Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 45/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
9C_45/2015         
{T 0/2}

Urteil vom 9. April 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Eric Schuler,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Luzern,
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts Luzern
vom 2. Dezember 2014.

Sachverhalt:

A.

A.a. A.________, geboren 1966, arbeitete seit dem 1. Oktober 2000 als
Hilfsarbeiter in der Firma B.________ AG. Aufgrund einer Nickelallergie musste
er am 27. Januar 2003 seine Stelle aufgeben. Die SUVA richtete ihm eine
Übergangsentschädigung aus.

A.b. Am 13. Juni 2003 meldete sich A.________ bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 28. August 2003 verneinte die IV-Stelle
des Kantons Luzern den Anspruch auf eine Invalidenrente, da keine
Erwerbsunfähigkeit von mindestens 40 % vorliege.

A.c. Am 2. Juli 2004 stellte A.________ erneut ein Leistungsgesuch
(Berufsberatung, Umschulung und Arbeitsvermittlung). Mit Verfügung vom 3.
Dezember 2004 trat die IV-Stelle auf das Leistungsbegehren nicht ein, weil
keine neuen Tatsachen geltend gemacht würden. Am 27. März 2007 sprach sie ihm
Beratung und Unterstützung bei der Stellensuche zu. Mangels Erfolg wurde die
Arbeitsvermittlung am 11. Dezember 2007 abgeschlossen.

A.d. Am 2. September 2010 meldete sich A.________ wiederum bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Vorbescheid vom 8. Oktober
2010 teilte die IV-Stelle mit, dass auf das Begehren nicht eingetreten werde.
Auf den Einwand der behandelnden Ärztin hin, der Versicherte verfüge laut
Untersuchung der Klinik C.________ (vom 19. August 2010) über einen
Intelligenzquotienten (IQ) von 50 Punkten, gab die IV-Stelle beim Zentrum
D.________ ein interdisziplinäres Gutachten in Auftrag (vom 3. Mai 2011). Mit
einem gemessenen Quotienten von 74 Punkten bestätigte dieses eine niedrige
Intelligenz. Man erachtete dem Versicherten nur einfache serielle Tätigkeiten
unter Anleitung als vollschichtig zumutbar. Die IV-Stelle gewährte A.________
am 7. Juni 2011 Beratung und Unterstützung bei der Stellensuche. Am 16. April
2012 sprach sie ihm einen Arbeitsversuch in der E.________ AG zu. Die
Arbeitsvermittlung wurde am 4. Februar 2013 abgeschlossen, da A.________ nicht
innert angemessener Zeit in den Arbeitsmarkt integriert werden konnte. Mit
Vorbescheid vom 12. April 2013 und Verfügung vom 24. Juli 2013 lehnte die
IV-Stelle einen Rentenanspruch ab (Invaliditätsgrad von 0 %).

B. 
Das Kantonsgericht Luzern wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid
vom 2. Dezember 2014 ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen.
Er beantragt die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und die Zusprechung
einer ganzen Rente ab 1. März 2011. Eventuell sei die Sache zur Einholung eines
Gerichtsgutachtens und zum anschliessenden Neuentscheid über den Rentenanspruch
an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).
Es ist weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 130 III 136
E. 1.4 S. 140). Seinem Urteil legt es den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz, auf Rüge hin oder von Amtes wegen,
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht, und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Der Beschwerdeführer reiste als 13-Jähriger aus Sizilien ein und hat hier keine
Berufsausbildung absolviert. Er verfügt (seit 2010 festgestellt) über eine
tiefe Intelligenz (je nach Gutachten IQ 50 oder 74).

2.1. Die Vorinstanz erwog, im Gutachten sei nachvollziehbar und schlüssig
erklärt worden, weshalb es zur Diskrepanz bei der Beurteilung des
Intelligenzquotienten gekommen sei. Aufgrund des Verhaltens des Versicherten
habe im Zentrum D.________ die Testreihe nicht vollständig durchgeführt werden
können. Anlässlich der Untersuchung seien Verdeutlichungs- und
Aggravationstendenzen festgestellt worden. Es sei zu beachten, dass sowohl die
Klinik C.________ als auch das Zentrum D.________ von einer Minderintelligenz
des Beschwerdeführers ausgegangen seien (50 Punkte bzw. 74 Punkte). Zu erwähnen
sei, dass der Beschwerdeführer die Realschulzeit erfolgreich absolviert habe.
Für das Invalideneinkommen könne im Einkommensvergleich nicht auf den Lohn bei
der E.________ AG abgestellt werden, da der Beschwerdeführer dort die ihm
verbleibende Arbeitsfähigkeit nicht in zumutbarer Weise voll ausschöpfe. Es
handle sich um einen Soziallohn, so dass nach der Rechtsprechung Tabellenlöhne
beigezogen werden könnten. Bei einem resultierenden Invaliditätsgrad von 7 %
ergebe sich kein Anspruch auf eine Invalidenrente.

