Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 406/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_406/2015

Urteil vom 19. November 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt David Husmann,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

AXA Stiftung Berufliche Vorsorge, Winterthur, c/o AXA Leben AG, Paulstrasse 9,
8400 Winterthur.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
23. April 2015.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügungen vom 13. August 2003 und 1. Oktober 2003 hatte die IV-Stelle des
Kantons Aargau A.________ ab 1. Februar 2001 eine ganze Invalidenrente
zugesprochen. Nachdem das Versicherungsgericht des Kantons Aargau eine gestützt
auf die am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen Übergangsbestimmungen der
IV-Revision 6a den Rentenanspruch aberkennende Verfügung vom 26. September 2012
aufgehoben und die Sache zur medizinischen Aktenergänzung an die Verwaltung
zurückgewiesen hatte (Entscheid vom 20. August 2013), ordnete die IV-Stelle
nach Beizug eines Gutachtens des Zentrums B.________, vom 9. April 2014 erneut
die Rentenaufhebung an (Verfügung vom 24. Juni 2014).

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht, nach Gewährung
des rechtlichen Gehörs, mit der substitutierten Begründung ab, die
ursprüngliche Zusprechung der ganzen Invalidenrente sei zweifellos unrichtig im
wiedererwägungsrechtlichen Sinne gewesen (Entscheid vom 23. April 2015).

C. 
Der Versicherte führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten,
worin er zur Hauptsache die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides
beantragt.

Während die IV-Stelle die Abweisung der Beschwerde beantragt sehen Bundesamt
für Sozialversicherungen und mitbeteiligte Vorsorgeeinrichtung von einer
Vernehmlassung ab.

Erwägungen:

1. 
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht dadurch Bundesrecht
verletzt hat (Art. 95 lit. a BGG), dass es mit der im Verhältnis zu den
Übergangsbestimmungen der IV-Revision 6a substituierten (SVR 2014 IV Nr. 39 S.
137, 9C_121/2014 E. 3.2.2) Begründung der Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG, 
per analogiam ) die zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen
Rentenzusprechung bejaht und infolgedessen die verfügte Rentenaufhebung
geschützt hat.
Nicht Prozessthema ist hingegen die übergangsrechtliche Begründung der
Rentenaufhebung, nachdem die Vorinstanz, von keiner Seite angefochten, diese
ausdrücklich offenliess, weil die im Anschluss an den Rückweisungsentscheid vom
20. August 2013 in diesem rechtlichen Kontext sich stellenden Fragen nicht in
den Gutachtensauftrag an das Zentrum B.________ aufgenommen worden waren
(kantonaler Gerichtsentscheid, E. 3, S. 4 f.).

2.

2.1. Die Wiedererwägung dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen
Rechtsanwendung einschliesslich unrichtiger Tatsachenfeststellung im Sinne der
Sachverhaltswürdigung. Das Erfordernis der  zweifellosen Unrichtigkeit ist in
der Regel erfüllt, wenn eine Leistungszusprechung aufgrund falsch oder
unzutreffend verstandener Rechtsregeln erfolgt ist oder wenn massgebliche
Bestimmungen nicht oder unrichtig angewandt wurden. Anders verhält es sich,
wenn der Wiedererwägungsgrund im Bereich  materieller Anspruchsvoraussetzungen
liegt, deren Beurteilung notwendigerweise Ermessenszüge aufweist. Erscheint die
Beurteilung einzelner Schritte bei der Feststellung solcher
Anspruchsvoraussetzungen (Bemessung der Invalidität, Schätzung der
Arbeitsunfähigkeit, Beweiswürdigung, Zumutbarkeitsfragen) vor dem Hintergrund
der Sach- und Rechtslage, wie sie sich im Zeitpunkt der rechtskräftigen
Leistungszusprechung darbot, als vertretbar, scheidet die Annahme zweifelloser
Unrichtigkeit aus. Zweifellos ist die Unrichtigkeit, wenn kein vernünftiger
Zweifel daran möglich ist, dass die Verfügung unrichtig war. Es ist nur ein
einziger Schluss - derjenige auf die Unrichtigkeit der Verfügung - denkbar
(statt vieler Urteil 9C_125/2013 vom 19. Februar 2014 E. 4.1 mit Hinweisen,
nicht publiziert in: BGE 140 V 15, aber in: SVR 2014 IV Nr. 10 S. 39).

