Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 38/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_38/2015

Urteil vom 15. Mai 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Parrino,
nebenamtlicher Bundesrichter Weber,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Advokat Silvan Ulrich,
Beschwerdeführerin,

gegen

Ausgleichskasse Basel-Stadt,
Wettsteinplatz 1, 4058 Basel,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Basel-Stadt vom 1. Dezember 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________ war vom ... 1994 bis ... 2011 im Handelsregister des Kantons
Basel-Stadt als Mitglied des Verwaltungsrates der B.________ AG mit
Einzelunterschrift eingetragen. Am 27. Juni 2012 wurde über die B.________ AG
der Konkurs eröffnet, in welchem die Ausgleichskasse Basel-Stadt zu Verlust
kam. Bereits am 28. Juni 2012 stellte das Betreibungsamt der Ausgleichskasse
einen Pfändungsverlustschein über Fr. 90'273.70 aus. Mit Schreiben vom 17. Juli
2012 machte die Ausgleichskasse bei A.________ geltend, dass sie sowie die
Familienausgleichskasse im Konkurs der B.________ AG mit Beitragsforderungen
für das Jahr 2010 in der Höhe von rund Fr. 93'000.- (exklusive Verzugszinsen
und möglicher weiterer Kosten) zu Verlust gekommen seien. Am 12. November 2013
erliess die Ausgleichskasse eine Verfügung, mit welcher sie A.________ zur
Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 90'273.70 verpflichtete. Auf
Einsprache hin hielt die Ausgleichskasse mit Entscheid vom 9. April 2014 an
ihrer Verfügung fest.

B. 
Die von A.________ hiegegen eingereichte Beschwerde wies der Präsident des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt mit Entscheid vom 1.
Dezember 2014 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der vorinstanzliche Entscheid und der Einspracheentscheid seien aufzuheben,
eventuell sei die Schadenersatzforderung um Fr. 1'161.65 zu reduzieren.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Mit dem kantonalen Recht hat sich das Bundesgericht unter Vorbehalt der in Art.
95 lit. c-e BGG genannten Ausnahmen (kantonale verfassungsmässige Rechte,
kantonale Bestimmungen über die politische Stimmberechtigung der Bürger und
Bürgerinnen und Volkswahlen und -abstimmungen, interkantonales Recht)
grundsätzlich nicht zu befassen. Eine Bundesrechtsverletzung im Sinne von Art.
95 lit. a BGG liegt namentlich vor, wenn die Anwendung kantonalen Rechts, sei
es wegen seiner Ausgestaltung oder aufgrund des Ergebnisses im konkreten Fall,
zu einer Verfassungsverletzung führt (Urteil 8C_393/2008 vom 24. September 2008
E. 4.3). Das Bundesgericht prüft die Rüge der Verletzung von kantonalem Recht
nur insofern, als sie in der Beschwerde präzise vorgebracht und begründet wird
(Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 135 V 309 E. 10 S. 318; 133 II 249 E. 1.4.2 S. 254,
Urteil 9C_849/2010 vom 10. November 2010). Gemäss § 56h Abs. 1 des Gesetzes
betreffend Wahl und Organisation der Gerichte sowie der Arbeitsverhältnisse des
Gerichtspersonals und der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt vom 27.
Juni 1895, in der Fassung vom 9. Mai 2001, gültig seit 1. Mai 2002
(Gerichtsorganisationsgesetz, BS GOG), entscheidet das
Sozialversicherungsgericht unter Vorbehalt der Absätze 2 und 3 unter dem
Vorsitz einer Gerichtspräsidentin oder eines Gerichtspräsidenten als
Dreiergericht. Laut § 56h Abs. 2 GOG entscheidet einfache Fälle eine
Gerichtspräsidentin oder ein Gerichtspräsident als Einzelrichterin oder als
Einzelrichter.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass es sich bei ihrer Angelegenheit
nicht um einen einfachen Fall handle. Fälle nach Art. 52 AHVG seien per se
nicht einfach. Ebenso habe der Streitwert als Massstab zu dienen. Auch aufgrund
der Tatsache, dassein doppelter Schriftenwechsel durchgeführt wurde, liege kein
einfacher Fall vor. Die Beschwerdeführerin vermag mit diesen Argumenten jedoch
nicht darzutun, inwiefern die Anwendung des kantonalen Rechts durch die
Vorinstanz aufgrund der Ergebnisse im konkreten Fall zu einer
Verfassungsverletzung führt. Die Besetzung des Gerichtes in einfachen Fällen
durch eine Gerichtspräsidentin oder einen Gerichtspräsidenten ist gesetzlich
vorgeschrieben und entspricht somit den Anforderungen von Art. 30 Abs. 1 BV
(vgl. dazu BGE 137 I 340 E. 2.2 S. 342). Einzig aus den in der Beschwerde
angeführten Kriterien kann nicht geschlossen werden, dass die Vorinstanz zu
Unrecht einen einfachen Fall angenommen habe. So ist nicht nachvollziehbar,
dass a priori alle Streitigkeiten im Rahmen der Arbeitgeberhaftung als nicht
einfach bezeichnet werden könnten. Vielmehr ist dafür der konkrete Sachverhalt
massgebend. Ebenso wenig ist für diese Qualifikation relevant, ob ein zweiter
Schriftenwechsel durchgeführt wurde oder nicht; die Anordnung eines solchen
hängt vom kantonalen Prozessrecht sowie davon ab, ob sich die Gegenpartei
(hier: Beschwerdegegnerin) bei der Vorinstanz überhaupt hat vernehmen lassen
oder nicht. Schliesslich ist auch der Streitwert kein taugliches Kriterium.
Auch bei einem geringen Streitwert können sich schwierige Rechtsfragen stellen,
währenddem bei einem höheren Streitwert solche nicht zwangsläufig gegeben sein
müssen. Somit kann aufgrund der von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Rügen
keine Verletzung von § 56h Abs. 2 BS GOG angenommen werden, die im Rahmen der
gesetzlichen Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts (E. 2 hievor) zufolge
Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV oder einer anderen Bundesverfassungsnorm
korrigiert werden könnte.

