Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 457/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_457/2015

Urteil vom 21. Oktober 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Advokat Dominik Zehntner,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Basel-Landschaft,
Hauptstrasse 109, 4102 Binningen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(Hilflosenentschädigung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 26.
März 2015.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügung vom 31. Mai 2010 sprach die IV-Stelle Basel-Landschaft A.________
rückwirkend ab 1. November 2009 eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit
mittelschweren Grades zu. Im September 2012 ersuchte die Versicherte um
Ausrichtung von Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit schweren Grades.
Gestützt auf den Bericht vom 14. Februar 2013 über die Abklärung der anspruchs-
und leistungsrelevanten Verhältnisse sowie die im Vorbescheidverfahren
eingereichte Stellungnahme der Abklärungsperson vom 21. Oktober 2013 lehnte die
IV-Stelle mit Verfügung vom 17. Juni 2014 das Erhöhungsgesuch ab und bestätigte
den Anspruch auf eine Entschädigung wegen mittlerer Hilflosigkeit bei
Aufenthalt zu Hause.

B. 
Die Beschwerde der A.________ wies das Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Sozialversicherungsrecht, mit Entscheid vom 26. März 2015 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 26. März 2015 sei aufzuheben und die IV-Stelle anzuweisen,
ihr ab dem 1. September 2012 eine Hilflosenentschädigung schweren Grades
zuzusprechen.
Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

In einer weiteren Eingabe äussert sich A.________ zu den Ausführungen der
IV-Stelle.

Erwägungen:

1. 
Streitgegenstand bildet die Frage, ob die Beschwerdeführerin ab 1. September
2012 (Art. 88bis Abs. 1 lit. a IVV) Anspruch auf Hilflosenentschädigung für
Hilflosigkeit schweren Grades hat.

2.

2.1. Die Hilflosigkeit gilt als schwer, wenn die versicherte Person vollständig
hilflos ist. Dies ist der Fall, wenn sie in allen alltäglichen Verrichtungen
regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und
überdies der dauernden Pflege oder der persönlichen Überwachung bedarf (Art. 37
Abs. 1 IVV). Massgeblich im Sinne dieser Bestimmung sind folgende alltägliche
Lebensverrichtungen: An- und Auskleiden, Aufstehen, Absitzen und Abliegen,
Essen, Körperpflege, Verrichtung der Notdurft sowie Fortbewegung und
Kontaktaufnahme (BGE 133 V 450 E. 7.2 S. 463 mit Hinweisen). Nach der
Rechtsprechung ist dem zweiten Anspruchsmerkmal der Notwendigkeit der dauernden
Pflege oder der persönlichen Überwachung bei gegebener Bedürftigkeit in allen
sechs Lebensverrichtungen nur minimales Gewicht beizumessen (BGE 107 V 136 E.
1b S. 139; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 678/03 vom 12. Februar 2004
E. 2.1; Meyer/ Reichmuth, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 3. Aufl.
2014, N. 37 zu Art. 42-42 ter IVG; Rz. 8037 des Kreisschreibens über
Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH]).

2.2. Es steht ausser Frage, dass die Beschwerdeführerin in allen im Sinne von
Art. 37 Abs. 1 IVV massgeblichen sechs alltäglichen Lebensverrichtungen
regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist.
Kontrovers ist, ob sie überdies der dauernden Pflege oder der persönlichen
Überwachung bedarf. Dabei geht es um folgende Hilfeleistungen (der Eltern),
deren Notwendigkeit im Grundsatz unbestritten ist:

- Bereitstellung der einzunehmenden Medikamente.
- Herrichten der zum Einschlafen erforderlichen Sauerstoffmaske.
- Kontrolle zwei- bis dreimal nachts wegen der kardiologischen Problematik.
- Adäquate (sofortige) Reaktion bei Auftreten von Stuhldrang wegen der innert
20 bis 30 Sekunden erfolgenden Entleerung.

2.3.

2.3.1. Die Vorinstanz hat in Bezug auf die beiden erstgenannten Hilfeleistungen
das Anspruchsmerkmal des Bedarfs an dauernder Pflege im Sinne von Art. 37 Abs.
1 IVV nicht als gegeben erachtet, da die Beschwerdeführerin jedenfalls in der
Lage sei, selbständig die Medikamente einzunehmen und die Sauerstoffmaske
anzulegen. Die Hilfestellung der Eltern würde somit nicht das erforderliche
Ausmass erreichen. In Bezug auf die Sauerstoffmaske im Besonderen seien auch
keine nächtlichen Interventionen nötig (E. 7.2.1 und 7.2.2 des angefochtenen
Entscheids). Die Beschwerdegegnerin bringt in ihrer Vernehmlassung vor, die
Versicherte müsse bei der Medikamenteneinnahme selbst nicht kontrolliert
werden; zudem gebe es Medikamentenschieber (Pillenbox mit separatem Fach für
jeden Wochentag), welche nur einmal wöchentlich vorbereitet werden müssten.

Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Medikamente könnten nicht in den
Körper gelangen, wenn sie nicht bereitgestellt würden und die Sauerstoffmaske
könnte nicht auf ihre Nase gelangen, wenn sie nicht hergerichtet würde. Weder
in Bezug auf die Medikamenteneinnahme noch das Tragen der Maske könne somit von
Selbständigkeit gesprochen werden. Sodann treffe entgegen den Vorbringen der
Beschwerdegegnerin nicht zu, dass sie bei der Medikamenteneinnahme nicht
kontrolliert werden müsse.

Es kann offen bleiben, ob das Bereitstellen der Medikamente (ohne oder mit zu
kontrollierender Einnahme) und das allabendliche Herrichten der Sauerstoffmaske
als dauernde pflegerische Hilfeleistung im Sinne von Art. 37 Abs. 1 IVV zu
betrachten sind.

2.3.2. Das Fehlen des Anspruchsmerkmals der dauernden persönlichen
Überwachungsbedürftigkeit im Sinne von Art. 37 Abs. 1 IVV in Bezug auf die
Kontrolle zwei- bis dreimal nachts wegen der kardiologischen Problematik hat
die Vorinstanz damit begründet, die Herzbeschwerden würden medikamentös
behandelt und die Versicherte sei nicht auf eine (dauerhafte) technische
Überwachung mit einem Monitor angewiesen. Sodann sei der Umstand, dass sie bei
Auftreten von Stuhldrang innert 20 bis 30 Sekunden auf der Toilette sitzen
müsse, um sich nicht zu beschmutzen, mit der Bejahung der Bedürftigkeit in
Bezug auf das Verrichten der Notdurft bereits berücksichtigt (E. 7.2.3 und
7.2.4 des angefochtenen Entscheids).

Wie in der Beschwerde richtig vorgebracht wird, lässt sich eine dauernde
persönliche Überwachungsbedürftigkeit als Folge der kardiopulmonalen
Problematik nicht mit der Begründung verneinen, eine technische Überwachung mit
einem Monitor sei nicht nötig. "Dauernd" ist als Gegensatz zu "vorübergehend"
und nicht im Sinne von "rund um die Uhr" zu verstehen (BGE 107 V 136 E. 1b S.
139; Urteil 9C_825/2014 vom 23. Juni 2015 E. 4.1.1). Weiter bezieht sich die
Hilfestellung in Form erhöhter Aufmerksamkeit und Interventionsbereitschaft
wegen der innert 20 bis 30 Sekunden erfolgenden Entleerung bei Auftreten von
Stuhldrang weder direkt noch indirekt auf das Verrichten der Notdurft als
solcher (umfassend u.a. die Körperreinigung bzw. das Überprüfen der
Reinlichkeit, das Ordnen der Kleider und das Absitzen bzw. Wiederaufstehen oder
wenn der Toilettengang in "ungewöhnlicher" Form z.B. mittels Nachttopf etc.
erfolgt [Urteil 9C_633/2012 vom 8. Januar 2013 E. 4.2.2]); vielmehr ist die
Hilfestellung aufgrund des Gesundheitszustandes notwendig um zu verhindern,
dass sich die Beschwerdeführerin beschmutzt. Auch wenn diese Zielsetzung
qualitativ nicht mit der Vermeidung einer Selbst- oder Drittgefährdung wie etwa
bei bestimmten Formen geistiger Absenzen (BGE 107 V 136 E. 1b S. 139)
vergleichbar ist, kann jedenfalls der - mehr oder weniger regelmässige -
Mehraufwand zur Vorbeugung vorzeitiger Entleerung bzw. der Mehraufwand bei
bereits erfolgter Entleerung nicht bereits durch die anerkannte Bedürftigkeit
beim Verrichten der Notdurft als vollständig abgegolten betrachtet werden.
Insgesamt erreicht die notwendige Hilfestellung im Zusammenhang mit der
kardiologischen Problematik (nächtliche Kontrollen) und der Dringlichkeit der
Stuhlentleerung bei Auftreten von Stuhldrang, soweit sie ausserhalb der für die
Bemessung der Hilflosigkeit massgebenden Lebensverrichtungen liegt, das für die
Bejahung der Notwendigkeit der dauernden Pflege oder der persönlichen
Überwachung nach Art. 37 Abs. 1 IVV erforderliche geringe Ausmass (E. 2.1
vorne), sodass auch dieses Anspruchsmerkmal als gegeben zu betrachten ist. Der
anders lautende Entscheid verletzt Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG).

2.4. Die Beschwerdeführerin hat somit ab 1. September 2012 (E. 1 vorne)
Anspruch auf Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit schweren Grades, deren
Höhe die Beschwerdegegnerin festzusetzen haben wird. Die Beschwerde ist
begründet.

3. 
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen
(Art. 68 Abs. 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 26. März 2015 und die
Verfügung der IV-Stelle Basel-Landschaft vom 17. Juni 2014 werden aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin ab 1. September 2012 Anspruch
auf Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit schweren Grades in von der
Beschwerdegegnerin noch zu bestimmender Höhe hat.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 21. Oktober 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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