Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 422/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_422/2015

Urteil vom 7. Dezember 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Verfahrensbeteiligte
A.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Viktor Peter,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des
Kantonsgerichts Luzern vom 15. Mai 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1966 geborene A.________ war zuletzt vom 1. April 2006 bis 30. April 2009
(letzter Arbeitstag: 14. September 2008) bei der B.________ AG angestellt.
Unter Hinweis auf ein seit Geburt bestehendes ADS
(Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) und eine sich seit Juni 2008 stark
manifestierende soziale Phobie meldete er sich am 19. August 2009 bei der
IV-Stelle Luzern zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle prüfte die medizinischen
und erwerblichen Verhältnisse. Mit Vorbescheid vom 26. August 2013 stellte sie
die Verneinung eines Rentenanspruches in Aussicht. Daran hielt sie mit
Verfügung vom 21. November 2013 fest.

B. 
Beschwerdeweise liess A.________ die Aufhebung der Verfügung beantragen. Es sei
festzustellen, dass er aufgrund eines Invaliditätsgrades von mindestens 76.75 %
Anspruch auf eine ganze Invalidenrente habe. Eventualiter sei ihm eine halbe
Rente zuzusprechen. Es sei ein aktueller Bericht bei der C.________ Psychiatrie
& Psychotherapie einzuholen und ein neues Sachverständigengutachten zu
veranlassen. Mit Entscheid vom 15. Mai 2015 hiess das Kantonsgericht Luzern die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde teilweise gut. Es hob die Verfügung vom 21.
November 2013 auf und sprach dem Versicherten ab 1. Februar 2010 eine halbe
Rente zu.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und das Rechtsbegehren stellen, der kantonale Entscheid vom 15. Mai 2015 und
die Verwaltungsverfügung vom 21. November 2013 seien aufzuheben. Es sei
festzustellen, dass er aufgrund eines Invaliditätsgrades von mindestens 60.75 %
Anspruch auf eine Dreiviertelsrente habe.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

2. 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung (Art. 28 IVG; Art. 16 ATSG). Während die Vorinstanz dem
Versicherten aufgrund eines ermittelten Invaliditätsgrades von (gerundet) 59 %
eine halbe Rente zusprach, stellt sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt,
er habe aufgrund eines Invaliditätsgrades von mindestens 60.75 % Anspruch auf
eine Dreiviertelsrente. Uneinigkeit besteht dabei einzig hinsichtlich der Höhe
des Valideneinkommens; das Invalideneinkommen von Fr. 36'872.16 ist
demgegenüber unbestritten.

3.

3.1. Das Valideneinkommen ist dasjenige Einkommen, das die versicherte Person
erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (Art. 16 ATSG; Art. 28a
Abs. 1 IVG). Für seine Ermittlung ist rechtsprechungsgemäss entscheidend, was
die versicherte Person im Zeitpunkt des frühestmöglichen Rentenbeginns nach dem
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit als Gesunde tatsächlich
verdienen würde, und nicht, was sie bestenfalls verdienen könnte (BGE 135 V 58
E. 3.1 S. 59). Dabei ist in der Regel am zuletzt erzielten, nötigenfalls der
Teuerung und der realen Einkommensentwicklung angepassten Lohn anzuknüpfen, da
es empirischer Erfahrung entspricht, dass erfahrungsgemäss die bisherige
Tätigkeit ohne Gesundheitsschaden fortgesetzt worden wäre; Ausnahmen müssen mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt sein (BGE 139 V 28 E. 3.3.2 S. 30;
134 V 322 E. 4.1 S. 325 f.). Auf Erfahrungs- und Durchschnittswerte darf nur
unter Mitberücksichtigung der für die Entlöhnung im Einzelfall relevanten
persönlichen und beruflichen Faktoren abgestellt werden (BGE 139 V 28 E. 3.3.2
S. 30; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 97/00 vom 29. August 2002 E.
1.2; MEYER/REICHMUTH, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, 3. Aufl. 2014,
S. 326 f. Rz. 48 und S. 329 Rz. 55 zu Art. 28a IVG).

3.2. Für die Ermittlung des Valideneinkommens ging die Vorinstanz von dem
Verdienst aus, den der Beschwerdeführer zuletzt bei der Schindler AG bei einer
durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden erzielt hatte (Fr.
90'350.- im Jahr 2009). Nach Anpassung an die seither eingetretene
Nominallohnentwicklung gelangte sie zu einem Valideneinkommen für das Jahr 2010
von Fr. 90'773.38. Der Beschwerdeführer wendet dagegen ein, die Vorinstanz
hätte das Einkommen zusätzlich - parallel zu dem auf der Grundlage der
Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) ermittelten Invalideneinkommen - auf
eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 41.6 Stunden hochrechnen
müssen. Des Weitern habe das kantonale Gericht seiner Berechnung eine zu tiefe
Nominallohnentwicklung (2009: 106.7 statt 106.9; 2010: 107.2 statt 107.5)
zugrunde gelegt.

