Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 470/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_470/2015

Urteil vom 7. Januar 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber Furrer.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

BVK Personalvorsorge des Kantons Zürich,
vertreten durch Rechtsanwältin Marta Mozar,
Beschwerdegegnerin,

A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Ervin Deplazes.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 19. Mai 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1960 geborene A.________, gelernter Gebäudereinigungsfachmann, zuletzt von
Mai 2008 bis Ende Februar 2012 als Gruppenleiter Reinigungs- und
Transportdienst angestellt gewesen, meldete sich am 19. Oktober 2011 bei der
Invalidenversicherung (IV) zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich
(fortan: IV-Stelle) führte erwerbliche und medizinische Abklärungen durch,
namentlich unterbreitete sie zwei von der zuständigen Vorsorgeeinrichtung (BVK
Personalvorsorge des Kantons Zürich [fortan: BVK]) veranlasste Gutachten
(Expertisen der Dres. med. B.________, Praktische Ärztin FMH, und C.________,
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 8. Februar und 21.
November 2012 samt Ergänzung des Psychiaters vom 31. Dezember 2012) dem
Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD; Stellungnahmen des Dr. med. D.________,
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 29. April, 3. Juli und 4.
Oktober 2013). Gestützt darauf sprach sie A.________ mit Verfügung vom 21.
November 2013 mit Wirkung ab April 2012 eine ganze Invalidenrente und ab August
2012 eine Dreiviertelsrente zu.

B. 
Die von der BVK hiegegen erhobene Beschwerde mit dem Antrag, es sei A.________
auch ab August 2012 eine ganze Invalidenrente auszurichten, wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich - nachdem es eine reformatio in
peius angedroht und Gelegenheit zum Beschwerderückzug bzw. zur Stellungnahme
gegeben hatte - mit Entscheid vom 19. Mai 2015 ab. Es änderte die angefochtene
Verfügung dahingehend ab, als ab 1. April 2012 Anspruch auf (lediglich) eine
Dreiviertelsrente bestehe.

C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei die Sache zu weiteren
Abklärungen an die IV-Stelle zurückzuweisen. Während die Beschwerdegegnerin auf
eine Vernehmlassung verzichtet, trägt der Versicherte auf Abweisung der
Beschwerde an. Das Bundesamt für Sozialversicherungen lässt sich nicht
vernehmen.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerdeführerin beantragt, die Sache sei abweichend von der
rentenzusprechenden Verfügung vom 21. November 2013 weiter abzuklären. Dieser
Antrag ist - selbst wenn er eine Verschlechterung gegenüber dem Verfügten
bedeutet -, weil die Beschwerdeführerin ihn bereits erstinstanzlich gestellt
hat, (auch) letztinstanzlich zulässig (BGE 138 V 339 E. 2.3.2.2 S. 342 f.). Auf
die Beschwerde ist einzutreten.

1.2. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Das kantonale Gericht hat die für die Beurteilung der Streitsache massgeblichen
materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen gemäss Gesetz und Rechtsprechung
zutreffend dargelegt, worauf verwiesen wird. Dies betrifft namentlich die
Bestimmungen und Grundsätze zu den Begriffen der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7
ATSG) und der Invalidität (Art. 8 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG),
zum Anspruch und Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 2 IVG), zur
Ermittlung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der
Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG) sowie zum Beweiswert medizinischer
Berichte und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352).

3.

