Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 385/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_385/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 17. Dezember 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner,
Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Roger Zenari,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

Pensionskasse B.________.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(Invalidenrente; prozessuale Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 22. April 2015.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügung vom 20. Mai 2008 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau
A.________ eine ganze Rente der Invalidenversicherung samt drei Kinderrenten
zu. Im Rahmen des im April 2011 eingeleiteten (zweiten) Revisionsverfahrens
wurde der Versicherte im Zeitraum von Oktober 2011 bis März 2012 observiert
sowie psychiatrisch untersucht und begutachtet (Expertise Externe
Psychiatrische Dienste vom 8. November 2013). Nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren hob die IV-Stelle mit Verfügung vom 21. Januar 2014 die
Rente prozessual revisionsweise rückwirkend ab 1. November 2007 auf.

B. 
Die Beschwerde des A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
nach Beiladung der Pensionskasse B.________ zum Verfahren und unter
Berücksichtigung des nachgereichten versicherungspsychiatrischen Gutachtens des
Dr. med. C.________ vom 15. Mai 2014 mit Entscheid vom 22. April 2015 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 22. April 2015 und die Verfügung vom 21. Januar 2014 seien
aufzuheben und es sei ihm weiterhin eine Invalidenrente auszubezahlen;
eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz oder an die IV-Stelle
zurückzuweisen zur ergänzenden Abklärung des Sachverhalts.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ersuchen um
Abweisung der Beschwerde. Die Pensionskasse B.________ verzichtet auf eine
Vernehmlassung.
A.________ hat eine Stellungnahme (Eingabe vom 4. November 2015) zur
Vernehmlassung des BSV eingereicht.

Erwägungen:

1. 
Soweit sich der Beschwerdeführer in seiner Eingabe vom 4. November 2015 über
die Ausführungen in der Vernehmlassung des BSV hinaus zur Sache äussert,
namentlich zur Frist für die Geltendmachung eines prozessualen Revisionsgrundes
nach Art. 53 Abs. 1 ATSG (vgl. dazu Urteil 9C_896/2011 vom 31. Januar 2012 E.
4.2, in: SVR 2012 IV    Nr. 36 S. 140), ergänzt er seine Vorbringen in der
Beschwerde, was im Rahmen des Replikrechts nicht zulässig ist und daher
unbeachtet zu bleiben hat.

2. 
Der angefochtene Entscheid bestätigt die Aufhebung der dem Beschwerdeführer
aufgrund der Diagnose einer schizophreniformen psychotischen Störung bzw.
paranoiden Schizophrenie mit Verfügung vom 20. Mai 2008 zugesprochenen ganzen
Rente ab 1. November 2007 durch die Beschwerdegegnerin gestützt auf Art. 53
Abs. 1 ATSG. Nach dieser Bestimmung müssen formell rechtskräftige Verfügungen
und Einspracheentscheide in Revision gezogen werden, wenn die versicherte
Person oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen
entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war
(prozessuale Revision; BGE 127 V 466 E. 2c in fine S. 469). Gemäss Vorinstanz
leidet der Beschwerdeführer aufgrund des beweiskräftigen psychiatrischen
Administrativgutachtens vom 8. November 2013 überwiegend wahrscheinlich seit
Beginn des Rentenbezugs am 1. November 2007 an keiner psychischen Erkrankung.
Der präsentierte Zustand sei auf nicht medizinische Ursachen zurückzuführen.
Dass diese Tatsache bei der Rentenzusprache mit Verfügung vom 20. Mai 2008
nicht berücksichtigt wurde, sei auf dessen unzutreffende Symptompräsentation
und -schil-derung im Rahmen der stationären Behandlung vom 27. November 2006
bis 8. Januar 2007 und der ambulanten Therapie ab 9. Februar 2007
zurückzuführen. Eine im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG erheb-liche neue Tatsache
sei somit ausgewiesen und die von der Beschwerdegegnerin vorgenommene
prozessuale Revision nicht zu beanstanden.

