zerebalschädigung und ist seither wegen deren Folgen eingeschränkt. Die
Invalidenversicherung erbrachte verschiedentlich Leistungen. Seit 1. Oktober
2005 bezog A.________ eine ganze Invalidenrente. Nachdem sie am 9. Januar 2013
Mutter eines Sohnes geworden war, veranlasste die IV-Stelle des Kantons Zürich
eine Abklärung der beeinträchtigten Leistungsfähigkeit in Beruf und Haushalt
(Bericht vom 13. Juni 2013). Mit Verfügung vom 6. November 2013 setzte sie die
bisherige ganze auf eine Dreiviertelsrente herab.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde von A.________ wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 13. März 2015
ab.

C. 
A.________ beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und weiterhin die Zusprechung einer
ganzen Invalidenrente. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ersucht sie um
Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht wie
auch das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz kann es
auf Rüge hin oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG und Art. 97 Abs. 1 BGG).

1.2. Eine Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich
unrichtig, wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und
augenfällig unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Es liegt noch keine
offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere Lösung ebenfalls in
Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erschiene. Diese
Grundsätze gelten auch in Bezug auf die konkrete Beweiswürdigung (statt vieler:
Urteil 8C_619/2014 vom 13. April 2015 E. 2.2 mit Hinweisen).

2. 

2.1. Das kantonale Gericht erwog, nach der Mutterschaft der Beschwerdeführerin
im Januar 2013 sei die Beschwerdegegnerin zu einer Statusüberprüfung gehalten
gewesen, da die Geburt eines Kindes eine erhebliche Veränderung der
erwerblichen Auswirkungen mit sich bringen könne. Dass die noch nie im ersten
Arbeitsmarkt erwerbstätig gewesene Versicherte mit der Frage nach der
hypothetischen Erwerbstätigkeit wenig habe anfangen können, sei verständlich.
Es lasse sich allein daraus aber nicht schliessen, sie wäre auch nach der
Geburt vollzeitlich erwerbstätig geblieben. Die beschwerdegegnerische
Qualifikation der Versicherten als zu 45 % im Erwerb und zu   55 % im Haushalt
Tätige stütze sich in nachvollziehbarer Weise auf die erhältlich gewesenen
Angaben der Versicherten und ihrer Familie und berücksichtige die Gegebenheiten
des Einzelfalles. Dass die Neuqualifikation von Vätern seltener erfolge, bilde
die immer noch gültige Realität ab, wonach mehr Frauen als Männer nach der
Geburt Teilzeit arbeiten könnten, wollten oder dürften. Eine Diskriminierung
der Beschwerdeführerin sei nicht ersichtlich.

2.2. Die Beschwerdeführerin rügt zunächst eine Verletzung ihres Anspruchs auf
rechtliches Gehör. Das kantonale Gericht habe zu Unrecht darüber hinweg
gesehen, dass es mit Blick auf ihr Unvermögen, die Frage nach der
hypothetischen Erwerbstätigkeit zu beantworten, nicht rechtens gewesen sei,
eine Haushaltabklärung vorzunehmen. Sachlich sei das Übergehen der
Urteilsunfähigkeit willkürlich und nicht haltbar. Unter Berufung auf das Urteil
des EGMR Schuler-Zgraggen gegen Schweiz vom 24. Juni 1993, in: EuGRZ 1996 S.
604 Ziff. 61 ff. (= Pra 1994 Nr. 24 S. 86) macht sie geltend, die Vorinstanz
habe zu Unrecht auf allgemeine Überlegungen abgestellt und das
Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 3 BV sowie Art. 14 in Verbindung mit
Art. 6 EMRK verletzt. Zu Unrecht argumentiere das kantonale Gericht mit der
Quote teilzeitlich erwerbstätiger Väter. Streitig sei einzig die (Zulässigkeit
der) Rentenrevision nach einer Geburt. Ihr sei nicht bekannt, dass bereits
einmal bei einem Mann nach einer Geburt eine Rentenrevision erfolgte wäre. Nach
Einführung der Mutterschaftsentschädigung am 1. Juli 2005 sei für Frauen ein
weiterer Grund entfallen, das Arbeitspensum zu reduzieren. Ihr Fall einer
Invalidität seit Babyalter zeige die Diskriminierung besonders klar, da ein
Mann in der gleichen Situation (von Beginn weg hypothetische Methodenwahl)
niemals eine Rentenreduktion wegen einer Änderung der Bemessungsmethode
gewärtigen müsste.

3. 

3.1. Die Statusfrage, das heisst ob eine versicherte Person im Gesundheitsfall
ganz, teilzeitlich oder überhaupt nicht erwerbstätig wäre, ist hypothetisch zu
beurteilen, unter Berücksichtigung ihrer ebenfalls hypothetischen
Willensentscheidungen. Diese Entscheidungen sind als innere Tatsachen einer
direkten Beweisführung nicht zugänglich und müssen in aller Regel aus äusseren
Indizien erschlossen werden. Soweit die Beurteilung hypothetischer
Geschehensabläufe auf Beweiswürdigung beruht, handelt es sich um eine Tatfrage,
selbst wenn darin auch Schlussfolgerungen aus der allgemeinen Lebenserfahrung
mitberücksichtigt werden. Die auf einer Würdigung konkreter Umstände basierende
Festsetzung des hypothetischen Umfanges der Erwerbstätigkeit ist für das
Bundesgericht daher verbindlich, ausser wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung beruht. Rechtsfragen sind hingegen Folgerungen,
die ausschliesslich - losgelöst vom konkreten Sachverhalt - auf die allgemeine
Lebenserfahrung gestützt werden oder die Frage, ob aus festgestellten Indizien
mit Recht auf bestimmte Rechtsfolgen geschlossen worden ist (BGE 132 V 393 E.
3.3 S. 399; Urteil 9C_287/2013 E. 3.5 mit Hinweisen).

3.2. Es steht fest, dass die Versicherte invaliditätsbedingt nie im ersten
Arbeitsmarkt erwerbstätig war und folglich auch nicht wissen kann, wie ein
Leben bei voller Gesundheit wäre. Das dokumentierte Unvermögen der
Beschwerdeführerin, die Frage nach der hypothetischen Erwerbstätigkeit ohne
gesundheitliche Beeinträchtigung zu beantworten, ändert entgegen den Vorbringen
in der Beschwerde aber nichts an der grundsätzlichen Zulässigkeit einer
Haushaltabklärung. Die Überforderung der Versicherten mit der Vorstellung eines
(Berufs-) Lebens im Gesundheitsfall verbietet indes immerhin, dass unbesehen
auf ihre Aussagen abgestellt werden kann. Massgebend für das Ausmass der
Erwerbstätigkeit als Gesunde sind vielmehr in erster Linie die konkreten
Lebensumstände während der letzten Jahre (z.B. Urteil I 253/05 vom 9. Dezember
2005 E. 4.2.2). Das kantonale Gericht hat diesen Umständen, wie nachfolgend
dargelegt wird (E. 4.2 hienach), hinreichend Rechnung getragen. Entgegen den
Einwänden in der Beschwerde ist nicht ersichtlich, inwiefern das Gericht
Bundesrecht, namentlich die Abklärungspflicht (Art. 43 ATSG) oder den
Gehörsanspruch (Art. 29 BV), verletzt haben soll.

4. 

4.1. Auf die in allgemeiner Hinsicht vorgebrachte Kritik an der Rechtsprechung
zur gemischten Invaliditätsbemessungsmethode ist nicht näher einzugehen (z.B.
Urteil 9C_307/2015 vom 1. Dezember 2015 E. 6.2.1 mit Hinweisen). Das
Bundesgericht hat die diesbezüglichen Grundsätze in BGE 137 V 337 bestätigt und
insbesondere erkannt, dass weder der Anspruch auf Achtung des Privat- und
Familienlebens nach Art. 13 Abs. 1 BV und Art. 8 EMRK, noch die Prinzipien der
Gleichbehandlung und des Diskriminierungsverbots gemäss Art. 8 BV verletzt
werden (BGE 141 V 15 E. 3.2 S. 20 f. mit Hinweisen; 137 V 334 E. 6 S. 346 ff.;
vgl. zudem Urteil 8C_685/2014 vom 22. Mai 2015 E. 5.3 mit Hinweisen).
Namentlich hat sich das Bundesgericht schon mehrfach mit der grundsätzlichen
Kritik an der von den IV-Stellen praktizierten (systematischen) Überprüfung der
Invalidität im Falle der Geburt eines Kindes nur bei Frauen (mit der möglichen
Folge einer Aufhebung oder Herabsetzung der Rente) auseinandergesetzt und
darauf hingewiesen, dass nicht der Umstand der Familiengründung an sich
allenfalls zu einer Rentenrevision führt. Die Familiengründung bietet lediglich
Anlass für Abklärungen in Bezug auf die Statusfrage. Einzig wenn diese, wie
hier, ergeben, dass die rentenbeziehende Person - unabhängig ihres Geschlechts
- ihre Erwerbstätigkeit ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen auf Grund der
Geburt des Kindes tatsächlich reduziert oder aufgegeben hätte, steht eine
Abänderung der bisherigen Rente im Raum (z.B. Urteil 8C_817/2013 vom 28. Mai
2014 E. 4.3). Ob sich bei einem Mann in vergleichbarer Lage die Statusfrage
nicht stellt, wie in der Beschwerde geltend gemacht wird, kann offen bleiben,
weil damit jedenfalls nicht eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebots (Art. 8
Abs. 1 BV) gerügt werden kann (Art. 106 Abs. 2 BGG; Urteil 9C_915/2012 vom 15.
Mai 2013 E. 4.2.1 mit Hinweisen auf BGE 133 II 249 E. 1.4.2 S. 254 und 137 V
334).

