Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 360/2015
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]            
9C_360/2015   {T 0/2}     

Urteil vom 7. April 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Grünenfelder.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Beat Frischkopf,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Luzern,
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 17. April 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1955 geborene A.________ ist gelernte Krankenpflegerin und meldete sich am
28. Juni 2001 aufgrund eines Bandscheibenvorfalles zum Leistungsbezug an. Den
rentenzusprechenden Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Luzern vom
26. Juli 2005 (halbe Invalidenrente vom 1. Januar 2002 bis 31. Juli 2003; ganze
Invalidenrente vom 1. März bis 30. Juni 2004; Viertelsrente ab 1. Juli 2004)
hob das Verwaltungsgericht (heute: Kantonsgericht) Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 25. Oktober 2006 auf
und sprach A.________ vom 1. Februar 2003 bis 29. Februar 2004 eine
Viertelsrente zu; zur Klärung späterer Rentenansprüche wies es die Sache an die
Verwaltung zurück. Am 13. Mai 2009 erliess die IV-Stelle gestützt a uf ein
polydisziplinäres Gutachten der MEDAS Zentralschweiz vom 31. Januar 2008 eine
neue Verfügung und gewährte A.________ vom 1. März 2004 bis 30. September 2008
eine ganze und ab 1. Oktober 2008 eine halbe Invalidenrente. Das
Verwaltungsgericht setzte die ganze Rente der Versicherten schliesslich mit
Entscheid vom 3. Mai 2011 ab 1. Oktober 2004 auf eine halbe Invalidenrente
herab (Invaliditätsgrad: 54 %).
Im Dezember 2009 beantragte A.________ aufgrund eines starken Psoriasisschubes
sowie verschiedener weiterer Leiden eine Rentenerhöhung. Die abweisende
Verfügung vom 21. November 2011 hob das Verwaltungsgericht mit Entscheid vom 2.
Juli 2012 auf und wies die Sache zur Neubeurteilung zurück. Die IV-Stelle
veranlasste beim Swiss Medical Assessment- and Business Center (nachfolgend:
SMAB) ein polydisziplinäres Gutachten, das vom 14. Juni 2013 datiert. Nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach sie A.________ mit Verfügung vom
20. November 2013 ab 1. Mai 2013 eine ganze Invalidenrente zu
(Invaliditätsgrad: 86 %).

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid
vom 17. April 2015 ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei der
effektive Beginn der Rentenerhöhung ergänzend abzuklären.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde (Vernehmlassung vom 30.
Juni 2015). Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Vernehmlassung. A.________ lässt am 8. März 2014 eine weitere Eingabe
einreichen.

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht       (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2. Die Eingabe der Beschwerdeführerin vom 8. März 2016 datiert nach Ablauf
der Beschwerdefrist wie auch der Replikfrist. Sie bleibt somit zum vorneherein
unbeachtlich. Dazu kommt, dass der verurkundete Vorbescheid vom 3. März 2016
die Ausrichtung einer Hilflosenentschädigung (leichten Grades) betrifft, was
ausserhalb des Streitgegenstandes (E. 2.2) liegt.

2.

2.1. Das kantonale Gericht hat dem polydisziplinären SMAB-Gutachten vom 14.
Juni 2013 Beweiskraft zuerkannt. Gestützt darauf hat es zur retrospektiven
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit die Berichte des behandelnden Rheumatologen
Dr. med. B.________ vom 27. November 2012 und 21. Februar 2013herangezogen und
der Versicherten ab Februar 2013 eine vollumfängliche Arbeitsunfähigkeit
attestiert. Die Zusprache einer ganzen Invalidenrente ab 1. Mai 2013 (Art. 88a
Abs. 2 IVV) hat die Vorinstanz demzufolge bestätigt.

2.2. Der Rentenanspruch der Versicherten ab Mai 2013 ist unbestritten; darauf
ist nicht mehr einzugehen (Art. 107 Abs. 1 BGG). Streitgegenstand bildet einzig
die Frage, ob bereits vor Februar 2013 eine relevante Verschlechterung des
Gesundheitszustandes eingetreten ist. Die Beschwerdeführerin rügt in Bezug auf
die retrospektive Beurteilung der Arbeitsfähigkeit eine willkürliche
Beweiswürdigung.

2.3. Das kantonale Gericht hat beweiswürdigend festgestellt, mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit könne davon ausgegangen werden, dass die Arbeitsfähigkeit
der Versicherten aufgrund der Handgelenksarthritis ab Februar 2013 (vgl.
Bericht des Dr. med. B.________ vom 21. Februar 2013) komplett aufgehoben
gewesen sei.

