Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 354/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_354/2015

Urteil vom 29. Februar 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Furrer.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Advokat Philippe Zogg,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
8. April 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1969 geborene A.________, zuletzt bis 31. März 2002 als Lastwagenchauffeur
bei der B.________ AG angestellt gewesen (letzter effektiver Arbeitstag: 13.
Dezember 2000), bezog mit Wirkung ab 1. Dezember 2001 eine ganze Invalidenrente
(Invaliditätsgrad von 100 %; Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau
[fortan: IV-Stelle] vom 27. November 2002). Der Anspruch auf eine ganze Rente
wurde mit Mitteilungen 17. Februar 2006 und 27. April 2007 bestätigt. 

Im Rahmen einer Überprüfung des Rentenanspruchs gestützt auf die per 1. Januar
2012 in Kraft getretenen Schlussbestimmungen der Änderung vom 18. März 2011 des
IVG (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket [AS 2011 5659]; nachfolgend:
SchlBest. IVG) liess die IV-Stelle A.________ durch das Zentrum für
Medizinische Begutachtung (ZMB), Basel, polydisziplinär untersuchen (Expertise
vom 24. Oktober 2013). Hiernach nahm sie Rücksprache mit dem Regionalen
Ärztlichen Dienst (Stellungnahme vom 31. Oktober 2013) und unterbreitete dem
ZMB Ergänzungsfragen (Antwort vom 3. Februar 2014). Nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens hob die IV-Stelle mit Verfügung vom 23. Juni 2014 die
Invalidenrente per Ende Juli 2014 auf (Invaliditätsgrad von 30 %). Ferner
verfügte sie am 11. September 2014, mangels Interesse des Versicherten würden
keine Wiedereingliederungsmassnahmen gemäss Art. 8a IVG durchgeführt. Letztere
Verfügung wurde nicht angefochten.

B. 
Die gegen die Verfügung vom 23. Juni 2014 erhobene Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 8. April 2015 ab.

C. 
A.________ erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids und der Verfügung der
IV-Stelle vom 23. Juni 2014 sei ihm auch für die Zeit ab August 2014 eine ganze
Invalidenrente auszurichten.

Während die Beschwerdegegnerin auf Abweisung der Beschwerde schliesst, lässt
sich das Bundesamt für Sozialversicherungen nicht vernehmen.

Erwägungen:

1. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Das kantonale Gericht hat die für die Beurteilung der Streitsache massgeblichen
materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen gemäss Gesetz und Rechtsprechung
zutreffend dargelegt. Dies betrifft namentlich die Bestimmungen und Grundsätze
zur Rentenrevision (Art. 17 ATSG; BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349; 130 V 71 E.
3.2.3 S. 75 f. und 133 V 108), zum Beweiswert und zur Beweiswürdigung
medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E.
3 S. 352 ff. mit Hinweisen) sowie zur Ermittlung des Invaliditätsgrades bei
erwerbstätigen Versicherten nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16
ATSG). Darauf wird verwiesen.

Zu wiederholen ist, dass gemäss lit. a Abs. 1 SchlBest. IVG Renten, die "bei"
("en raison de", "sulla base di") pathogenetisch-ätiologisch unklaren
syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen
wurden, innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten der Änderung überprüft
werden. Sind die Voraussetzungen nach Art. 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die
Rente herabgesetzt oder aufgehoben, auch wenn die Voraussetzungen von Art. 17
Abs. 1 ATSG nicht erfüllt sind. Abs. 1 findet keine Anwendung auf Personen, die
im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung das 55. Altersjahr zurückgelegt
haben oder im Zeitpunkt, in dem die Überprüfung eingeleitet wird, seit mehr als
15 Jahren eine Rente der Invalidenversicherung beziehen (Abs. 4).

