Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 407/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_407/2015

Urteil vom 22. April 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Williner.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Advokat Jürg Tschopp, und dieser substituiert durch MLaw Marco
Gasser,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Basel-Landschaft, Hauptstrasse 109, 4102 Binningen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 12.
März 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________, zuletzt zwischen Dezember 1999 und Juli 2008 als Lagermitarbeiter
bei der Firma B.________ tätig, meldete sich im September 2008 unter Hinweis
auf diverse Beschwerden bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an.
Die IV-Stelle Basel-Landschaft führte verschiedene erwerbliche und medizinische
Abklärungen durch, namentlich veranlasste sie eine bidisziplinäre Begutachtung
bei den Dres. med. C.________, FMH Rheumatologie und Innere Medizin, und med.
D.________, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, (Gutachten vom 14. Juli 2009)
und wies das Leistungsbegehren mit Verfügung vom 2. Februar 2011 ab. Die
dagegen von A.________ erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht
Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, mit Entscheid vom 25.
August 2011 gut, hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache zur
weiteren Abklärung im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück.

Die IV-Stelle veranlasste insbesondere das bidisziplinäre
(rheumatologisch-psychiatrische) Verlaufsgutachten der Dres. med. C.________
und med. D.________ vom 23. Juli 2012 und sprach A.________ nach entsprechendem
Vorbescheid vom 2. November 2012 mit Verfügung vom 17. April 2014 eine
befristete ganze Rente der Invalidenversicherung vom 1. Juni 2010 bis zum 28.
Februar 2011 zu.

B. 
Dagegen erhob A.________ am 22. Mai 2014 Beschwerde beim Kantonsgericht
Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht. Die IV-Stelle beantragte
vorerst Abweisung der Beschwerde, dann im Rahmen eines zweiten
Schriftenwechsels die lite pendente Wiedererwägung der Verfügung vom 17. April
2014 in dem Sinne, dass diese aufzuheben und die Sache zu weiteren Abklärungen
und neuer Verfügung an die IV-Stelle zurückzuweisen sei. Mit Entscheid vom 12.
März 2015 wies das Kantonsgericht die Beschwerde ab.

C. 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und der Verfügung vom 17.
April 2014. Die Sache sei zur Einholung eines polydisziplinären Gutachtens und
Neubeurteilung an die Vorinstanz oder die IV-Stelle zurückzuweisen.
Eventualiter sei ihm mindestens eine Viertelsrente der Invalidenversicherung
zuzusprechen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2. Bei den gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit handelt es sich grundsätzlich um Tatfragen (BGE 132 V 393 E.
3.2 S. 397 ff.). Gleiches gilt für die konkrete Beweiswürdigung (Urteil 9C_204/
2009 vom 6. Juli 2009 E. 4.1, nicht publ. in BGE 135 V 254, aber in: SVR 2009
IV Nr. 53 S. 164). Dagegen ist die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und
der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfrage (BGE 132 V 393
E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil I 865/06 vom 12. Oktober 2007 E. 4 mit
Hinweisen), die das Bundesgericht im Rahmen der den Parteien obliegenden
Begründungs- bzw. Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE
140 V 136 E. 1.1 S. 137 f.; 133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei
überprüfen kann (Art. 106 Abs. 1 BGG).

2. 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Rente
der Invalidenversicherung.

2.1. Die Vorinstanz mass dem Gutachten der Dres. med. C.________ und med.
D.________ vom 14. Juli 2009 sowie deren Verlaufsgutachten vom 23. Juli 2012
Beweiskraft zu und stellte gestützt darauf fest, dem Beschwerdeführer sei ab
dem 25. November 2010 die Ausübung einer körperlich leichten Tätigkeit ohne
Zwangshaltung der Halswirbelsäule, ohne ausdauernde Arbeit mit dem rechten Arm
über Schulterhöhe und in idealen Luftverhältnissen in einem Pensum von 80 %
zumutbar. In Bezug auf die im Zeitraum zwischen dem Verlaufsgutachten vom 23.
Juli 2012 und dem Erlass der angefochtenen Verfügung vom 17. April 2014
erstellten medizinischen Berichte stellte das kantonale Gericht zudem fest,
diese vermöchten keine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes
darzutun. Schliesslich verneinte die Vorinstanz auch die Notwendigkeit weiterer
- insbesondere neurologischer - Abklärungen und bestätigte die mit Verfügung
vom 17. April 2014 von der Verwaltung zugesprochene befristete ganze Rente der
Invalidenversicherung für den Zeitraum vom 1. Juni 2010 bis zum 28. Februar
2011.