3.

3.1. Sowohl das Verwaltungsverfahren wie auch der kantonale
Sozialversicherungsprozess sind vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht. Danach
haben Verwaltung und Sozialversicherungsgericht den rechtserheblichen
Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen. Diese Untersuchungspflicht dauert so
lange, bis über die für die Beurteilung des streitigen Anspruchs erforderlichen
Tatsachen hinreichende Klarheit besteht. Der Untersuchungsgrundsatz weist enge
Bezüge zum - auf Verwaltungs- und Gerichtsstufe geltenden - Grundsatz der
freien Beweiswürdigung auf. Führen die im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes
von Amtes wegen vorzunehmenden Abklärungen den Versicherungsträger oder das
Gericht bei umfassender, sorgfältiger, objektiver und inhaltsbezogener
Beweiswürdigung (BGE 132 V 393   E. 4.1 S. 400) zur Überzeugung, ein bestimmter
Sachverhalt sei als überwiegend wahrscheinlich zu betrachten und es könnten
weitere Beweismassnahmen an diesem feststehenden Ergebnis nichts mehr ändern,
so liegt im Verzicht auf die Abnahme weiterer Beweise keine Verletzung des
Anspruchs auf rechtliches Gehör (antizipierende Beweiswürdigung; BGE 136 I 229
E. 5.3 S. 236; 134 I 140 E. 5.3       S. 148; 124 V 90 E. 4b S. 94). Bleiben
jedoch erhebliche Zweifel an Vollständigkeit und/oder Richtigkeit der bisher
getroffenen Tatsachenfeststellung bestehen, ist weiter zu ermitteln, soweit von
zusätzlichen Abklärungsmassnahmen noch neue wesentliche Erkenntnisse zu
erwarten sind (Urteil 9C_393/2014 vom 18. September 2014 E. 3.1.3 mit weiteren
Hinweisen).

3.2. Bei den gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit bzw. deren Veränderung in einem bestimmten Zeitraum handelt es
sich grundsätzlich um eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Ebenso
stellt die konkrete Beweiswürdigung eine Tatfrage dar. Dagegen sind die
unvollständige Feststellung rechtserheblicher Tatsachen sowie die Missachtung
des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG) und der
Anforderungen an den Beweiswert ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE 134 V
231 E. 5.1 S. 232) Rechtsfragen, welche das Bundesgericht frei prüft (E. 1.1).

3.3.

3.3.1. Das kantonale Gericht hat gestützt auf das SMAB-Gutachten die
Hospitalisation der Beschwerdeführerin im November/Dezember 2009 und den
Bericht des behandelnden Dermatologen Prof. Dr. med. C.________, Spital
D.________, vom 21. Dezember 2009berücksichtigt. Die Beschwerdeführerin
übersieht insbesondere, dass Prof. Dr. med. C.________ bei seiner Beurteilung
der Arbeitsfähigkeit (vollständige Arbeitsunfähigkeit bereits im Dezember 2009)
vornehmlich nicht dermatologische Befunde einbezog (Durchblutungsstörung am
rechten Fuss; chronisch-obstruktive Lungenerkrankung [COPD]; koronare
Herzkrankheit; Hepatopathie; Rückenprobleme), was den Beweiswert seiner
Stellungnahme schmälert; aus dem gleichen Grund kann auf den Bericht vom 26.
Oktober 2012 nicht abgestellt werden, worin der behandelnde Dermatologe die
vollständige Arbeitsunfähigkeit der Versicherten neben der verschlechterten
Hautsituation explizit mit der Lungenproblematik und psychischen
Schwierigkeiten begründete. Demgegenüber beruht das SMAB-Gutachten auf einem
polydisziplinären Konsens, wobei die relevanten Aspekte des unbestritten
komplexen Krankheitsbildes aus fachärztlicher Sicht beurteilt werden konnten
(zum Beweiswert von gemäss Art. 44 ATSG eingeholten Gutachten vgl. BGE 135 V
465 E. 4.4 S. 470; 125 V 351 E. 3b/bb S. 353). Zur abweichenden Beurteilung des
behandelnden Psychiaters Dr. med. E.________ (Bericht vom 17. November 2012)
nahm die psychiatrische SMAB-Gutachterin Dr. med. F.________ detailliert
Stellung. Insoweit ergeben sich auch daraus keine neuen Gesichtspunkte. Dem
psychiatrischen Teilgutachten vom 7. Mai 2013 (S. 6) ist vielmehr zu entnehmen,
bei der Versicherten bestehe - entgegen der Auffassung des Dr. med. E.________,
der zwar ausgedehnte somatische Diagnosen gestellt habe, aber rein
psychiatrisch von keiner Arbeitsunfähigkeit ausgegangen sei - auf
psychiatrischem Fachgebiet keine invalidisierende Erkrankung; der Schwerpunkt
liege klar auf den somatischen Leiden. Die Beschwerdeführerin bringt nichts
vor, was diese Einschätzung in Zweifel ziehen könnte. Ein Widerspruch zur
übrigen Aktenlage ist nicht ersichtlich. Abgesehen davon ist sowohl bezüglich
der Stellungnahme des Dr. med. E.________ als auch mit Blick auf diejenigen des
Prof. Dr. med. C.________ dem Unterschied von Behandlungs- und
Begutachtungsauftrag Rechnung zu tragen (vgl. Urteile 8C_260/2011 vom 25. Juli
2011 E. 5.2 und 8C_567/2010 vom 19. November 2010 E. 3.2.2).