3.1. Die Vorinstanz erwog, allfällige Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit
wären, da kein somatisches Leiden mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit
ausgewiesen sei, einzig durch ein psychisches Leiden bedingt. Diesbezüglich
könne auf das voll beweiskräftige Gutachten des Dr. med. C.________ vom 21.
November 2012 abgestellt werden. Gemäss diesem bestehe - als Diagnose mit
Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit - eine rezidivierende depressive Störung,
gegenwärtig mittelgradige Episode mit somatischem Syndrom (F33.11). Überzeugend
und schlüssig lege der Experte dar, dass die Arbeitsfähigkeit seit dem
Zeitpunkt der Begutachtung im April 2012 aufgrund des fachärztlich
festgestellten psychischen Substrats um 50 % reduziert sei. Mit Blick auf das
gutachterliche Zumutbarkeitsprofil und auch gemäss Einschätzung des RAD sei die
angestammte Tätigkeit nicht mehr zumutbar. Gestützt darauf und nach
durchgeführter Invaliditätsbemessung gelangte das kantonale Gericht zum
Schluss, es bestehe ab April 2012 ein Anspruch auf eine Dreiviertelsrente.
Schliesslich erwog es, der Gutachter sei davon ausgegangen, die bestehende
Restarbeitsfähigkeit könne mittels Fortführung und Optimierung der
therapeutischen Massnahmen und mittels beruflicher Massnahmen signifikant
angehoben werden. Es stehe der IV-Stelle frei, dem Versicherten für die Zukunft
eine Schadenminderungspflicht aufzuerlegen und eine Nachbegutachtung
anzuordnen.

3.2. Die Beschwerdeführerin rügt im Wesentlichen, die Vorinstanz habe sich
nicht zur Überwindbarkeit des psychischen Leidens geäussert und dadurch Art. 7
Abs. 2 ATSG verletzt. Zudem lasse sich der Gesundheitszustand verbessern, womit
das Leiden (noch) nicht als invalidisierend gelten könne.

3.3. Der Versicherte hält dagegen, das Bundesgericht habe die bisher geltende
Überwindbarkeitsvermutung aufgegeben. Sodann könne gemäss Bericht des
Psychiatriezentrums E.________ vom 17. Januar 2013 in absehbarer Zeit nicht von
einer Verbesserung des Gesundheitszustands ausgegangen werden.

4.

4.1. Die Rüge, die Vorinstanz habe es unterlassen, die Überwindbarkeit des
psychischen Leiden zu prüfen, geht fehl. Der hier relevante Gesundheitsschaden,
eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode mit
somatischem Syndrom (F33.11), ist kein psychosomatisches Leiden, welches von
der inzwischen aufgegebenen Überwindbarkeitsvermutung (BGE 131 V 49 E. 1.2 S.
50) erfasst wurde (Urteil 8C_251/2013 vom 14. Februar 2014 E. 4.2.3, in: SVR
2014 IV Nr. 12 S. 47). Folglich ist auch der damit zusammenhängende Einwand
unbehelflich, die vorhandenen Akten liessen eine Prüfung der Überwindbarkeit
nicht zu, weshalb weitere medizinische Abklärungen durchzuführen seien.

4.2. Was die Frage nach der Therapierbarkeit oder Behandelbarkeit der
depressiven Problematik betrifft (BGE 127 V 294; vgl. auch RAHEL SAGER, Die
bundesgerichtliche Rechtsprechung betreffend Depressionen, in: SZS 2015 S. 308
ff., 317 f. Ziff. 5.2), unter welchem Gesichtspunkt die Beschwerdeführerin den
invalidisierenden Charakter des psychischen Leidens (zurzeit) verneint, ist der
psychiatrische Experte Dr. med. C.________ im Gutachten vom 21. November 2012
(und in der ergänzenden Stellungnahme vom 31. Dezember 2012) ausdrücklich von
einem "kurativen Leiden" ausgegangen und hat, weil die therapeutischen
Massnahmen nicht erschöpft seien, Vorschläge zur Behandlung unterbreitet. Nebst
der Fortführung der integrativen Behandlung im Psychiatriezentrum E.________
empfahl er die Optimierung der medikamentösen Therapie (Erhöhung der
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, zusätzliche Gabe einer dualangreifenden
Substanz wie Cymbalta). Zudem erachtete er berufliche
Wiedereingliederungsmassnahmen (Integrationsmassnahmen der IV) als wichtig und
geeignet, um die Restarbeitsfähigkeit von 50 % signifikant anzuheben.
Wie sich dem Verlaufsbericht des Psychiatriezentrums E.________ vom 17. Januar
2013 entnehmen lässt, wurden die therapeutischen Massnahmen kontinuierlich
ausgebaut: Zusätzlich zur weitergeführten Einzelgesprächstherapie besuchte der
Versicherte M odule zur Förderung der Alltagskompetenzen und Stabilisierung des
Gesundheitszustandes sowie der Funktionen im Alltag, ein weiteres Programm zur
Psychoedukation und Gesundheitsförderung und einmal pro Woche ein
computergestütztes kognitives Training im Einzelsetting. Auf medikamentöser
Ebene wurde - wie vom Gutachter empfohlen - die Therapie mit Cymbalta ergänzt.
Aufgrund dessen gelangte der RAD-Psychiater Dr. med. D.________ am 29. April
2013 zum Schluss, die gutachterlich geforderten medizinischen Massnahmen seien
umgesetzt worden. Dennoch habe sich gemäss der behandelnden Institution keine
Veränderung resp. Verbesserung des Zustands ergeben. Letzteres wurde vom
Psychiatriezentrum E.________ am 18. September 2013 erneut bestätigt. Unter
diesen Umständen kann dem Versicherten, der die ihm angebotenen Therapien
weitestgehend genutzt und sich auch der vom Experten empfohlenen optimierten
Medikation unterzogen hat, keine Verletzung der Selbsteingliederungspflicht
vorgeworfen werden. Ferner ist erstellt, dass sich das depressive Leiden bis
anhin als therapieresistent erwiesen hat. Nach dem Gesagten verletzt es
entgegen der Beschwerdeführerin daher nicht Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG),
dass die Vorinstanz dem psychischen Leiden (implizite) invalidisierende Wirkung
zuerkannt hat.

