Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 359/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_359/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 27. August 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Zimmermann,
Beschwerdegegner,

Personalvorsorgestiftung B.________ AG,

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 8. April 2015.

Sachverhalt:

A.

A.a. A.________, geboren 1962, gelernter Elektriker, meldete sich am 30. Juni
2010 wegen eines chronischen Lumbovertebralsyndroms bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau
tätigte Abklärungen. Gemäss dem Bericht des Dr. med. C.________, Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Dienste D.________, vom 27.
Dezember 2010 war aufgrund der komplexen somatischen und psychischen
Symptomatik mittelfristig nicht von einer Arbeitsfähigkeit auf dem freien
Arbeitsmarkt auszugehen. Als Diagnosen mit Auswirkungen auf die
Arbeitsfähigkeit nannte er eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens
(ADHS) mit im Vordergrund stehender innerer Unruhe und Impulskontrollstörung
(ICD-10 F90.1), eine rezidivierende mittelgradige depressive Störung (ICD-10
F33.10) und ein lumboradikuläres Schmerzsyndrom. Gestützt darauf sprach die
IV-Stelle A.________ mit Verfügung vom 27. April 2011 ab 1. Dezember 2010 eine
ganze Invalidenrente zu (Invaliditätsgrad von 100 %).

A.b. Im Dezember 2011 leitete die IV-Stelle ein Revisionsverfahren ein und
liess A.________ durch das Zentrum E.________ polydisziplinär untersuchen
(Gutachten vom 8. Januar 2014). Mit Vorbescheid vom 28. Januar 2014 und
Verfügung vom 3. April 2014 stellte sie die Invalidenrente auf Ende Mai 2014
ein. Sie begründete es damit, nach dem Wegfall der mittelgradigen depressiven
Störung liege ein Revisionsgrund vor. Aufgrund der aktuellen Aktenlage ergebe
sich, dass sich der Gesundheitszustand aus somatischer Sicht verbessert habe.
Eine angepasste Tätigkeit sei zu 80 % zumutbar. Es ergebe sich ein
Invaliditätsgrad von 25 %.

B. 
Die von A.________ erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau mit Entscheid vom 8. April 2015 gut. Es hob die Verfügung vom 3.
April 2014 mangels eines Revisionsgrundes auf und verpflichtete die IV-Stelle,
A.________ weiterhin eine ganze Invalidenrente auszurichten. Es begründete dies
damit, eine allfällige Verbesserung der psychischen Problematik sei
revisionsrechtlich nicht von Relevanz, da diese bei der Rentenzusprache
überwiegend wahrscheinlich nicht wesentlich für die Arbeitsunfähigkeit des
Versicherten gewesen sei. Die unterschiedliche Beurteilung eines im
Wesentlichen unverändert gebliebenen Sachverhalts stelle keinen Revisionsgrund
dar.

C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie
beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Verfügung vom 3.
April 2014 zu bestätigen. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu
erteilen.
A.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde und des Antrags auf Gewährung
der aufschiebenden Wirkung. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet
auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).
Seinem Urteil legt es den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz,
auf Rüge hin oder von Amtes wegen, berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdegegner über den 31. Mai 2014
hinaus Anspruch auf eine (ganze) Invalidenrente hat oder die Leistung wie
verfügt revisionsweise einzustellen ist.

2.1. Die Vorinstanz hat erwogen, nach dem Gutachten des Zentrums E.________
habe sich der Gesundheitszustand seit der rentenzusprechenden Verfügung vom 27.
April 2011 nicht verändert. Allenfalls habe sich in psychiatrischer Hinsicht
eine gewisse Stabilisierung eingestellt, die Besserung habe aber nicht
quantifiziert werden können. Jedoch hätten die Gutachter des Zentrums
E.________ die depressive Episode sowieso als Diagnose ohne Auswirkung auf die
Arbeitsfähigkeit betrachtet. Vielmehr hätten die Rückenprobleme sowie die
verschiedenartigen psychischen Beschwerden als Ganzes die Arbeitsfähigkeit
negativ beeinflusst. Damit sei der medizinische Sachverhalt im Wesentlichen
unverändert gebliebenen. Deshalb sei eine Verbesserung der psychischen
Problematik revisionsrechtlich nicht von Relevanz.

