Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 458/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_458/2015

Urteil vom 18. August 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
 VSM-Sammelstiftung für Medizinalpersonen,
vertreten durch Fürsprecher Philippe Landtwing,
Beschwerdeführerin,

gegen

 A.________, vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Frey,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Berufliche Vorsorge (Invalidenleistungen),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 20. Mai 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________ war ab 1. Juli 2006 bei der VSM-Sammelstiftung für Medizinalpersonen
(nachfolgend: VSM) berufsvorsorgeversichert (Anschlussvereinbarung Nr. 613 vom
21. August/20. September 2006). Am 22. März 2010 teilte der Versicherte der
Vorsorgeeinrichtung mit, er sei seit xxx und bis auf weiteres von seiner Ärztin
krank geschrieben und zu 100 % erwerbsunfähig. Im Zusammenhang mit der Frage
der Weiterzahlung der Prämien bzw. der Befreiung davon holte die VSM ein
medizinisches Gutachten vom 28. Juni 2011 ein.

Anfang September 2011 meldete sich A.________ bei der Invalidenversicherung an.
Nach Abklärungen sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Bern mit Verfügung vom
14. März 2013 ab 1. Februar 2012 eine ganze Rente samt zwei Kinderrenten zu. Ab
demselben Zeitpunkt richtete die VSM Invalidenleistungen der beruflichen
Vorsorge (Invalidenrente, zwei Kinderrenten) aus.

Mit Zahlungsbefehl Nr. 93030417 des Betreibungsamtes Bern-Mittelland vom 4.
April 2013 liess A.________ eine Forderung in der Höhe von Fr. 173'834.50 nebst
Zins von 5 % seit dem 15. Februar 2012 gegen die VSM in Betreibung setzen,
wogegen diese Rechtsvorschlag erhob.

B. 
Am 27. Juni 2013 reichte A.________ beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern
Klage gegen die VSM ein mit den Rechtsbegehren, die Beklagte sei zu
verpflichten, ihm auch vom 7. Januar 2011 bis zum 31. Januar 2012 eine ganze
reglementarische Invalidenrente, ausmachend Fr. 60'216.-, sowie zwei
entsprechende Kinderrenten, ausmachend Fr. 24'086.65, zu bezahlen, zuzüglich
Zins zu 5 % seit wann rechtens; der Rechtsvorschlag in der Betreibung Nr.
93030417 des Betreibungsamtes Bern-Mittelland sei in diesem Umfang aufzuheben
und ihm die definitive Rechtsöffnung zu erteilen.

Nach Klageantwort der VSM und einem zweiten Schriftenwechsel sowie nach
Einsichtnahme in die IV-Akten hiess die Sozialversicherungsrechtliche Abteilung
des Verwaltungsgerichts mit Entscheid vom 20. Mai 2015 die Klage gut. Es
verpflichtete die Beklagte, dem Kläger die beiden Beträge in der Höhe von Fr.
60'216.- und Fr. 24'086.40 zuzüglich Zins zu 5 % seit den 1. Januar 2011 zu
bezahlen (Dispositiv-Ziffer 1); den in der Betreibung Nr. 93030417 des
Betreibungsamtes Bern-Mittelland erhobenen Rechtsvorschlag hob es in diesem
Umfang auf und erteilte dem Kläger die definitive Rechtsöffnung
(Dispositiv-Ziffer 2).

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die VSM, der
Entscheid vom 20. Mai 2015 sei aufzuheben und die Klage abzuweisen;
eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht ersucht sie darum, der Beschwerde die
aufschiebende Wirkung zu erteilen.

A.________ äussert sich in seiner Vernehmlassung zum Verfahrensantrag der
Vorsorgeeinrichtung summarisch zur Beschwerde, welche er als offensichtlich
unbegründet erachtet.

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes
wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2
BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur soweit vorgebracht werden, als
erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG), was in
der Beschwerde näher darzulegen ist (BGE 133 III 393 E. 3 S. 395). Der Ausgang
des vorangegangenen Verfahrens allein bildet jedenfalls noch keinen
hinreichenden Anlass für die Zulässigkeit von unechten Noven, die bereits
damals ohne weiteres hätten vorgebracht werden können. Dies ergibt sich
zwingend aus der Bindung des Bundesgerichts an die vorinstanzliche
Sachverhaltsfeststellung      (Art. 105 Abs. 1 BGG; BGE 134 III 625 E. 2.2 S.
629; 134 V 223 E. 2.2.1 S. 226; Urteil 9C_25/2015 vom 1. Mai 2015 E. 1).

1.2. Die Beschwerdeführerin hat verschiedene vor Erlass des angefochtenen
Entscheids erstellte Dokumente eingereicht, welche belegen sollen, dass sich
entgegen der Auffassung des kantonalen Berufsvorsorgegerichts ihre Haftung
nicht aus dem Grundsatz von Treu und Glauben und dem Gutglaubensschutz
begründen lasse. Da dieser Aspekt bzw. die Frage der Anmeldung bei der IV kein
Thema vor der Vorinstanz gewesen sei, handle es sich dabei um zulässige neue
Beweismittel. Der Beschwerdegegner bestreitet diese Sichtweise unter Hinweis
darauf, die Vorinstanz habe die beklagte Vorsorgeeinrichtung mit
prozessleitender Verfügung vom 28. Juni 2013 aufgefordert, "die einschlägigen
Vorakten" einzureichen, und zwar unabhängig vom Prozessthema. Es kann mit Blick
auf den Ausgang des Verfahrens offenbleiben, ob es sich bei den fraglichen
Unterlagen um zulässige neue Vorbringen im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG handelt
oder nicht.