2.2. Der Beschwerdeführer bestreitet die Beweistauglichkeit der bidisziplinären
Gutachten der Dres. med. C.________ und med. D.________ nicht. Er rügt indessen
eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes, weil sowohl IV-Stelle wie
Vorinstanz eine seither eingetretene Verschlechterung des Gesundheitszustandes
(insbesondere eine Diskushernie L3/4 mit Kontakt zur Nervenwurzel) nicht weiter
abgeklärt und - entgegen fachärztlicher Empfehlung - auf die Durchführung einer
neurologischen Begutachtung verzichtet hätten. Das kantonale Gericht habe den
Sachverhalt aufgrund eines Gutachtens beurteilt, welches beinahe zwei Jahre vor
Verfügungserlass erstellt worden sei; der Entscheid beruhe daher auf einer
ungenügenden Entscheidgrundlage.

3.

3.1. Sowohl das Verwaltungsverfahren wie auch der kantonale
Sozialversicherungsprozess sind vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht (Art. 43
Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG). Danach haben Verwaltung und
Sozialversicherungsgericht den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen
festzustellen. Diese Untersuchungspflicht dauert so lange, bis über die für die
Beurteilung des streitigen Anspruchs erforderlichen Tatsachen hinreichende
Klarheit besteht. Der Untersuchungsgrundsatz weist enge Bezüge zum - auf
Verwaltungs- und Gerichtsstufe geltenden - Grundsatz der freien Beweiswürdigung
auf. Führen die im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes von Amtes wegen
vorzunehmenden Abklärungen den Versicherungsträger oder das Gericht bei
umfassender, sorgfältiger, objektiver und inhaltsbezogener Beweiswürdigung (BGE
132 V 393 E. 4.1 S. 400) zur Überzeugung, ein bestimmter Sachverhalt sei als
überwiegend wahrscheinlich (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360; 125 V 193 E. 2 S. 195,
je mit Hinweisen) zu betrachten und es könnten weitere Beweismassnahmen an
diesem feststehenden Ergebnis nichts mehr ändern, so liegt im Verzicht auf die
Abnahme weiterer Beweise keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
(antizipierte Beweiswürdigung; BGE 134 I 140 E. 5.3 S. 148; 124 V 90 E. 4b S.
94). Bleiben jedoch erhebliche Zweifel an Vollständigkeit und/oder Richtigkeit
der bisher getroffenen Tatsachenfeststellung bestehen, ist weiter zu ermitteln,
soweit von zusätzlichen Abklärungsmassnahmen noch neue wesentliche Erkenntnisse
zu erwarten sind (Urteile 8C_1021/2009 vom 3. November 2010 E. 4.2, 8C_101/2010
vom 3. Mai 2010 E. 4.1 und 9C_167/2009 vom 28. Mai 2009 E. 3.1).

3.2. Das kantonale Gericht zitierte im angefochtenen Entscheid aus den
medizinischen Berichten, die im Nachgang zur bidisziplinären
Verlaufsbegutachtung vom 23. Juli 2012 erstellt worden waren und aus denen eine
Änderung des Gesundheitszustandes hervorging, die zur Vervollständigung der
beweismässigen Entscheidgrundlage mindestens einer Rückfrage an die Gutachter
bedurft hätte.