2.2. Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz sei ihrer Pflicht zur
umfassenden Beweiswürdigung nicht nachgekommen. Denn nach dem Bericht des Dr.
med. C.________ vom 27. Dezember 2010 habe aufgrund der mittelgradigen
depressiven Störung (ICD-10 F33.10) und der komplexen somatischen und
psychischen Symptomatik mittelfristig keine Arbeitsfähigkeit auf dem freien
Arbeitsmarkt bestanden. Dieser Bericht habe den Ausschlag für die Berentung
gegeben. Im Gutachten des Zentrums E.________ sei auf Seite 3 einleitend
festgestellt worden, dass dem Beschwerdegegner vor allem wegen der
psychiatrischen Problematik eine ganze Rente zugesprochen worden sei. Es sei
eine bundesrechtsverletzende Beweiswürdigung, bei dieser eindeutigen Beweislage
davon auszugehen, dass eine "allfällige Verbesserung" der depressiven Störung
überwiegend wahrscheinlich revisionsrechtlich  nicht von Relevanz sein könne.
Im Bericht vom 7. November 2013 habe Dr. med. C.________ nicht mehr die
Diagnose einer mittelgradigen depressiven Störung (ICD-10 F33.10) gestellt,
sondern lediglich noch diejenige einer leichtgradigen (ICD-10 F33.00). Auch die
Gutachter des Zentrums E.________ hätten am 8. Januar 2014 nur noch eine
rezidivierende depressive Störung ("derzeit beschwerdefrei") festgestellt.
Aufgrund dieser Tatsachen sei eine anspruchsrelevante Veränderung des
Sachverhaltes ausgewiesen. Die Vorinstanz habe lediglich auf das Gutachten des
Zentrums E.________ verwiesen, in welchem festgehalten worden sei, dass in
Bezug auf die psychischen und körperlichen Funktionsausfälle weder eine
Besserung noch eine Verschlechterung eingetreten sei. Sie habe damit zur Frage,
ob es in Bezug auf die ursprünglich diagnostizierte mittelgradige depressive
Störung (ICD-10 F33.10) zu einer Verbesserung gekommen sei, eine umfassende
Beweiswürdigung unterlassen.

2.3. Der Beschwerdegegner hält dagegen, dem Schreiben des Dr. med. C.________
vom 7. Februar (recte: November) 2013 sei zu entnehmen, dass sich der
Gesundheitszustand seit dem Bericht vom 27. Dezember 2010 nicht wesentlich
verändert habe. Die Vorinstanz sei nach einer pflichtgemässen und objektiven
Würdigung des Sachverhaltes zum Schluss gekommen, dass sich seit der
Rentenzusprache überwiegend wahrscheinlich keine wesentliche Veränderung des
Gesundheitszustandes gezeigt habe.

3. 
Im Gutachten des Zentrums E.________ vom 8. Januar 2014 wurde einleitend
festgestellt, dass die 100%ige Arbeitsunfähigkeit vor allem wegen der
psychiatrischen Problematik angenommen und dem Versicherten ab 1. Dezember 2010
eine ganze Rente zugesprochen worden sei (Gutachten S. 3). Dies trifft zu.
Nach dem Bericht des Dr. med. C.________ vom 27. Dezember 2010 war als Diagnose
mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit u.a. eine rezidivierende mittelgradige
depressive Störung (ICD-10 F33.10) zu nennen und die Prognose zu stellen, dass
wegen des Vorliegens sowohl einer chronischen somatischen als auch
psychiatrischen Erkrankung auf mittlere Sicht weiterhin eine 100%ige
Arbeitsunfähigkeit bestehe. In den nächsten sechs bis zwölf Monaten könne der
Gesundheitszustand verbessert werden und sei eine Integration in eine
geschützte Arbeitsstelle anzustreben. Aufgrund der komplexen somatischen und
psychischen Symptomatik sei eine Arbeitsfähigkeit auf dem freien Arbeitsmarkt
mittelfristig nicht gegeben. Wie im Gutachten des Zentrums E._______ im
Weiteren richtig wiedergegeben ist, konnte nach der Beurteilung des RAD-Arztes
Dr. med. F.________ vom 6. Januar 2011 die Arbeitsunfähigkeitsbeurteilung des
Dr. med. C.________ "mit kurzfristiger Revision in ein paar Monaten" übernommen
werden (Gutachten S. 16). Nach dem späteren psychiatrischen Bericht des Dr.
med. C.________ vom 17. Juli (recte: November) 2013 sei mit Auswirkungen auf
die Arbeitsfähigkeit nur noch eine rezidivierende leichtgradige depressive
Störung (ICD-10 F33.0) diagnostiziert und insgesamt auf mittlere Sicht eine
100%ige Arbeitsfähigkeit angegeben worden (Gutachten S. 24). Die rezidivierende
und beschwerdefreie depressive Störung (ICD-10 F33) sei derzeit ohne Relevanz
für die Arbeitsfähigkeit. Aus psychiatrischer Sicht ergebe sich (wegen anderer
psychischer Leiden) eine Arbeitsfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit als
Schweisser von ca. 60 % und in einer angepassten Verweistätigkeit von ca. 80 %.
Der Beginn der rein psychiatrisch bedingten Arbeitsunfähigkeit sei nicht seriös
zu beschreiben und werde auf das Datum der aktuellen Untersuchung festgelegt
(Gutachten S. 31). In einer angepassten Tätigkeit mit reduzierten Anforderungen
an Kognition, Verhalten und Sozialkompetenz liege die Arbeitsfähigkeit bei ca.
80 %. Die angegebenen Arbeitsfähigkeiten würden sich ausschliesslich auf das
psychiatrische Fachgebiet beziehen (Gutachten S. 34). Die Gesamtbeurteilung der
Arbeitsfähigkeit in einer Verweistätigkeit betrage 80 % (Gutachten S. 37). Die
psychischen und körperlichen Funktionsausfälle seien retrospektiv zumindest
seit dem Datum der erstmaligen Rentenzusprache 2010 nachvollziehbar. Es sei
weder eine Besserung noch eine Verschlechterung eingetreten. Allenfalls sei aus
psychiatrischer Sicht eine gewisse Stabilisierung eingetreten (Gutachten S.
40). Dr. med. C.________ als behandelnder Arzt sei am 10. Dezember 2013 am
Telefon von einer Arbeitsfähigkeit von vorerst ca. 50 % ausgegangen (Gutachten
S. 67).