2.2. Das kantonale Gericht hatte seine Auffassung einer zweifellosen
Unrichtigkeit damit begründet, die Stellungnahme des RAD vom 9. Mai 2003 sei
"keine definitive" gewesen, zumal der RAD-Arzt dem Gutachten der Klinik
C.________ "nur gefühlsmässig" habe folgen können und die abschliessende
Beurteilung der internen Berufsberatung überlassen habe, wobei nichts auf eine
nochmalige Äusserung der Berufsberatung hindeute. Die schon am 19. Mai 2003
ergangene Mitteilung habe daher - bei Vorliegen erheblicher psychosozialer
Faktoren, Inkonsistenzen und Aggravationen - auf einem zum damaligen Zeitpunkt
"zweifellos ungenügend abgeklärt (en) " Sachverhalt beruht.

2.3. Anders als beispielsweise im unlängst ergangenen Urteil 9C_633/2015 vom 3.
November 2015, wo eine zweifellose Unrichtigkeit bejaht wurde, weil die
IV-Stelle (ausschliesslich) gestützt auf einen Bericht der Berufsberatung
abgestellt hatte, aus dem eine vollständige Arbeitsunfähigkeit hervorging,
während (sogar) vom Hausarzt eine 50%ige Arbeitsfähigkeit und von einer mit dem
Versicherten befasst gewesenen Rehabilitationsklinik in der angestammten
Tätigkeit sogar eine vollumfängliche Arbeitsfähigkeit attestiert worden war,
schilderten die Ärzte hier übereinstimmend - auch nach stationärer
psychosomatischer Abklärung (vom 24. bis 28. Februar 2003) eine komplizierte,
sich gegenseitig beeinflussende und nicht auflösbare Problematik von
medizinisch erklärbaren Befunden und sozio-kulturellen Belastungsfaktoren, die
offensichtlich derart ineinander verwoben waren, dass weder ein
erfolgsversprechender Therapieansatz genannt noch die Restarbeitsfähigkeit
abschliessend beurteilt werden konnte. Nicht einmal der stationäre Aufenthalt
des Versicherten in der Klinik C.________ vermochte darüber Aufschluss zu
geben, ob die an sich vermutete 50%ige Arbeitsfähigkeit in geschütztem Rahmen
noch verwertbar (gewesen) wäre (Beurteilung von Dr. med. D.________, Chefärztin
Psychosomatik an der Klinik C.________, vom 24. April 2004).

2.4. Auch wenn durchaus Vorbehalte am Vorgehen des RAD und der IV-Stelle
angebracht werden können (und aus heutiger Sicht ein invalidisierender
Gesundheitsschaden wohl verneint würde), erscheint die im Herbst 2003 erfolgte
Rentenzusprechung im damaligen Kontext nicht als geradezu zweifellos unrichtig
im Sinn der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. z.B. Urteil 9C_762/2013
vom 24. Juni 2014 E. 4.2). Wenn die IV-Stelle auf Weiterungen verzichtete, darf
dies - insbesondere unter Berücksichtigung der Einschätzung des RAD vom 9. Mai
2003, wonach erneute medizinische Abklärungen "ausser Kosten nichts" brächten -
nicht nachträglich als klare Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (wie sie
unter Wiedererwägungsgesichtspunkten vorausgesetzt wird) gewertet und eindeutig
gesagt werden, die Leistungszusprechung sei auf einer offenkundig
unvollständigen oder widersprüchlichen Aktenlage und insbesondere auf keiner
nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung erfolgt (z.B. Urteil 8C_347/2015 vom
20. August 2015 E. 2.1 mit Hinweisen; vgl. auch Urteil 9C_882/2014 vom 23. Juni
2015 E. 3.4).

3. 
Der obsiegende Beschwerdeführer hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art.
68 Abs. 1 BGG) zulasten der Beschwerdegegnerin, welche überdies die
Gerichtskosten zu tragen hat (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das Gesuch um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege ist daher gegenstandslos.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 23. April 2015 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons
Aargau vom 24. Juni 2014 werden aufgehoben.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der AXA Stiftung Berufliche Vorsorge, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. November 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Bollinger Hammerle

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