3.

3.1. Im angefochtenen Entscheid werden gesetzliche Bestimmungen und
Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der subsidiären Haftung der Organe eines
Arbeitgebers nach Art. 52 Abs. 1 AHVG, insbesondere dem Schaden, der
Widerrechtlichkeit (Missachtung von Vorschriften betreffend die Pflicht zur
Abrechnung und Bezahlung der paritätischen Beiträge; Art. 14 Abs. 1 AHVG und
Art. 34 ff. AHVV) und dem Verschulden, richtig wiedergegeben. Darauf wird
verwiesen.

3.2. Im Quantitativ bringt die Beschwerdeführerin keine konkreten
Beanstandungen betreffend die von der Ausgleichskasse vorgenommene, von der
Vorinstanz bestätigte Schadensberechnung vor. Sie macht einzig geltend, die
Rückerstattung der CO2-Abgabe für das Jahr 2010 sei von der
Schadenersatzforderung abzuziehen.
Der Anteil aus der Rückerstattung der CO2-Abgabe an die B.________ AG wurde
laut Schreiben der Ausgleichskasse vom 6. Juni 2012 mit den Beitragsforderungen
gemäss Jahresabrechnung 2012 verrechnet. Der Betrag von Fr. 1'161.65 wurde auf
der Grundlage der abgerechneten AHV-Lohnsumme des Jahres 2010 festgesetzt. Wenn
die Beschwerdeführerin verlangt, dass die Rückerstattung der CO2-Abgabe für
2010 von Fr. 1'161.65 an die Schadenersatzforderung anzurechnen sei, übersieht
sie, dass die entsprechende Gutschrift erst im Jahre 2012 mittels Anrechnung an
die Jahresrechnung 2012 erfolgte. Eine Anrechnung an die Schadenersatzforderung
für unbezahlt gebliebene Beiträge im Jahr 2010 ist damit ausgeschlossen. Die
Ausgleichskasse berechnet die Rückerstattung der seit 1. Januar 2008 vom Bund
erhobenen CO2-Abgabe praxisgemäss auf der AHV-Lohnsumme des vorletzten
Kalenderjahres. Die Beschwerdeführerin stellt diese Verwaltungspraxis nicht in
Frage.