3. 
Vorweg stellte das kantonale Gericht zutreffend fest, dass keiner der
Ausschlussgründe nach lit. a Abs. 4 SchlBest. IVG gegeben ist (zum
massgeblichen Anknüpfungspunkt für die 15-jährige Bezugsdauer: BGE 139 V 442 E.
3 und 4 S. 444 ff.). Des Weiteren lag nach den für das Bundesgericht
grundsätzlich verbindlichen (E. 1 hievor) und unbestritten gebliebenen
Feststellungen des kantonalen Gerichts der ursprünglichen Rentenzusprechung
(allein) ein unklares Beschwerdebild zugrunde, womit die SchlBest. IVG
grundsätzlich anwendbar sind. Ferner scheitert eine Revision unter dem Titel
der SchlBest. IVG nicht daran, dass die Rentenzusprache (vom 27. November 2002;
vgl. Sachverhalt lit. A hievor) bereits auf der Grundlage der
Überwindbarkeitsrechtsprechung (betreffend anhaltende somatoforme
Schmerzstörung: BGE 130 V 352 [Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 683/03
vom 12. März 2004]) erfolgt ist (BGE 140 V 8 E. 2.2.1.3 S. 13 f.). Schliesslich
liegt kein "Mischsachverhalt" vor, bei dem es unmöglich wäre festzustellen, wie
gross der Anteil der organisch bedingten Beschwerden bei der Rentenzusprechung
war (Urteile 9C_121/2014 vom 3. September 2014 E. 2.6, in: SVR 2014 IV Nr. 39
S. 137; 9C_308/2013 vom 26. August 2013 E. 5.1), attestierten die Ärzte der
Rehabilitationsklinik C.________ im Bericht vom 5. April 2001 doch aus
somatischer Sicht eine Arbeitsfähigkeit von 100 % in einer adaptierten
Tätigkeit.

4.

4.1. Die Vorinstanz erwog, gemäss dem beweiskräftigen ZMB-Gutachten vom 24.
Oktober 2013 sei der Beschwerdeführer in körperlich schweren Tätigkeiten, d.h.
auch in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Lastwagenchauffeur, nicht mehr
einsetzbar, wogegen ihm eine adaptierte (körperlich leichte, rückenadaptierte)
Tätigkeit zu 50 % zumutbar sei. Aus rein somatischer Sicht gingen die Gutachter
von einer Verminderung des Rendements von 30 % aus. Zur psychiatrischen
Diagnose einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen
Faktoren (F45.41) führte die Vorinstanz aus, eine schwere psychische
Komorbidität liege gemäss dem psychiatrischen Experten der ZMB nicht vor,
bestehe doch eine höchstens als mittelgradig einzuschätzende depressive
Störung, die keine andauernd schwere Beeinträchtigung darstelle. Sodann seien
die Foerster-Kriterien nicht gehäuft oder in besonders ausgeprägter Weise
erfüllt, womit eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit aufgrund der
Schmerzstörung nicht ausgewiesen sei. In der Folge berücksichtigte die
Vorinstanz einzig die somatisch begründete Einschränkung von 30 % und gelangte
nach Durchführung der Invaliditätsbemessung zu einem rentenausschliessenden
Invaliditätsgrad von 32 %.

4.2. Hiegegen wendet der Beschwerdeführer im Wesentlichen ein, die psychische
Problematik sei entgegen dem kantonalen Gericht nicht als überwindbar
einzustufen. Damit sei ihm auch eine teilweise Erwerbstätigkeit nicht zumutbar.

4.3. Die Beschwerdegegnerin macht geltend, eine psychiatrisch bedingte
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit sei auch im Lichte der massgeblichen
Indikatoren gemäss BGE 141 V 281 nicht erstellt, womit einzig die
rheumatologisch bedingte Arbeitsunfähigkeit von 30 % zu berücksichtigen sei.