3. 
Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen der Voraussetzungen für eine
prozessuale Revision der Verfügung vom 20. Mai 2008:

3.1. Er bringt vor, es wäre der Beschwerdegegnerin unbenommen gewesen, vor der
Rentenzusprechung zusätzlich zu den bereits eingeholten ärztlichen Berichten,
welche alle von einer Schizophrenie ausgegangen seien und ihn nicht mehr als
arbeitsfähig bezeichnet hätten, eine (weitere) psychiatrische Begutachtung und/
oder allenfalls eine Observation durchzuführen. Die Expertise vom 8. November
2013 ebenso wie die Ergebnisse der Observation im Zeitraum von Oktober 2011 bis
März 2012 seien somit nicht neu im Rechtssinne.
Prozessual revisionsrechtlich erheblich sind (nur) Tatsachen und Beweismittel,
welche zur Zeit der rechtskräftigen Entscheidung schon bestanden haben und
welche der gesuchstellenden Partei  trotz hinreichender Sorgfalt nicht bekannt
waren (BGE 127 V 353 E. 5b S. 358; Urteil U 22/07 vom 6. September 2007 E.
4.1). Mit seinen Vorbringen vermag der Beschwerdeführer nicht darzutun,
inwiefern diese Voraussetzungen in Bezug auf die gemäss Vorinstanz
unzutreffende Symptompräsentation und -schilderung im Rahmen der stationären
Behandlung vom 27. November 2006 bis 8. Januar 2007 und der ambulanten Therapie
ab 9. Februar 2007 nicht erfüllt sind.

3.2. Weiter macht der Beschwerdeführer geltend, das psychiatrische
Administrativgutachten vom 8. November 2013 bewerte lediglich den (selben)
Sachverhalt anders als es die vorherigen Fachärzte getan hätten, so dass auch
insofern kein tauglicher Grund für eine prozessuale Revision gegeben sei.

3.2.1. Ein prozessual revisionsrechtlich relevantes Beweismittel darf nicht
bloss der Sachverhaltswürdigung, sondern muss der Sachverhaltsfeststellung
dienen. Es genügt daher nicht, dass ein neues Gutachten den Sachverhalt anders
wertet; vielmehr bedarf es neuer Elemente tatsächlicher Natur, welche die
Entscheidungsgrundlagen als objektiv mangelhaft erscheinen lassen (BGE 127 V
353 E. 5b S. 358; Urteile 8C_779/2014 vom 6. Mai 2015 E. 3.3 und 8C_334/2013
vom 15. November 2013 E. 3.2, in: ARV 2013 S. 356; vgl. auch Urteil 9C_896/2011
vom 31. Januar 2012 Sachverhalt lit. A und E. 2, in: SVR 2012 IV Nr. 36 S.
140).

3.2.2. Gemäss Vorinstanz ist das neue Element tatsächlicher Natur in einer
unzutreffenden Symptompräsentation und -schilderung im Rahmen der stationären
Behandlung vom 27. November 2006 bis 8. Januar 2007 und der ambulanten Therapie
ab 9. Februar 2007 zu erblicken, was zur (Fehl-) Diagnose einer
schizophreniformen psychotischen Störung (Austrittsbericht Psychiatrische
Klinik D._________ vom 15. Januar 2008) bzw. paranoiden Schizophrenie (Bericht
Dres. med. E.________ und F.________ vom 13. Februar 2008) geführt habe. Der
Beschwerdeführer bringt zwar vor, dass das kantonale Versicherungsgericht nicht
sagt, worin dieses nicht der tatsächlichen Situation entsprechende Verhalten
bestanden haben soll. Aufgrund des Administrativgutachtens kann jedoch
klarerweise nicht bloss von der neuen Würdigung einer bereits bekannten
Tatsache ausgegangen werden, vielmehr erhellt aus ihm eine irreführende
Symptompräsentation, die prozessual - da als neue Tatsache  selber zu einem
anderen Entscheid führend - revisionsrechtlich bedeutsam ist. So sprach der
psychiatrische Experte von zahlreichen Inkonsistenzen, von denen sich die
meisten unter der Tatsache subsumieren liessen, "dass die Verbalisierung
produktiv-psychotischer Symptome deutlich leichter nachzuahmen ist als die
typischen Denk-, Gefühls- und Verhaltensstörungen, die den gesamten Alltag
betreffen". Weiter führte er u.a. aus, das im Rahmen der Erstpsychose-Abklärung
2007 auf der Station gezeigte unauffällige Verhalten des Versicherten sei im
Widerspruch zu den geklagten Beschwerden gestanden. Desgleichen fänden sich in
den drei polizeilichen Einvernahmeprotokollen trotz bis zu dreistündiger Dauer
keine Hinweise auf krankheitsbedingte Einschränkungen. Insbesondere würden
keine Verhaltensauffälligkeiten beschrieben. Schliesslich widersprächen die in
der Untersuchungssituation gezeigten Auffälligkeiten dem Ergebnis der
Observation sowie seinen Angaben und denjenigen der behandelnden Ärzte, wonach
es ihm immer gleich schlecht gehe.