3.3. Die Beschwerdegegnerin hatte am 9. April 2010 der B.________ AG
Akonto-Beiträge für eine Jahreslohnsumme von Fr. 1'700'000.- jeweils auf die
einzelnen Monate aufgeteilt in Rechnung gestellt. Die B.________ AG hatte
darauf am 17. August 2010 der Ausgleichskasse mitgeteilt, dass sich die
Lohnsumme 2010 nach ihrer Hochrechnung nur auf Fr. 1,3 Mio. belaufen werde; sie
ersuche daher um eine neue Rechnung für den Monat August. In der Folge hat die
Ausgleichskasse entsprechend tiefere monatliche Akonto-Beiträge in Rechnung
gestellt. Tatsächlich war dann jedoch die Jahreslohnsumme 2010 nicht nur nicht
tiefer als Fr. 1'700'000.-, sondern belief sich effektiv auf die erheblich
höhere Summe von Fr. 2'295'276.-. Die Beschwerdeführerin als bis ... 2011
eingetragenes Mitglied des Verwaltungsrates der B.________ AG mit
Einzelunterschrift hätte daher dafür besorgt sein müssen, dass die
Ausgleichskasse zum Zeitpunkt, als sich hochgerechnet auf das ganze Jahr 2010
Lohnzahlungen von deutlich mehr als Fr. 1,3 Mio. abzeichneten, darüber ins Bild
gesetzt wird. Dies ist offensichtlich unterblieben. Vielmehr bewirkte die
nachmalige Konkursitin noch im August 2010 durch eine entsprechende Mitteilung,
dass die Akonto-Beiträge gesenkt wurden. Mit diesem Vorgehen wurde die
Ausgleichskasse daran gehindert, die Akonto-Beiträge an die konkrete Lohnsumme
anzupassen, was als grobe Fahrlässigkeit der Beschwerdeführerin als
einzelzeichnungsberechtigte Verwaltungsrätin der B.________ AG zu beurteilen
ist (vgl. dazu Kieser, Rechtsprechung zur AHV, 3. Aufl., Art. 52 AHVG Rz. 41).
Dabei ist auch auf die Rechtsprechung hinzuweisen, wonach das verantwortliche
Organ nur soviel massgebenden Lohn (Art. 5 Abs. 2 AHVG) zur Auszahlung bringen
darf, als die darauf unmittelbar entstehenden Beitragsforderungen gedeckt sind
und dafür sorgen muss, dass die davon ex lege geschuldeten paritätischen
Beiträge abgeliefert und nicht für andere Zwecke verwendet werden (SVR 1995 AHV
Nr. 70 S. 213, H 325/94; Urteil H 69/02 vom 7. Januar 2004 E. 4.2).
Gegenteiliges Verhalten ist den verantwortlichen Organen grundsätzlich als
qualifiziertes Verschulden zuzurechnen (BGE 121 V 243 E. 4b S. 244), was die
volle Schadenersatzpflicht nach sich zieht (SVR 2010 AHV Nr. 4 S. 11, 9C_152/
2009; Urteil 9C_933/2013 vom 7. April 2014 E. 3.2). Ob die Konkursitin bereits
in den vergangenen Jahren jeweils aufgrund von zu tiefen Akontozahlungen
Ausstände auflaufen liess, diese dann aber jeweils nachträglich bezahlt wurden,
wie in der Beschwerde vorgetragen wird, ist nicht entscheidend. Ausschlaggebend
ist vielmehr, dass die B.________ AG im hier interessierenden Jahr 2010 nicht
Akontozahlungen leistete, die der effektiv ausbezahlten Lohnsumme entsprachen.
Zumindest hätte die Beschwerdeführerin darauf hinwirken müssen, dass
entsprechende Rückstellungen gebildet wurden, damit Anfang 2011 die
ausstehenden Rechnungen unverzüglich hätten beglichen werden können. Davon hat
sie jedoch abgesehen. Welche Erkenntnisse zur Frage des offensichtlich
gegebenen grobfahrlässigen Verhaltens der Beschwerdeführerin aufgrund der
verspäteten Meldung der höheren Lohnsummen der B.________ AG von einer
Parteibefragung zu erwarten wären, wird sodann nicht dargelegt. Die Vorinstanz
durfte unter den gegebenen Umständen in antizipierter Beweiswürdigung (BGE 124
V 90 E. 4b S. 94; vgl. auch BGE 134 V 231 E. 5.3 S. 234) von einer
Parteibefragung absehen.

3.4. Nicht gehört werden kann die Beschwerdeführerin des Weiteren mit dem
Einwand, dass ein Tilgungsplan für die ausstehenden Beträge des Jahres 2010
vereinbart worden sei. Sie räumt selber ein, dass die erste Zahlung nicht
fristgerecht beglichen wurde. Dies hat zur Folge, dass die gesamte ausstehende
Forderung am 1. Juli 2011 zur Zahlung fällig wurde, wovon die
Beschwerdeführerin im Zeitpunkt ihres Ausscheidens aus dem Verwaltungsrat der
B.________ AG am ... 2011 auszugehen hatte. Sie blieb auch nach ihrem
Ausscheiden aus dem Verwaltungsrat für die von ihr bis zu diesem Zeitpunkt
begangenen Versäumnisse bei der Zahlung der Beiträge verantwortlich ( KIESER,
a.a.O., Art. 52 AHVG Rz. 74). Auch kann sich die Beschwerdeführerin nicht
dadurch exkulpieren, dass im Kaufvertrag vom 10. Juli 2011 über 80
Inhaberaktien vereinbart worden war, die Käufer hätten ein Darlehen von Fr.
160'000.- in die B.________ AG einzubringen. Vielmehr dokumentierte die
Beschwerdeführerin in diesem Kaufvertrag selber, dass die B.________ AG
überschuldet war, wie unmissverständlich aus Ziff. 6 des Kaufvertrages über 80
Inhaberaktien hervorgeht, wurde darin doch festgehalten, dass die B.________ AG
saniert werden müsse. Die Beschwerdeführerin hätte daher mit Nachdruck darauf
hinwirken müssen, dass vor ihrem Ausscheiden aus dem Verwaltungsrat tatsächlich
die Summe von Fr. 160'000.- geleistet wurde, womit auch die ausstehenden
Beitragsschulden gegenüber der Ausgleichskasse hätten beglichen werden können.
Dies hat sie indessen unterlassen. Somit hat die Vorinstanz zutreffend auf eine
entsprechende Haftung der Beschwerdeführerin in der von der Ausgleichskasse
bezifferten Höhe geschlossen.

4. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 4'500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 15. Mai 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Widmer

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