5. 
Im Streit liegt einzig der psychische Gesundheitszustand (chronische
Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren F45.41) und die daraus
allenfalls resultierende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit. Nachdem das
Bundesgericht mit BGE 141 V 281 seine Rechtsprechung zu den Voraussetzungen,
unter denen anhaltende somatoforme Schmerzstörungen und vergleichbare
psychosomatische Leiden eine rentenbegründende Invalidität zu bewirken
vermögen, grundlegend überdacht und teilweise geändert hat, ist - soweit
psychosomatische Leiden zu beurteilen sind - zu prüfen, was dies für den hier
zu beurteilenden Fall bedeutet, wobei sich vorab die Frage nach der
Anwendbarkeit der neuen Rechtsprechung stellt.
Grundsätzlich sind Rechtsprechungsänderungen, so auch jene von BGE 141 V 281,
auf alle im Zeitpunkt der Praxisänderung noch nicht erledigten Fälle anzuwenden
(statt vieler: Urteile 9C_125/2015 vom 18. November 2015 E. 5.1; 9C_769/2013
vom 1. April 2014 E. 2; I 55/89 vom 11. August 1989 E. 3b, in: ZAK 1990 S. 255;
je mit Hinweisen). Was die SchlBest. IVG betrifft, ist zu beachten, dass in der
Botschaft vom 24. Februar 2010 zur Änderung des Bundesgesetzes über die
Invalidenversicherung (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket; BBl 2010 1817)
zu einer Rentenaufhebung oder -herabsetzung (gestützt auf die SchlBest. IVG)
explizit festgehalten wird, in jedem Fall seien "für die Beurteilung der
Zumutbarkeit die in BGE 130 V 352 formulierten Kriterien (Foerster-Kriterien)
zu prüfen" (BBl 2010 1817, 1911 zu Abs. 1). Folglich drängt sich die Frage auf,
ob mit der ausdrücklichen Bezugnahme auf BGE 130 V 352 die inzwischen
aufgegebene Überwindbarkeitsrechtsprechung auf Revisionen gestützt auf die
SchlBest. IVG weiterhin anwendbar ist resp. die Rechtsprechungsänderung von BGE
141 V 281 ausnahmsweise unberücksichtigt zu bleiben hat.

Wie aus der erwähnten Botschaft erhellt, störte sich der Gesetzgeber am
Umstand, dass nach der Praxis des Bundesgerichts (BGE 135 V 201; 135 V 215)
weder die Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 352 noch der im Rahmen der 5.
IV-Revision geschaffene Art. 7 Abs. 2 ATSG ein Rückkommenstitel bildete,
mittels welchem laufende - gestützt auf somatoforme Schmerzstörungen und
ähnliche Beschwerdebilder gesprochene - Invalidenrenten überprüft werden
konnten. Mit den SchlBest. IVG sollte deshalb die entsprechende rechtliche
Grundlage für die Überprüfung solcher Renten geschaffen werden (BBl 2010 1817,
1841 unten, 1911 zu Abs. 1). Mit anderen Worten lag die  Überprüfbarkeit
 derjenigen Renten im Vordergrund, die vor dem 1. Januar 2008 wegen unklaren
Beschwerdebildern gesprochen worden waren (vgl. BBl 2010 1817, 1911 zu Abs. 1).
Dass die in BGE 130 V 352 formulierten Kriterien explizit erwähnt wurden,
widerspiegelte (lediglich) die damals geltende Rechtsprechung und kann -
mangels gegenteiliger Anhaltspunkte - nicht dergestalt verstanden werden, dass
für die Anwendungsfälle der SchlBest. IVG die Überwindbarkeitsrechtsprechung
unabänderlich festgelegt bzw. vor einer allfälligen Praxisänderung ausgenommen
werden sollte (a.M. offenbar GÄCHTER/MEIER, Einordnung von BGE 141 V 281 aus
rechtswissenschaftlicher Sicht, in: HAVE 2015 S. 436 drittes Lemma). In diesem
Sinne ist das Bundesgericht denn auch schon verschiedentlich - indes ohne auf
diese Frage näher einzugehen - von der Anwendbarkeit der neuen Rechtsprechung
ausgegangen (bspw. Urteile 8C_634/2015 vom 22. Januar 2016 E. 4.1; 9C_885/2015
vom 13. Januar 2016 E. 2; 9C_80/2015 vom 11. Dezember 2015 E. 5.2.6 und 8C_286/
2015 vom 26. Oktober 2015 E. 6). Zusammenfassend gelangt die Rechtsprechung von
BGE 141 V 281 auch auf Rentenüberprüfungen gemäss SchlBest. IVG zur Anwendung.

6. 
Nach dem hievor Gesagten hat die Beurteilung des tatsächlich erreichbaren
Leistungsvermögens des Beschwerdeführers anhand des Kataloges von Indikatoren (
BGE 141 V 281 E. 4 S. 296 ff.) zu erfolgen. Wie nachfolgend gezeigt wird,
erlauben die medizinischen Akten, insbesondere das ZMB-Gutachten vom 24.
Oktober 2013 - welches seinen Beweiswert nicht per se verliert (BGE 141 V 281
E. 8 S. 309 mit Hinweis auf BGE 137 V 210 E. 6 S. 266) -, eine schlüssige
Beurteilung im Lichte der massgeblichen Indikatoren, weshalb sich eine
Ergänzung des medizinischen Sachverhalts erübrigt.

6.1. Zunächst sind die Indikatoren zum Komplex "Gesundheitsschädigung" näher zu
betrachten. Massgeblich sind demnach die Ausprägung der diagnoserelevanten
Befunde, der Behandlungs- und Eingliederungserfolg resp. die -resistenz und
allfällige Komorbiditäten (BGE 141 V 281 E. 4.3.1 S. 298 ff.).

6.1.1. Was die Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde betrifft, beschrieb
der psychiatrische Experte, das Verhalten des Beschwerdeführers während der
Untersuchung sei gekennzeichnet gewesen vom Gefangensein im eigenen Leiden.
Gemäss AMDP finde sich ein ängstlich-depressives Zustandsbild, es zeigten sich
neben den ganz erheblichen Schmerzklagen eine depressive Verstimmung, ein
Verlust von Interesse und Freude, subjektiv auch eine Verminderung des
Antriebes. Objektivierbar sei eine deutliche Belastung mit einer
Affektlabilität, einem Gefangensein im eigenen Schmerzerleben und einer
verminderten Schwingungsfähigkeit. Im Rahmen der Untersuchung sei der Antrieb
jedoch kaum vermindert erschienen, auch seien keine kognitiven oder mnestischen
Störungen von Relevanz eruierbar. Ferner zeige sich der Beschwerdeführer
ängstlich, insbesondere bezüglich der Zukunft, er klage über vegetative
Symptome (Herzklopfen, Schlafstörungen), zeige auch eine ängstliche
Erwartungshaltung und ein absolut somatisch fixiertes Krankheitskonzept. Weiter
berichtete der Gutachter, es bestehe ein ausgesprochenes Mass an Somatisierung,
würden doch multiple Schmerzen und Sensibilitätsstörungen angegeben, welche nur
teilweise somatisch begründbar seien. Der Beschwerdeführer sei in seiner
Emotionalität leicht bis mittelgradig eingeschränkt, was zu einem doch
ausgeprägten sozialen Rückzug geführt habe. Aufgrund seiner Symptomatik sei er
in körperlichen Aktivitäten (funktionell) eingeschränkt, er sei vermindert
flexibel, vor allem aber bestehe eine erheblich verminderte
Durchhaltefähigkeit. Anhaltspunkte für eine Aggravation oder gar Simulation
bestünden nicht. Gegenüber den Experten schilderte der Beschwerdeführer, die
Ehefrau und seine zwei Töchter seien seit 2003 wieder in Portugal wohnhaft, da
er "der Familie nicht mehr habe helfen können". Die Familie besuche er vier bis
fünfmal im Jahr für jeweils maximal zwei Wochen. Er lebe bei einer ihm
bekannten portugiesischen Familie, wo er ein Zimmer miete. Abgesehen vom
Kontakt zu seinen Eltern und zu der "Gastfamilie" bestünden keine sozialen
Kontakte. Freunde habe er keine. Tagsüber versuche er oftmals zu spazieren,
wobei dies maximal eine halbe Stunde möglich sei, manchmal auch nur 100 Meter.
Danach lege er sich hin oder halte sich im Garten des Hauses auf. Ab und zu
schaue er fern. Hobbys habe er keine, Aktivitäten im Haushalt bestünden nicht.

Nach seinen von den Experten als glaubhaft eingestuften Angaben ist der
Beschwerdeführer durch die multiplen Schmerzen in körperlichen Aktivitäten
(funktionell) eingeschränkt und insoweit in seinen Alltagsfunktionen
beeinträchtigt. Zusammen mit dem doch recht passiven Leben des
Beschwerdeführers, welcher von den Gutachtern als "in seinem Schmerzerleben
gefangen" beschrieben wird, ist ein Leiden von erheblicher Ausprägung
ausgewiesen.

6.1.2. Hinsichtlich des Indikators "Behandlungs- und Eingliederungserfolg resp.
-resistenz" stellte der psychiatrische Gutachter fest, der Beschwerdeführer sei
2002/2003 fachärztlich behandelt worden, wobei man offenbar resigniert habe.
Seit Jahren bestehe nun keine psychiatrische Behandlung mehr, soweit bekannt
nehme der Beschwerdeführer auch keine Psychopharmaka ein. Heute müsse man von
einem verfestigten, therapeutisch kaum mehr beeinflussbaren innerseelischen
Verlauf ausgegangen werden. Die ZMB-Gutachter gelangten zum Schluss, die
Prognose sei insgesamt schlecht. Einerseits bestünden somatische Leiden, welche
möglicherweise in Zukunft progredient verliefen, andererseits bestehe ein
chronifiziertes psychisches Leiden mit erheblicher Regression,
Dekonditionierung und wesentlich somatischem Krankheitsverständnis. Die
früheren Therapien seien offenbar ohne grossen Erfolg geblieben, und es
bestünden wenig Ressourcen im intellektuellen Bereich.

Ob 2002/2003 eine lege artis und mit optimaler Kooperation des Versicherten
durchgeführte Therapie stattfand, ist aufgrund der Akten nicht erstellt.
Insbesondere fehlen Angaben, ob eine adäquate medikamentöse Therapie
durchgeführt wurde. Nachvollziehbar und einleuchtend ist jedoch die
Einschätzung der Experten betreffend die langjährige Chronifizierung des
Leidens bei einem absolut somatisch fixierten Krankheitskonzept und wenig
intellektuellen Ressourcen, was zu einer insgesamt schlechten Prognose mit
"äusserst geringen" Erfolgsaussichten führte. Damit ist von der
Behandlungsresistenz des Leidens auszugehen, soweit es die Arbeitsfähigkeit
einschränkt.

6.1.3. Psychische Komorbiditäten - ein eigentliches depressives Leiden wurde
vom psychiatrischen Experten verneint - liegen keine vor, wogegen somatisch
begründete Komorbiditäten in Form eines chronischen lumbospondylogenen
Schmerzsyndroms und einem chronischen Thoracovertebralsyndrom mit damit
korrelierenden rheumatologischen Befunden gegeben sind, aus welchen die
Gutachter eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 30 % ableiteten.

6.2. Was den Komplex "Persönlichkeit" (Persönlichkeitsdiagnostik, persönliche
Ressourcen) und "Sozialer Kontext" (BGE 141 V 281 E. 4.3.2 und 4.3.3 S. 302 f.)
anbelangt, so konnte der psychiatrische Experte keine strukturellen Defizite im
Sinne einer Persönlichkeitsproblematik eruieren, welche im Rahmen der
umfassenden Ressourcenprüfung negativ ins Gewicht fallen könnte. Immerhin ging
der Gutachter von einer "eher einfachen Persönlichkeitsstruktur" des
Beschwerdeführers bzw. von wenig Ressourcen im intellektuellen Bereich aus.
Weiter legte er dar, es liege ein doch ausgeprägter sozialer Rückzug vor.
Erwähnenswert sei aber, dass der Beschwerdeführer vier- bis fünfmal pro Jahr
seine Familie in Portugal besuche. Zu berücksichtigen ist ferner, dass der
Beschwerdeführer durch die Einbettung in die portugiesische "Gastfamilie", mit
welcher er das Mittag- und Abendessen einnimmt, eine gewisse Tagesstruktur und
einen minimalen sozialen Kontakt - nebst dem Kontakt zu seinen Eltern -
aufrecht erhält. Damit enthält der soziale Lebenskontext, namentlich die
Einbettung in die "Gastfamilie", gewisse bestätigende, sich potenziell günstig
auf die Ressourcen auswirkende Faktoren.