4.2. Zutreffend ist, dass eine erwerbstätig gewesene Versicherte nach der
Geburt ihres ersten Kindes nicht neu als Hausfrau eingestuft werden darf mit
der einzigen Begründung, nach der allgemeinen Lebenserfahrung würden zahlreiche
Frauen ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen, solange die Kinder noch umfassende
Pflege und Erziehung benötigen (vgl. Urteil 9C_150/2012 vom 30. August 2012 E.
3.4 mit Hinweisen). Anders als im bereits zitierten Fall Schuler-Zgraggen
unterstellte das kantonale Gericht der Beschwerdeführerin aber keine 100%ige
Tätigkeit im Aufgabenbereich allein mit dem Argument, Mütter gewordene Frauen
würden ihre Erwerbstätigkeit aufgeben. Die Vorinstanz schützte die von ihr
nicht bundesrechtswidrig für beweistauglich erachtete Beurteilung der
Abklärungsperson, wonach von einer 45 %igen Tätigkeit im Erwerbsbereich und
einer 55 %igen Tätigkeit im Aufgabenbereich auszugehen sei mit sachlicher
Begründung, indem sie namentlich die familiären und erwerblichen Verhältnisse,
die Erziehungs- und Betreuungsaufgaben und die beruflichen Besonderheiten
(Tätigkeit im geschützten Bereich) der Versicherten berücksichtigte sowie den
Schwierigkeiten der bereits seit frühester Kindheit invaliden
Beschwerdeführerin bei der Abschätzung einer hypothetischen Erwerbsfähigkeit
Rechnung trug. Nicht zu beanstanden ist, dass das kantonale Gericht zum Schluss
gelangte, die Beschwerdeführerin habe bei ihrer Tätigkeit im geschützten Rahmen
(immerhin) eine Vorstellung von Voll- und Teilzeittätigkeit erhalten. Ausserdem
habe die Beschwerdeführerin eine vollzeitliche Erwerbstätigkeit im
Gesundheitsfall nie erwähnt, sondern lediglich ausgeführt, es wäre wieder ihr
Wunsch, zu arbeiten. Dem Abklärungsbericht vom 13. Juni 2013 ist zusätzlich zu
entnehmen, dass die Beschwerdeführerin namentlich eine regelmässige
Kinderbetreuung durch ihre Eltern und ihren Ehemann wegen deren
Erwerbstätigkeit ausgeschlossen, und die Betreuung des Sohnes in einer
Kinderkrippe aus finanziellen Gründen (geringer Lohn am geschützten
Arbeitsplatz) als sinnlos erachtet hatte. In Würdigung aller Umstände kann die
im angefochtenen Entscheid für überwiegend wahrscheinlich erachtete Aufteilung
von Haushalt (55 %) und Erwerb (45 %) nicht als bundesrechtswidrig bezeichnet
werden.

5. 
Dem Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege ist
stattzugeben, da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1
BGG). Die Beschwerdeführerin wird jedoch darauf hingewiesen, dass sie der
Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist
(Art. 64 Abs. 4 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Jürg Maron wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Rechtsanwalt Jürg Maron wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von
Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. Dezember 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Bollinger Hammerle

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