3.3. Die vorinstanzliche Vorgehensweise entspricht dem Prinzip, dass die
Ermittlung des Valideneinkommens so konkret wie möglich zu erfolgen hat und
deshalb grundsätzlich primär an den zuletzt erzielten, nötigenfalls der
Teuerung und der realen Einkommensentwicklung angepassten Lohn anzuknüpfen ist
(vgl. E. 3.1 hievor). Es ist deshalb nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz
beim hypothetisch ohne Gesundheitsschaden erzielbaren Einkommen von der
tatsächlich zu leistenden Arbeitszeit von 40 Stunden ausgegangen ist (vgl. auch
Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 446/01 vom 4. April 2002 E. 2b). Die
standardisierten Bruttolöhne der LSE werden demgegenüber zwecks
Vergleichbarkeit auf eine  fiktiveeinheitliche Arbeitszeit von (ebenfalls) 40
Stunden umgerechnet; um den in Wirklichkeit existierenden Wert zu erhalten, ist
der tatsächlichen betriebsüblichen Arbeitszeit (durchschnittlich 41.6 Stunden
im Jahr 2010) Rechnung zu tragen (vgl. LSE 1994 S. 42). Im Rahmen der
Invaliditätsbemessung sind die Tabellenlöhne deshalb rechtsprechungsgemäss auf
die durchschnittliche betriebsübliche Arbeitszeit umzurechnen (BGE 124 V 321 E.
3b/aa in fine und 3b/bb S. 323). Dies gilt auch für den Fall, dass der
Versicherte als Valider in einem Betrieb mit einer 40-Stunden-Woche arbeitete
(Urteil 8C_965/2010 vom 24. Januar 2011 E. 4.2). Dass der Beschwerdeführer nach
Eintritt des Gesundheitsschadens nur in Branchen mit einer 40-Stunden-Woche
arbeiten könnte, wird zu Recht nicht geltend gemacht.
Eine Parallelisierung der Vergleichseinkommen (vgl. dazu BGE 141 V 1 E. 5.4 S.
3 mit Hinweisen) in dem Sinne, dass bei beiden Einkommen von derselben
Wochenarbeitszeit - 40 oder 41.6 Stunden - auszugehen wäre, würde sich nur
rechtfertigen, wenn dargetan wäre, dass der Beschwerdeführer wegen der
Wochenarbeitszeit von 40 Stunden ohne Behinderung einen wesentlich unter dem
branchenüblichen Verdienst liegenden Lohn erzielt hätte (vgl. Urteil 8C_965/
2010 vom 24. Januar 2011 E. 4.2; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 262/
06 vom 16. Oktober 2006). Derartige Verhältnisse sind weder dargetan noch sonst
wie ersichtlich.

3.4. Die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Differenz hinsichtlich der
Nominallohnentwicklung resultiert aus dem Umstand, dass die Vorinstanz auf die
für Männer geltenden Werte gemäss Tabelle T1.1.05 (Abschnitt D [Verarbeitendes
Gewerbe; Industrie]: 106.7 [2009]; 107.2 [2010]) abstellte und der
Beschwerdeführer die höheren, in Tabelle T1.05 als Total ausgewiesenen Werte
(Abschnitt D: 106.9 [2009]; 107.5 [2010]) für massgebend hält. Selbst wenn
indessen mit dem Beschwerdeführer von einer Nominallohnentwicklung von 106.9
(statt 106.7) für das Jahr 2009 und von 107.5 (statt 107.2) für das Jahr 2010
ausgegangen würde, ergäbe sich daraus nichts zu Gunsten des Beschwerdeführers.
Denn auch diesfalls resultierte bei einem Valideneinkommen von Fr. 90'857.11
(statt Fr. 90'773.38) und einem (unbestrittenen) Invalideneinkommen von Fr.
36'872.16 ein Invaliditätsgrad von 59.42 % (statt 59.38 %) bzw. gerundet (dazu
BGE 130 V 121) - unverändert - 59 %, welcher Anspruch auf eine halbe Rente
verleiht (Art. 28 Abs. 2 IVG).

4. 
Zufolge Unterliegens hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen
(Art. 66 Abs. 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 7. Dezember 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann

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