Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 483/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_483/2015

Urteil vom 28. Juli 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Williner.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Advokat Nikolaus Tamm,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel,
Beschwerdegegnerin,

Pensionskasse B.________,

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Basel-Stadt vom 28. April 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________ meldete sich im April 2011 unter Hinweis auf eine im Jahre 2005
erfolgte Operation einer Diskushernie bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Basel-Stadt führte erwerbliche und
medizinische Abklärungen durch. Mit Verfügung vom 10. Juni 2014 sprach die
IV-Stelle A.________ nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren eine befristete
Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung für den Zeitraum vom 1. März 2012
bis zum 30. September 2013 zu.

B. 
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt wies die dagegen
erhobene Beschwerde des A.________, mit welcher dieser die Zusprechung einer
unbefristeten Invalidenrente beantragt hatte, ab. Es folgte dem von der
IV-Stelle in der Vernehmlassung gestellten Antrag auf eine reformatio in peius,
hob die Verfügung vom 10. Juni 2014 auf und stellte fest, es bestehe kein
Anspruch auf Invalidenrente.

C. 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt in erster Linie die Aufhebung des angefochtenen Urteils. 

Erwägungen:

1. 
Der Beschwerdeführer beanstandet vorab die Vorgehensweise des kantonalen
Gerichts in prozessualer Hinsicht. Dieses habe die reformatio in peius nicht
rechtsgenüglich angedroht, indem es lediglich darauf hingewiesen habe, dass die
Verwaltung eine Schlechterstellung befürworte und der Beschwerdeführer deshalb
um Mitteilung ersucht werde, ob er seine Beschwerde zurückziehen wolle. Dieses
Vorgehen erfülle die rechtsprechungsgemässen Anforderungen nicht, weshalb der
angefochtene Entscheid vom 28. April 2015 bereits aus formellen Gründen
aufzuheben sei.

2. 
Nach Art. 61 ATSG bestimmt sich das Verfahren vor dem kantonalen
Versicherungsgericht unter Vorbehalt von Art. 1 Abs. 3 VwVG nach kantonalem
Recht, wobei es den in Art. 61 lit. a-i ATSG umschriebenen Anforderungen zu
genügen hat. Gemäss Art. 61 lit. d ATSG ist das Versicherungsgericht an die
Begehren der Parteien nicht gebunden; es kann eine Verfügung zu Ungunsten der
Beschwerde führenden Person ändern oder dieser mehr zusprechen, als sie
verlangt hat, wobei es den Parteien vorher Gelegenheit zur Stellungnahme gibt.
Allgemein hat nach der auf den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2
BV) gestützten Rechtsprechung eine Behörde, die beabsichtigt, auf ein
Rechtsmittel hin zu einer reformatio in peius zu schreiten, die betroffene
Partei vorgängig darauf aufmerksam zu machen und ihr zum einen Gelegenheit zu
einer Stellungnahme einzuräumen und sie zum anderen auf die Möglichkeit des
Beschwerderückzugs hinzuweisen (RKUV 2004 Nr. U 520 S. 444 E. 2.2 mit Hinweis
auf BGE 122 V 166 E. 2a und b S. 167).

3.

3.1. Nachdem der Beschwerdeführer gegen die Zusprache einer befristeten
Dreiviertelsrente (Invaliditätsgrad 61 %) beim kantonalen Gericht Beschwerde
erhoben und um eine unbefristete Invalidenrente ersucht hatte, beantragte die
IV-Stelle in der Vernehmlassung vom 18. August 2014 insofern eine
Schlechterstellung des Beschwerdeführers, als dieser keinen Anspruch auf eine
Invalidenrente habe. Die Verwaltung begründete ihren Antrag damit, dass dem
Beschwerdeführer bereits ab Juli 2011 eine Arbeitsfähigkeit (recte:
Arbeitstätigkeit) im Umfang von 50 % zumutbar gewesen sei und er spätestens ab
Januar 2012 nach Durchführung der zumutbaren medizinischen Massnahmen ein
rentenausschliessendes Einkommen hätte erzielen können.

Das kantonale Gericht stellte dem Beschwerdeführer am 21. August 2014 die
Beschwerdeantwort zu und ersuchte gleichzeitig um Mitteilung, ob er die
Beschwerde zurückziehen wolle oder nicht. Dieser erklärte mit Schreiben vom 29.
August 2014 sein Festhalten am ergriffenen Rechtsmittel, worauf die Vorinstanz
einen zweiten Schriftenwechsel durchführte. Mit Entscheid vom 28. April 2015
wies das kantonale Gericht die Beschwerde ab, wobei es die Verfügung vom 10.
Juni 2014 aufhob und feststellte, es bestehe kein Anspruch auf eine
Invalidenrente.