3.2.3. Nach dem Gesagten verletzt es kein Bundesrecht, dass die Vorinstanz das
Administrativgutachten vom 8. November 2013 und die Unterlagen über die
Observation im Zeitraum von Oktober 2011 bis März 2012 als neue Beweismittel
mit neuen Tatsachen im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG für die unzutreffende
Symptompräsentation und -schilderung anerkannt hat.

4. 
Weiter bestreitet der Beschwerdeführer den Beweiswert des psychiatrischen
Gutachtens vom 8. November 2013. Was er dazu vorträgt, ist indessen nicht
stichhaltig:

4.1. Die Rüge, seine Partizipationsrechte gemäss BGE 139 V 349 (Urteil 9C_207/
2012 vom 3. Juli 2013) seien nicht eingehalten worden, insbesondere sei kein
Einigungsversuch eingeleitet worden, ist verspätet. Weder nach Erhalt der
"Einladung zur Begutachtung" vom      5. September 2013 mit Angabe des Experten
noch im Vorbescheid- oder im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren brachte er
bzw. sein (damaliger) Rechtsvertreter Beanstandungen formeller Natur vor.

4.2. Der Einwand der Vorurteilsbehaftetheit des Administrativgutachters sodann,
der ein Interview im Verhörstil geführt und ihn in Bedrängnis gebracht habe
durch die imperative Aufforderung, sein Krankheitsmodell zu erklären, vermag,
soweit nicht verspätet (vgl.    E. 4.1), den Beweiswert der Expertise (vgl.
dazu BGE 134 V 231       E. 5.1 S. 232) ebenfalls nicht zu mindern.

4.3. Schliesslich vermögen weder seine Darlegungen zum Beweiswert des privat
eingeholten versicherungspsychiatrischen Gutachtens von Dr. med. C.________ vom
15. Mai 2014 noch die darin geäusserte Kritik, wonach insbesondere der
Administrativgutachter die Problematik des Exploranden nicht differenziert
genug erfasst habe, ernsthafte Zweifel an der Schlüssigkeit von dessen
Beurteilung zu wecken. Daran ändert nichts, dass der Privatgutachter
SIM-zertifiziert ist und regelmässig für eine IV-Stelle Expertisen erstellt,
weshalb nicht angenommen werden könne, dass er eine Schizophrenie
diagnostizierte, wenn er hiervon nicht überzeugt wäre. Auch Dr. med. C.________
erörterte im Übrigen, ob eine Simulation vorliege; er verneinte sie im
Wesentlichen aufgrund der Fremdanamnese der Ehefrau des Beschwerdeführers, die
während dessen Exploration zugegen war. Die Würdigung der Vorinstanz, wonach
die Aussagen der Ehefrau die mannigfachen Inkonsistenzen des Versicherten, wie
sie der Administrativgutachter anführte (vgl. E. 3.2.2), nicht in Zweifel zu
ziehen vermögen, kann nicht beanstandet werden. Im Übrigen ist darauf
hinzuweisen, dass die psychiatrische Exploration von der Natur der Sache her
nicht ermessensfrei erfolgen kann und dem begutachtenden Psychiater deshalb
praktisch immer einen gewissen Spielraum eröffnet, innerhalb dessen
verschiedene medizinisch-psychiatrische Interpretationen möglich, zulässig und
zu respektieren sind, sofern der Experte lege artis vorgegangen ist (Urteil
9C_353/2015 vom 24. November 2015 E. 4.1).

5. 
Der angefochtene Entscheid verletzt kein Bundesrecht. Die Beschwerde ist
unbegründet.

6. 
Ausgangsgemäss wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Pensionskasse B.________, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 17. Dezember 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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