3.3.2. Die weiteren Akten, auf welche sich die Beschwerdeführerin beruft,
ändern nichts. Das Schreiben ihres Rechtsvertreters an den behandelnden
Dermatologen vom 24. November 2011 ist nicht visiert; es stellt in Bezug auf
den Gesundheitszustand ein untaugliches Beweismittel dar (zur Beurteilung des
Gesundheitszustandes als genuine Aufgabe des Mediziners vgl. BGE 140 V 193 E.
3.2 S. 195). Nicht hilfreich sind auch die Protokolleinträge vom 5. August 2009
und 24. Mai 2011. Dabei handelt es sich lediglich um beschreibende Angaben zur
Hauterkrankung der Versicherten, was nicht genügt. Die Allgemeinmedizinerin Dr.
med. G.________ vom Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD), auf deren Beizug die
Beschwerdeführerin im Mai 2011 bestanden hatte, beurteilte die Arbeitsfähigkeit
nicht, weshalb die betreffenden Angaben ebenfalls nicht weiter helfen.
Schliesslich ist die handschriftliche Notiz der Personalberaterin des
Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums (RAV) vom 13. August 2009
("Arbeitsvermittlung: Ihr wurde fast übel. So kann man nicht arbeiten.") -
soweit sie überhaupt beachtlich ist (Art. 99 Abs. 1 BGG) - mit keinem Wort
begründet und beinhaltet keinerlei medizinische Entscheidungsgrundlagen (vgl.
BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232).

4. 
Nach dem Gesagten bestehen keine Anhaltspunkte, dass bei der Versicherten -
insbesondere aus nicht rheumatologischen Gründen - vor Februar 2013 eine
vollumfängliche Arbeitsunfähigkeit vorlag. Die zentrale vorinstanzliche
Feststellung (E. 2.3) ist weder offensichtlich unrichtig noch sonst wie
bundesrechtswidrig (E. 1.1); das kantonale Gericht durfte die fachärztlichen
Einschätzungen des Dr. med. B.________ sowie das (rheumatologische)
SMAB-Gutachten heranziehen, ohne Bundesrecht zu verletzen. Die
Beschwerdeführerin vermag nicht schlüssig darzulegen, inwieweit von weiteren
Abklärungen neue Erkenntnisse zu erwarten sein sollen. Der Umstand, dass die
SMAB-Gutachter die retrospektive Beurteilung der Arbeitsfähigkeit aufgrund der
spärlichen Aktenlage als nicht leicht bezeichneten (SMAB-Gutachten, S. 32),
führt nicht zu einer willkürlichen Beweiswürdigung. Eine solche liegt nicht
bereits dann vor (zum Begriff der Willkür: BGE 140 III 16 E. 2.1 S. 18 f. mit
Hinweisen), wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar
vorzuziehen wäre, sondern erst dann, wenn der Entscheid offensichtlich
unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht oder auf
einem offenkundigen Fehler beruht (BGE 127 I 54 E. 2b S. 56, 135 V 2 E. 1.3 S.
4 f.). So verhält es sich hier nicht. Insgesamt hat das kantonale Gericht weder
entscheidwesentliche Akten übersehen noch vorhandene Angaben unrichtig
interpretiert. Im vorinstanzlichen Verzicht auf weitere Abklärungen liegt weder
eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes noch der Beweiswürdigungsregeln
(E. 3.1). Die Beschwerde ist unbegründet.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die unterliegende
Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abtei-lung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 7. April 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben