Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 482/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_482/2015

Urteil vom 22. September 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Verfahrensbeteiligte
A.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Daniel Frischknecht, Züst, Gmünder & Partner,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 28. Mai 2015.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügungen vom 5. April und 23. November 2006 sprach die IV-Stelle des
Kantons St. Gallen dem 1971 geborenen A.________ mit Wirkung ab 1. Dezember
2004 eine ganze Rente der Invalidenversicherung und mit Wirkung ab 1. Mai 2005
eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades zu. Sie
bestätigte die beiden Ansprüche revisionsweise (Mitteilungen vom 23. März und
5. Mai 2009).
Im Rahmen eines weiteren von Amtes wegen eingeleiteten Revisionsverfahrens hob
die IV-Stelle die Hilflosenentschädigung per 30. April 2014 auf (Verfügung vom
20. März 2014). Des Weitern verfügte sie am 6. März 2015 - nach Observation des
Versicherten und nach Gewährung des rechtlichen Gehörs zum vorgesehenen
Entscheid (Stellungnahme vom 23. Februar 2015) - die sofortige vorsorgliche
Renteneinstellung.

B. 
Die vom Versicherten mit dem Antrag auf Aufhebung der Verfügung vom 6. März
2015 und Weiterausrichtung der ganzen Invalidenrente erhobene Beschwerde wies
das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 28. Mai 2015
ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und das Rechtsbegehren stellen, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und es
sei ihm weiterhin ab 1. März 2015 eine ganze Rente auszurichten. Eventualiter
sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Erwägungen:

1. 
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein
Rechtsmittel zulässig ist (BGE 141 II 113 E. 1 S. 116; 140 I 252 E. 1 S. 254).

2.

2.1. Die Vorinstanz wies die vom Versicherten gegen die sofortige vorsorgliche
Renteneinstellung (Verfügung vom 6. März 2015) erhobene Beschwerde ab. Da ihr
Entscheid das Verfahren nicht abschliesst, liegt kein Endentscheid im Sinne von
Art. 90 BGG vor, sondern ein Vor- oder Zwischenentscheid über die Anordnung
einer vorsorglichen Massnahme im Sinne von Art. 93 BGG (BGE 137 III 324 E. 1.1
S. 327 unten f.). Derartige Zwischenentscheide sind beim Bundesgericht
anfechtbar, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können
(Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) und wenn auch in der Hauptsache die Beschwerde an
das Bundesgericht offensteht (Grundsatz der Einheit des Prozesses; BGE 133 III
645 E. 2.2 S. 647 f.). Der nicht wieder gutzumachende Nachteil im Sinne des
Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG muss grundsätzlich rechtlicher Natur sein, d.h. auch
durch einen günstigen Endentscheid nicht mehr behoben werden können; eine rein
tatsächliche oder wirtschaftliche Erschwernis genügt in der Regel nicht (BGE
137 V 314 E. 2.2.1 S. 317 mit Hinweisen).

2.2. Vorsorgliche Massnahmen begründen einen nicht wieder gutzumachenden
Nachteil, wenn dadurch ein bestimmtes Handeln verboten wird, welches faktisch
nicht nachträglich rückgängig gemacht werden kann. Demgegenüber hat der bloss
vorläufige Entzug finanzieller Leistungen in der Regel keinen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil zur Folge, was auch für die vorsorgliche Einstellung
einer Rentenzahlung gilt. Denn wenn sich im Revisionsverfahren ergibt, dass der
Rentenanspruch weiterhin begründet ist, erfolgt für die ganze Dauer der
vorsorglichen Einstellung eine Rentennachzahlung samt Zins (SVR 2013 IV Nr. 30
S. 87, 8C_978/2012 E. 6.4; 2011 IV Nr. 12 S. 32, 9C_45/2010 E. 1.2, je mit
Hinweisen; Urteil 9C_324/2012 vom 13. Juni 2012 E. 2.2; HANSJÖRG SEILER, in:
Waldmann/Weissenberger [Hrsg.], VwVG, Praxiskommentar zum Bundesgesetz über das
Verwaltungsverfahren, 2009, N. 70 f. zu Art. 55 und N. 54 zu Art. 56 VwVG).

3.

3.1. Nach Auffassung des Beschwerdeführers hat die vorsorgliche
Renteneinstellung bei ihm - abweichend von der Rechtsprechung (E. 2.2) - einen
nicht wieder gutzumachenden Nachteil zur Folge. Er macht geltend, durch die
vorsorgliche Renteneinstellung sei er gezwungen, sich beim Sozialamt weiter zu
verschulden, was aufgrund der bereits bestehenden Schulden mit grosser
Wahrscheinlichkeit dazu führe, dass seine Aufenthaltsbewilligung B, die am 10.
Mai 2015 abgelaufen sei, nicht verlängert und er aus der Schweiz ausgewiesen
werde.

3.2. Es trifft zwar zu, dass Geldleistungen wie die Invalidenrente geeignet
sind, die Sozialhilfeabhängigkeit zu vermeiden oder zu verringern, so dass die
Rentenberechtigung die Frage, ob eine Aufenthaltsbewilligung zu verlängern ist,
beeinflussen kann (Urteil 2C_1102/2013 vom 8. Juli 2014 E. 5.3). Allerdings ist
bei der Frage nach der Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung stets eine
Verhältnismässigkeitsprüfung durchzuführen, in deren Rahmen den Umständen des
Einzelfalles Rechnung zu tragen ist, wobei unter anderem auch das Verschulden
an der Sozialhilfeabhängigkeit berücksichtigt werden kann (vgl. Urteile 2C_1058
/2013 vom 11. September 2014 E. 2.4 und 2.5; 2C_877/2013 vom 3. Juli 2014 E.
3.1.1). Wenn parallel zum ausländerrechtlichen Verfahren ein
sozialversicherungsrechtliches läuft, in dem die Arbeitsunfähigkeit geklärt
wird, ist rechtsprechungsgemäss die Verfügung der Sozialversicherungsbehörden
abzuwarten (vgl. Urteil 2C_587/2013 vom 30. Oktober 2013 E. 4.3).
Bei der hier zur Diskussion stehenden Renteneinstellung vom 6. März 2015
handelt es sich indessen um eine vorsorgliche Massnahme, die lediglich auf
einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage beruht, nur vorläufige
Geltung hat und mit dem Erlass der Endverfügung dahinfällt (Urteil 8C_722/2010
vom 25. Mai 2011 E. 8; URS MÜLLER, Das Verwaltungsverfahren in der
Invalidenversicherung, 2010, S. 453 Rz. 2324 ff.; SEILER, a.a.O., N. 52 zu Art.
56 VwVG). Da die Renteneinstellung als vorsorgliche Massnahme mithin nur einen
provisorischen Zustand während der Dauer des Verfahrens regelt, ohne das
Ergebnis des Hauptentscheids vorwegzunehmen (SVR 2011 IV Nr. 12 S. 32, 9C_45/
2010 E. 2), ist sie von ihrer Natur her nicht geeignet, Grundlage für die
Beurteilung der Sozialhilfeabhängigkeit zu bilden und damit den Entscheid über
die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung des Beschwerdeführers zu
beeinflussen.

3.3. Da mit der vorläufigen Renteneinstellung somit kein nicht wieder
gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG droht, ist auf
die Beschwerde nicht einzutreten.

4. 
Entsprechend dem Verfahrensausgang hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. September 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Meyer

Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann

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