4. 
Nach dem Gesagten ist die vorinstanzliche Aussage, aufgrund der Akten erscheine
es als überwiegend wahrscheinlich, dass die depressive Problematik ursprünglich
nicht wesentlich für die Arbeitsunfähigkeit gewesen sei und eine allfällige
Verbesserung deshalb revisionsrechtlich nicht von Relevanz sein könne,
unhaltbar. Im Gegenteil war die Diagnose des Dr. med. C.________ einer
rezidivierenden mittelgradigen depressiven Störung vom 27. Dezember 2010
mitausschlaggebend für die Gewährung einer ganzen Invalidenrente. Der
Beschwerdegegner wurde bei Erlass der ersten Verfügung nur mittelfristig auf
100 % arbeitsunfähig eingeschätzt. Dass er auf den 1. Juli 2014 wieder eine
50%-Stelle angetreten hat, zeigt zudem deutlich, dass sich eine erhebliche
Verbesserung eingestellt hat. Es ist ein Revisionsgrund auch gegeben, wenn der
medizinische Sachverhalt an und für sich unverändert geblieben ist, indessen
eine Anpassung und Angewöhnung des Versicherten an sein Leiden stattfgefunden
hat (Urteil 8C_269/2015 vom 18. August 2015 E. 3.2 mit weiteren Hinweisen).

5. 
Nachdem unbestritten geblieben ist, dass es dem Versicherten innerhalb eines
halben Jahres seit dem Gutachten des Zentrums E.________ gelungen ist, sich
wieder ins Erwerbsleben einzugliedern, und weder aktenkundig noch geltend
gemacht wird, dass es sich dabei um eine absolute Ausnahmestelle handelt, kann
die Verfügung vom 3. April 2014 bestätigt werden. Dies gilt umso mehr, als der
von der Beschwerdeführerin berechnete Einkommensvergleich nicht angefochten
worden ist.

6. 
Im Sinne eines Eventualantrages fordert der Beschwerdegegner, dass bei der
letztinstanzlichen Bejahung eines Revisionsgrundes vorinstanzlich noch gemäss
dem mit Urteil 9C_492/2014 vom 3. Juni 2015 neu strukturierten Beweisverfahren
die Auswirkungen der chronischen Schmerzstörung auf die Arbeitsfähigkeit zu
eruieren seien. Dies steht jedoch - unabhängig davon, dass es vor Bundesgericht
keine Anschlussbeschwerde gibt - ausser Frage, weil gemäss dem Gutachten (S.
39) keine Gesundheitsstörung mit nicht objektivierbaren Befunden vorliegt.

7. 
Mit dem Entscheid in der Sache erweist sich das Gesuch um aufschiebende Wirkung
als obsolet.

8. 
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten dem
Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 8. April 2015 wird aufgehoben und die Verfügung der
IV-Stelle des Kantons Aargau vom 3. April 2014 bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Personalvorsorgestiftung B.________ AG,
dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 27. August 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Schmutz

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