2.2. Der Beschwerdeführer rügt, im Gutachten lasse sich keine Aussage finden,
dass im Zentrum D.________ keine vollständige IQ-Testung durchgeführt worden
sei, weil er dies durch sein Verhalten verhindert habe. Auch sei er nicht auf
die Folgen einer Verletzung seiner Mitwirkungspflicht hingewiesen worden. In
der Klinik C.________ sei ein vollständiger Wechsler-Intelligenztest
durchgeführt worden, welcher einen Intelligenzquotienten von 50 Punkten ergeben
habe. Es sei deshalb von einer verminderten Arbeitsfähigkeit auszugehen. Der
Arbeitsversuch in der Firma E.________ AG habe eindeutig gezeigt, dass er nicht
in der Lage sei, die in der freien Wirtschaft geforderte Leistung zu erbringen.
Selbst an seinem geschützten Arbeitsplatz sei er teilweise schlicht
überfordert. Es sei davon auszugehen, dass er in der Firma E.________ AG seine
Erwerbsfähigkeit im Rahmen des Zumutbaren voll ausschöpfe. Im Weiteren werde
bestritten, dass er die Realschule erfolgreich absolviert habe. Dem Zeugnis
könne entnommen werden, dass er dem Unterricht nicht zu folgen vermochte und
dauernd überfordert gewesen sei. Die Lehrer hätten in den Hauptfächern auf eine
Notengebung verzichtet. Nur in Fächern wie Zeichnen, Gesang oder Turnen seien
Noten gesetzt worden.

3.

3.1. Der mittlere Wert der anlässlich der Begutachtungen in der Klinik
C.________ und im Zentrum D.________ gemessenen Intelligenz beträgt 62 Punkte.
Nach der Rechtsprechung (vgl. Urteil 9C_611/2014 vom 19. Februar 2015 E. 5 mit
Hinweisen) ist eine versicherte Person als Frühinvalide zu betrachten, wenn sie
wegen der Invalidität keine zureichenden beruflichen Kenntnisse erwerben konnte
(Rz. 3034 f. des Kreisschreibens des Bundesamtes für Sozialversicherungen über
Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH]). Es ist
bislang ungeprüft geblieben, ob der Beschwerdeführer wegen Minderintelligenz
als Frühinvalider zu betrachten ist, was im Einkommensvergleich eine Aufwertung
des Valideneinkommens für Versicherte ohne Ausbildung (Art. 26 Abs. 1 IVV) zur
Folge hätte. Gemäss Ziff. 3035 KSIH sind Frühinvalide Versicherte, die seit
ihrer Kindheit einen Gesundheitsschaden aufweisen und deshalb keine
zureichenden beruflichen Kenntnisse erwerben konnten. Beim Beschwerdeführer
könnte eine im Alter von 5 Jahren durchgemachte Meningitis (Hirnhautentzündung)
die Ursache für eine pathologische Entwicklung sein. Bei der Beurteilung der
Frage nach dem Vorliegen einer Frühinvalidität kommt es nicht nur auf den
Intelligenzquotienten an, vielmehr ist die Gesamtheit der gesundheitlichen
Beeinträchtigungen massgebend. Darum wurde im konkreten Falle eine
Frühinvalidität beim Vorliegen eines Intelligenzquotienten selbst von 73
Punkten bejaht (Urteil 9C_611/2014 a.a.O. E. 4 und 5).

3.2. Laut dem Gutachten waren des Zentrums D.________ die klinisch gezeigten
kognitiven Störungen schwer zu quantifizieren und von psychogenen
Verhaltensstörungen schwer abgrenzbar. Die Persönlichkeit des Exploranden
erschien kaum gereift. Insgesamt würden genetische Faktoren durch psychogene
erheblich überlagert. Die Zusammenhänge konnten nicht genügend erhellt werden
und eine weitergehende Abklärung zur Abgrenzung organischer, psychogener und
allfälliger psychosozialer Anteile am Krankheitsgeschehen als indiziert
erachtet. Von heilpädagogischen Massnahmen sei eine Stabilisierung der
Persönlichkeit zu erwarten. Die kognitive Störung lasse sich nicht wesentlich
verbessern. Der Explorand werde immer einen angepassten Arbeitsplatz benötigen.
Er sei ohne Unterstützung nicht in der Lage, eine Anstellung zu finden und zu
halten. Sinnvoll sei ein Platz mit einfachen, repetitiven, dem
Intelligenzniveau angepassten Arbeitsvorgängen. Einerseits bestehe eine
Begriffsstutzigkeit, andererseits zeige sich eine rasche Überforderungstendenz,
welche sich im psychosomatischen Bereich auswirke. Das Gutachten zeichnet damit
das Bild eines Exploranden, der in der Arbeitswelt mit vielseitigen
Einschränkungen konfrontiert ist. Die vorinstanzliche Feststellung, der
Beschwerdeführer habe die Realschulzeit erfolgreich absolviert, erweist sich
als unrichtig. Wie aus dem - als zulässiges Novum (Art. 99 Abs. 1 BGG)
eingereichten - Abschlusszeugnis hervor geht, vermochte der Versicherte dem
Unterricht nicht zu folgen. Besonders im Rechnen fehlten ihm zum Teil auch die
intellektuellen Voraussetzungen. In der dritten Realklasse schien es der
Lehrperson sinnlos, für die meisten Fächer, mit Ausnahme von Zeichnen, Gesang,
Werken und Turnen, Noten zu setzen. Für einen Entscheid über das Bestehen einer
Frühinvalidität ist jedoch die Sachverhaltsgrundlage noch zu wenig genau
abgeklärt. Insbesondere ist das Verhaltensbild zu wenig ausgeleuchtet bzw.
differenziert. Die Sache wird an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen. Sie
wird die erforderlichen Abklärungen veranlassen und dann über die Frage des
Vorliegens einer Frühinvalidität (Art. 26 Abs. 1 IVV) entscheiden.

4. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat dem
Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts
Luzern, 4. Abteilung, vom 2. Dezember 2014 und die Verfügung der IV-Stelle
Luzern vom 24. Juli 2013 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung
an die IV-Stelle Luzern zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde
abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Kantonsgericht Luzern, 4. Abteilung,
zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 4. Abteilung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. April 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Schmutz

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