3.2. Wie in der Beschwerde unter Hinweis auf das Urteil 8C_765/2013 vom 3. März
2014 richtig eingewendet wird, vermag ein Beschwerdeführer allein aufgrund
dessen, dass die Gegenpartei in der Beschwerdeantwort eine reformatio in peius
beantragt hat und ihm das Gericht unter Hinweis einzig darauf eine Frist zur
Einreichung einer Stellungnahme angesetzt hat, nicht abzuschätzen, ob dieses
tatsächlich erwägt, seine Rechtsstellung in Übereinstimmung mit dem
beschwerdegegnerischen Rechtsbegehren zu seinen Ungunsten zu ändern. Es kann
von einer versicherten Person nicht verlangt werden, den Entscheid über einen
Rückzug des Rechtsmittels rein vorsorglich treffen zu müssen, ohne zu wissen,
ob das Gericht selbst eine reformatio in peius für möglich erachtet, und so
Gefahr zu laufen, eine Beschwerde zurückzuziehen, die - wenn sie daran
festhielte - gutgeheissen würde. Bei Vorliegen eines Antrags der Gegenpartei
auf Vornahme einer reformatio in peius darf sich ein Gericht nach der Praxis
nicht damit begnügen, die versicherte Person zur Stellungnahme zu den
Argumenten des Versicherungsträgers aufzufordern, sondern ist verpflichtet,
diese ausdrücklich auf den Umstand aufmerksam zu machen, dass es selber eine
Schlechterstellung in Erwägung ziehe, und ihr Gelegenheit zu geben, darauf zu
reagieren (RKUV 2004 Nr. U 520 S. 445 E. 3.2; Urteile 8C_765/2013 vom 3. März
2014 E. 3.1 und I 868/05 vom 11. August 2006 E. 3.2.1).

3.3. Obwohl das Schreiben der Vorinstanz vom 21. August 2014 nicht aktenkundig
ist, lässt sich der Beschwerdeschrift und dem Protokoll der Vorinstanz
übereinstimmend entnehmen, dass sich das kantonale Gericht mit den von der
Verwaltung vorgebrachten Gründen, die im Falle einer materiellen gerichtlichen
Beurteilung zu einer Schlechterstellung des Beschwerdeführers führen könnten,
nicht erkennbar im wie dargelegt unpräjudiziellen Sinn auseinandergesetzt hat.
Insbesondere hat es nicht deutlich gemacht, dass es - das Gericht - die von der
Verwaltung beantragte Schlechterstellung im Rahmen einer späteren materiellen
Beurteilung für möglich hält. Stattdessen hat die Vorinstanz einzig darauf
hingewiesen, die Verwaltung befürworte die reformatio in peius. Eine solche
Mitteilung, welche die Durchführung eines Verfahrens gemäss BGE 122 V 166
einzig mit dem beschwerdegegnerischen Begehren begründet, wird den
rechtsprechungsgemässen Vorgaben nicht gerecht (Urteil I 868/05 vom 11. August
2006 E. 3.2.2). Es war somit für den Beschwerdeführer nicht zu erkennen, ob das
kantonale Gericht die beantragte Schlechterstellung im Rahmen einer gerichtlich
vorgenommenen Vorabwürdigung für möglich hält oder nicht. Insofern ist die
reformatio in peius offenkundig nicht rechtsgenüglich angekündigt worden.

3.4. Der angefochtene Entscheid vom 28. April 2015 verletzt Art. 61 lit. d
ATSG. Eine letztinstanzliche Heilung dieses Verfahrensmangels fällt nicht in
Betracht (vgl. BGE 107 V 246 E. 3 S. 249 f.). Die Vorinstanz, an welche die
Sache zurückzuweisen ist, wird vor einem neuen Entscheid dem Beschwerdeführer
die Möglichkeit einer reformatio in peius rechtsgenüglich anzeigen und ihm
erneut Gelegenheit zur Stellungnahme sowie zum Rückzug der Beschwerde geben.

4. 
Die Beschwerde ist offensichtlich begründet, weshalb sie im Verfahren nach Art.
109 BGG mit summarischer Begründung erledigt wird. Auf einen Schriftenwechsel
wird angesichts des Verfahrensausgangs, der auf formellen Gründen beruht,
verzichtet. Die Einholung einer Vernehmlassung zur Beschwerde käme einem
Leerlauf gleich und würde nur weitere Kosten verursachen. Damit ist aus Gründen
der Prozessökonomie ein Schriftenwechsel nicht erforderlich (Art. 102 Abs. 1
a.A. BGG; vgl. z.B. 9C_702/2014 vom 1. Dezember 2014 E. 5).

5. 
Eine Rückweisung zu erneutem Entscheid mit offenem Ausgang gilt als Obsiegen (
BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271). Der Beschwerdeführer hat Anspruch auf eine
Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG). Angesichts des bisherigen Verlaufes
des Verfahrens sowie der klaren Rechtslage hat die Vorinstanz die Pflicht zur
Justizgewährleistung verletzt. Damit greift das Verursacherprinzip (Art. 68
Abs. 4 BGG in Verbindung mit Art. 66 Abs. 3 BGG). Die Parteientschädigung geht
somit nicht zu Lasten der Beschwerdegegnerin, sondern des Kantons Basel-Stadt.
Dasselbe gilt für die Gerichtskosten.
 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Basel-Stadt vom 28. April 2015 wird aufgehoben. Die Sache wird zu
neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Kanton Basel-Stadt auferlegt.

3. 
Der Kanton Basel-Stadt hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Pensionskasse B.________, dem
Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 28. Juli 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Williner

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