4.3. Des Weiteren stellt die Beschwerdeführerin infrage, ob es sich bei der
diagnostizierten rezidivierenden depressiven Störung überhaupt um ein
verselbstständigtes, von psychosozialen Belastungssituationen zu
unterscheidendes Leiden handle.
Wie schon das kantonale Gericht zutreffend erwogen hat, stellte Dr. med.
C.________ zwar auch "medizinal-fremde" Gründe fest, die eine Umsetzung der
Arbeitsfähigkeit erschweren könnten. So seien beim Versicherten seit geraumer
Zeit ein Vermeidungsverhalten mit sekundärem Krankheitsgewinn und
selbstlimitierenden Faktoren vermehrt wirksam. Er betonte aber, auch unter
Ausklammerung dieser psychosozialer Einflüsse bestehe eine Minderung der
Arbeitsfähigkeit von 50 %, die aus der rezidivierenden depressiven Störung
hergeleitet werden könne. Somit kann keine Rede davon sein, der Gutachter
erhebe im Wesentlichen nur Befunde, welche in den psychosozialen und
soziokulturellen Umständen ihre hinreichende Erklärung fänden bzw. gleichsam in
ihnen aufgingen (vgl. BGE 127 V 294 E. 5a S. 299). Daran ändert nichts, dass
gemäss Bericht des Psychiatriezentrums E.________ vom 18. September 2013
psychosoziale Faktoren (familiäre Probleme) zweimal zu vorübergehenden
Verschlechterungen des Gesundheitszustands geführt hätten.

5. 
Die Invaliditätsbemessung wird nicht bestritten. Es besteht kein Anlass zu
einer näheren Prüfung. Damit hat es beim vorinstanzlichen Entscheid sein
Bewenden.

6. 
Zu bemerken bleibt, dass der psychiatrische Experte die konsequente
Durchführung von Integrationsmassnahmen über eine hinreichend lange Zeitdauer
als noch wichtiger für die Anhebung der Arbeitsfähigkeit als die Optimierung
der Medikation erachtete, wobei die Beschwerdeführerin bisher keine
entsprechenden Massnahmen eingeleitet hat. Mit der Vorinstanz bleibt es der
Beschwerdeführerin unbenommen, die gutachterlich vorgeschlagenen Massnahmen
(samt empfohlener Verlaufsbeurteilung) an die Hand zu nehmen, gegebenenfalls
unter Androhung der Folgen von Art. 21 Abs. 4 ATSG.

7. 
Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1
Satz 1 BGG) und hat dem Versicherten eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art.
68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat den Versicherten für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'000.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, A.________, dem Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich
mitgeteilt.

Luzern, 7. Januar 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Furrer

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