2. 
Streitgegenstand ist, ob der Beschwerdegegner bereits ab 1. Januar 2011
Anspruch auf die reglementarischen Invalidenleistungen (Invalidenrente, zwei
Kinderrenten) hat, wie die Vorinstanz entschieden hat, oder erst ab 1. Februar
2012 (Beginn der ganzen Rente der Invalidenversicherung), wie die
Beschwerdeführerin dagegenhält. Unbestritten ist, dass das Vorsorgereglement
vom 1. Januar 2010 anwendbar ist 

3.

3.1. Die Vorinstanz hat erwogen, nach Art. 26 Abs. 1 BVG und der hierzu
ergangenen Rechtsprechung (BGE 140 V 470 E. 3.2 S. 473) sei im obligatorischen
Bereich der beruflichen Vorsorge für den Leistungsbeginn die Geltendmachung des
Anspruchs bei der Vorsorgeeinrichtung massgebend und nicht die allenfalls
verspätete oder sogar unterbliebene Anmeldung bei der Invalidenversicherung.
Demzufolge habe der Kläger mit seiner Mitteilung per E-Mail vom 22. März 2010,
wonach er seit anfangs Januar des Jahres bis auf weiteres zu 100 %
erwerbsunfähig sei, zumindest im Umfang der Leistungen aus dem Obligatorium ab
Januar 2011 Anspruch auf eine Invalidenrente der beruflichen Vorsorge sowie auf
die entsprechenden Invaliden-Kinderrenten. Dasselbe gelte auch für den
weitergehenden Bereich der beruflichen Vorsorge. Ziff. 14.3 des
Vorsorgereglements 2010 sehe die in Art. 26 Abs. 1 BVG statuierte Koordination
der IV-Rente der zweiten Säule mit der ersten Säule auch für die
überobligatorischen Leistungen vor. Aus den übrigen für die Rechtsbeziehungen
der Beklagten mit dem Kläger relevanten Unterlagen, u.a. Anschlussvereinbarung
Nr. 613 vom 21. August/20. September 2006, liesse sich keine abweichende
Regelung von den invalidenversicherungsrechtlich sinngemäss anzuwendenden
Normen eruieren. Anhaltspunkte, welche darauf hinwiesen, dass im
überobligatorischen Bereich andere Leistungsvoraussetzungen gelten sollten als
für das Obligatorium, lägen somit nicht vor. Demzufolge habe der Kläger
gestützt auf Ziff. 14.3 des Vorsorgereglements 2010 davon ausgehen dürfen, dass
er mit der Anmeldung vom 22. März 2010 bei seiner Vorsorgeeinrichtung sämtliche
Rechte wahrte; es sei ihm denn auch kein echtzeitlicher Vorbehalt in dem Sinne
gemacht worden, dass in Bezug auf den Leistungsbeginn zur Fristwahrung auch
eine Anmeldung bei der Invalidenversicherung vorgenommen werden sollte.

3.2. Die Beschwerdeführerin bestreitet die vorinstanzliche Auslegung von Ziff.
14.3 des Vorsorgereglements 2010 nach dem Vertrauensprinzip (BGE 140 V 50 E.
2.2 S. 51 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 138 III 659 E. 4.2.1 S. 666 f.). Zur
Begründung verweist sie im Wesentlichen auf BGE 140 V 470. Dieser Entscheid
betrifft indessen die obligatorische berufliche Vorsorge, wie der
Beschwerdegegner richtig vorbringt. Zu der - vom Bundesgericht grundsätzlich
frei überprüfbaren (BGE 140 V 50 E. 2.3 S. 52) - Auslegung von Ziff. 14.3 des
Vorsorgereglements 2010 wird in der Beschwerde nichts gesagt; darauf ist daher
nicht näher einzugehen (Art. 42 Abs. 2 BGG; BGE 138 I 171 E. 1.4 S. 176; Urteil
2C_413/2014 vom 11. Mai 2014 E. 2.1). Bei diesem Ergebnis erübrigen sich
Ausführungen zur Frage, ob der Beschwerdegegner auch gestützt auf den Grundsatz
von Treu und Glauben (Art. 2 Abs. 1 ZGB; vgl. Urteil B 160/06 vom 7. November
2007 E. 4.3.1: in: SVR 2008 BVG Nr. 30 S. 121) bereits ab 1. Januar 2011
Anspruch auf die reglementarischen Invalidenleistungen (Invalidenrente, zwei
Kinderrenten) hat (vgl. auch BGE 138 I 97 E. 4.1.4 S. 100).

3.3. Die Höhe der von der Vorinstanz zugesprochenen Invalidenleistungen für die
Zeit vom 1. Januar 2011 bis 31. Januar 2012 gemäss Dispositiv-Ziffer 1 des
angefochtenen Entscheids ist nicht bestritten. Mit Bezug auf den Verzugszins
von 5 % indessen weist die Beschwerdeführerin richtig darauf hin, dass nach
Art. 105 Abs. 1 OR ein solcher erst ab 4. April 2013 geschuldet ist. Insoweit
ist das vorinstanzliche Erkenntnis zu korrigieren.

4. 
Mit dem Entscheid in der Sache ist die Frage der aufschiebenden Wirkung der
Beschwerde gegenstandslos.

5. 
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art.
68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. Dispositiv-Ziffer 1 und 2 des Entscheids des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
vom 20. Mai 2015 werden dahingehend abgeändert, dass Zins zu 5 % erst ab 4.
April 2013 zu bezahlen ist.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'400.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. August 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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