6.3. In der Kategorie "Konsistenz" ist in Bezug auf die Einschränkung des
Aktivitätenniveaus in vergleichbaren Lebensbereichen (BGE 141 V 281 E. 4.4.1 S.
303 f.) keine Ungleichmässigkeit ersichtlich. Die ZMB-Gutachter erkannten keine
vollständige Arbeitsunfähigkeit, sondern eine Einschränkung von 50 %. Die
Schilderungen zum Tagesablauf und zum Sozialen stehen mit der attestierten
Restarbeitsfähigkeit im Einklang. Was den Behandlungs- und
eingliederungsanamnestisch ausgewiesenen Leidensdruck (BGE 141 V 281 E. 4.4.2
S. 304) angeht, lässt die seit 2003 fehlende Inanspruchnahme einer
psychiatrischen Behandlung - entgegen den Ausführungen der Beschwerdegegnerin -
nicht auf fehlenden Leidensdruck schliessen, ist diese doch offensichtlich auf
das somatisch fixierte Krankheitskonzept und die diesbezüglich fehlende
Einsichtsfähigkeit zurückzuführen.

6.4. Aus der Gesamtbetrachtung ergibt sich, dass im ZMB-Gutachten sowohl eine
gesundheitliche Beeinträchtigung von erheblichem Schweregrad als auch deren
funktionelle Auswirkungen in erwerblicher Sicht objektiv (vgl. Art. 7 Abs. 2
ATSG), kohärent und widerspruchsfrei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
ausgewiesen sind. Mithin kann der gutachterlichen Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit (Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 50 %) gefolgt werden.
Soweit der Beschwerdeführer eine teilweise Arbeitsfähigkeit ausschliesst, ist
er noch in der aufgegebenen Überwindbarkeitsvermutung verhaftet, welche die
Auffassung begünstigte, die Überwindbarkeit sei unteilbar (BGE 141 V 281 E.
3.4.2.2 S. 294).

7. 
Die Vorinstanzliche Invaliditätsbemessung und dabei die Festsetzung der
hypothetischen Vergleichseinkommen (Valideneinkommen von Fr. 67'350.95;
Invalideneinkommen von Fr. 65'239.70 bei einem vollen Pensum, bzw. von Fr.
32'619.85 bei einem halben Pensum) sind unbestritten geblieben und geben keinen
Anlass für eine nähere Prüfung von Amtes wegen. Damit resultiert bei einer
Restarbeitsfähigkeit von 50 % - ungeachtet der vorinstanzlich nicht behandelten
(Rechts-) Frage, ob ein Abzug vom Tabellenlohn wegen Teilzeitarbeit zu gewähren
ist (vgl. Urteil 9C_721/2010 vom 15. November 2010 E. 4.2, in: SVR 2011 IV Nr.
37 S. 109) - ein Anspruch auf eine halbe Invalidenrente. Nach dem Gesagten ist
die Beschwerde teilweise begründet.

8. 
Die Gerichtskosten sind nach Massgabe des Obsiegens und Unterliegens auf die
Parteien aufzuteilen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdeführer ist mit seinem
Antrag auf Zusprechung einer ganzen Invalidenrente in einem Umfang
durchgedrungen, welcher einem hälftigen Obsiegen entspricht. Die Kosten sind
deshalb zu gleichen Teilen den Parteien aufzuerlegen. Die Beschwerdegegnerin
hat dem Beschwerdeführer überdies eine (reduzierte) Parteientschädigung
auszurichten (Art. 68 Abs. 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 8. April 2015 und die Verfügung
der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 23. Juni 2014 werden aufgehoben. Die
Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer ab 1. August 2014 eine halbe
Invalidenrente auszurichten. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer und der
Beschwerdegegnerin je zur Hälfte, ausmachend je Fr. 400.-, auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'400.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. Februar 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Furrer

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