3.2.1. Insbesondere hatten sowohl der Neurologe Dr. med. E.________ (Bericht
der Klinik F.________ vom 15. Dezember 2012) wie auch der Neurochirurge Dr.
med. G.________ (Bericht der Neurologisch-Neurochirurgischen Poliklinik des
Universitätsspitals H.________ vom 21. Januar 2013) aufgrund bestehender
neurologischer Ausfälle mit mittelgradigen bis deutlich ausgeprägten Befunden
die Durchführung einer neurologischen Begutachtung empfohlen. Trotz dieser
fachärztlichen Empfehlungen verneinte die Vorinstanz den Bedarf weiterer
Abklärungen einzig mit dem Hinweis, es seien von solchen unter den vorliegenden
Umständen allenfalls neue Aufschlüsse bezüglich der Behandlungsmethode zu
erwarten, nicht jedoch bezüglich der Leistungsfähigkeit im Erwerb. Worauf die
Vorinstanz diese Annahme stützte, bleibt indessen im Dunkeln.

3.2.2. Die Radiologin Dr. med. I.________ diagnostizierte anlässlich einer
MRI-Untersuchung der LWS im Mai 2013 einen - im Vergleich zu der
rheumatologischen Expertise des Dr. med. C.________ vom 23. Juli 2012 bzw. zu
der zugrunde liegenden MRI-Untersuchung vom Oktober 2010 - neuen
Bandscheibenvorfall rechts mediolateral im Segment L3/4, welcher im rechten
Neuroforamen Kontakt zur rechten Nervenwurzel gewinne. Des Weiteren bejahte sie
bezüglich der bekannten Diskushernie L4/5 einen im Rahmen der MRI-Untersuchung
vom Oktober 2010 noch verneinten Kontakt zur Nervenwurzel L5. Die Vorinstanz
ging diesen ausgewiesenen Verschlechterungen des Gesundheitszustands mit der
Begründung nicht nach, Dr. med. C.________ sei als Rheumatologe bei der
bekannten Rückenproblematik durchaus fähig gewesen, sich über die
Einschränkungen in einer Erwerbstätigkeit auszusprechen. Diese Begründung
verfängt nicht, beschlagen die im Rahmen der MRI-Untersuchung vom Mai 2013 neu
gewonnenen Erkenntnisse doch nicht die Beweistauglichkeit der rheumatologischen
Expertisen des Dr. med. C.________ bzw. dessen fachliche Kompetenz als
Rheumatologe, sondern einzig die Frage einer seit seiner Verlaufsbegutachtung
vom 23. Juli 2012 eingetretenen gesundheitlichen Verschlechterung.

3.3. Der rechtserhebliche Sachverhalt hinsichtlich des Gesundheitszustands des
Beschwerdeführers ist somit unvollständig erhoben. Die IV-Stelle, welche im
Übrigen im vorinstanzlichen Verfahren replicando ebenfalls eine Rückweisung
beantragt hatte und an welche die Sache zur ergänzenden Abklärung und
Neubeurteilung zurückzuweisen ist (vgl. Art. 107 Abs. 2 BGG), wird die bisher
versäumten Abklärungen nachzuholen haben.

4. 
Bei diesem Verfahrensausgang erübrigen sich Weiterungen zur Rüge des
Beschwerdeführers, Verwaltung und Vorinstanz hätten seinen Anspruch auf
rechtliches Gehör, auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) sowie das
Willkürverbot (Art. 9 BV) verletzt, weil sie Berichte der behandelnden Ärzte
nicht gehört hätten und er seine neuen Beschwerden keinem medizinischen
Sachverständigen habe vortragen können.

5. 
Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu weiterer Abklärung (mit noch
offenem Ausgang) gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch
der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1
sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271). Dementsprechend
sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen
(Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie hat dem Beschwerdeführer überdies eine
Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 12. März 2015 und die
Verfügung der IV-Stelle Basel-Landschaft vom 17. April 2014 werden aufgehoben.
Die Sache wird im Sinne der Erwägungen zu neuer Verfügung an die IV-Stelle
Basel-Landschaft zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. April 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Williner

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