Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 351/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_351/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 15. Dezember 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Trütsch.

Verfahrensbeteiligte
 A.________, vertreten durch Rechtsanwalt Urs Hochstrasser,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

Freizügigkeitsstiftung,

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 9. April 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1957, arbeitete seit dem 6. April 2000 als Pflegerin im
regionalen Altersheim B.________. Am 23. August 2010 meldete sie sich aufgrund
der Folgen eines am 31. März 2008 erlittenen Unfalles bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau
zog die Unfallakten bei, veranlasste bei der C.________ GmbH, Medizinische
Abklärungsstelle (MEDAS), ein polydisziplinäres Gutachten (Expertise vom 17.
Juni 2013) und liess am 27. August 2013 eine Haushaltsabklärung vornehmen
(Bericht vom 28. August 2013). Mit Verfügung vom 20. Juni 2014 sprach sie
A.________ eine befristete ganze Invalidenrente vom 1. Februar 2011 bis 30.
April 2013 zu.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde der A.________ hiess das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau nach Beiladung der Freizügigkeitsstiftung mit Entscheid vom
9. April 2015 insoweit teilweise gut, als es ihr eine befristete ganze Rente
vom 1. Februar 2011 bis 31. Mai 2013 zusprach.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 9. April 2015 sei aufzuheben und es sei ihr ab 1. Februar
2011 unbefristet eine ganze Rente zuzusprechen; eventualiter sei die Sache zur
weiteren Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Mit Eingaben vom 3. November und 17. November 2015 hat A.________ weitere
Arztberichte eingereicht.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde an das Bundesgericht ist innert der Beschwerdefrist (Art. 100
BGG) mit Antrag, Begründung und Angabe der Beweismittel (Art. 42 Abs. 1 BGG)
einzureichen. Tatsachen und Beweismittel, die nach Ablauf der Beschwerdefrist
und ausserhalb eines zweiten Schriftenwechsels eingereicht bzw. geltend gemacht
werden, was auf die eingereichten ärztlichen Berichte zutrifft, bleiben
unbeachtlich (BGE 138 II 217 E. 2.5 S. 221).

2. 
Die Beschwerdeführerin beantragt in der Begründung berufliche Massnahmen.
Darauf ist mangels eines Anfechtungsgegenstandes nicht einzutreten (BGE 131 V
164 E. 2.1 S. 164, 125 V 413 E. 1a S. 414).

3.

3.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

3.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG); es prüft unter Berücksichtigung der Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG sowie Art. 106 Abs. 2 BGG) indessen nur die geltend gemachten Rügen,
sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 134 I 313
E. 2 S. 315; 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

4. 
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin ab 1. Juni 2013 weiterhin
Anspruch auf eine ganze Invalidenrente hat.

5. 
Die Vorinstanz hat erwogen, das MEDAS-Gutachten vom 17. Juni 2013genüge den an
den Beweiswert ärztlicher Berichte gestellten Anforderungen (BGE 134 V 231 E.
5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352). Danach bestehe bei der Beschwerdeführerin
aufgrund eines chronischen lumbospondylogenen Schmerzsyndroms, eines
chronischen Reizzustands im Bereich des rechten Sprunggelenks sowie
rezidivierender Kniebeschwerden links in einer leidensangepassten Tätigkeit
(leicht, wechselbelastend, ohne Knien, Treppensteigen, Besteigen von Leitern
und Exposition von gesundheitsschädlichen Stoffen) eine 80%ige
Arbeitsfähigkeit. Ohne Einfluss seien unter anderem ein Fibromyalgiesyndrom
sowie eine kontrollbedürftige Ösophagusstenose. Gestützt darauf ermittelte das
kantonale Versicherungsgericht anhand der gemischten Methode (Anteil
Erwerbstätigkeit: 71 %; Anteil Haushalt: 29 %) einen Invaliditätsgrad von
(maximal) 35 % ab Untersuchungsdatum im Februar 2013 und hob die ganze Rente
auf Ende Mai 2013 auf.

6.

6.1. Die Beschwerdeführerin stellt primär den Beweiswert der Expertise in
Abrede. Ihre dagegen erhobenen Einwände sind unbehelflich.

6.1.1. Es trifft zwar zu, dass sich die Gutachter nicht explizit mit den
Arbeitsfähigkeitseinschätzungen der übrigen involvierten Ärzte
auseinandergesetzt haben. Indessen hat die Vorinstanz dazu erwogen, eine
Diskussion habe ausbleiben dürfen, weil entweder keine relevante Abweichung in
der Beurteilung der Leistungsfähigkeit vorgelegen habe oder aber gar keine
Ausführungen zur noch zumutbaren Arbeitsfähigkeit gemacht worden seien. Zudem
würden die Dres. med. D.________, E.________ und F.________ nicht über einen
entsprechenden Facharzttitel verfügen. Die Beschwerdeführerin setzt sich mit
diesen Erwägungen nicht auseinander und legt insbesondere auch nicht dar,
inwiefern diese bundesrechtswidrig sein sollen.

6.1.2. Sodann sind entgegen den Vorbringen der Beschwerdeführerin, soweit
überhaupt ausreichend substanziiert, sämtliche Leiden berücksichtigt worden.
Den Experten der medizinischen Abklärungsstelle lagen alle Arztberichte vor,
auf welche sie sich beruft; dies gilt insbesondere in Bezug auf die
Rückenproblematik und die kontrollbedürftige Ösophagusstenose, was sowohl aus
dem Aktenauszug im Gutachten als auch aus der Diagnoseliste hervorgeht. Eine
Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 61 lit. c ATSG) liegt jedenfalls
nicht vor. Anzufügen bleibt, dass die Verschlechterung der Ösophagusstenose,
die im Dezember 2014 eine Operation zur Folge hatte, keine Berücksichtigung
finden kann, da sie erst rund sechs Monate nach Verfügungserlass (20. Juni
2014) eingetreten ist (vgl. zum massgeblichen Überprüfungszeitraum: BGE 132 V
215 E. 3.1.1 S. 220 mit Hinweis).

6.1.3. Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, die Experten hätten die
Überwindbarkeit anhand der Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 352, nunmehr
geändert und präzisiert mit BGE 141 V 281 (zur Anwendung einer
Rechtsprechungsänderung auf laufende Verfahren: BGE 132 V 368 E. 2.1 S. 369),
prüfen müssen, ist ihr entgegenzuhalten, dass ein Fibromyalgiesyndrom ohne
Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit diagnostiziert wurde, das - unabhängig
von der Frage, ob überhaupt eine fachärztlich einwandfrei gestellte Diagnose
gegeben ist - keiner strukturierten Plausibilitätsprüfung bedarf. Gemäss dem
Rheumatologen der Medizinischen Abklärungsstelle zeitigte dieses Beschwerdebild
keine funktionellen Folgen, weder schränkte es die Arbeitsfähigkeit ein noch
schlug es sich im Belastungsprofil nieder.

6.2. Weiter beanstandet die Beschwerdeführerin das Valideneinkommen. Es sei der
vom Unfallversicherer der Invaliditätsbemessung zugrunde gelegte Verdienst zu
berücksichtigen, weil darin alle Zuschläge enthalten seien. Auch dieses
Vorbringen ist unbegründet.
Das kantonale Versicherungsgericht stellte auf die Angaben der ehemaligen
Arbeitgeberin vom 30. Juli 2013 ab, wonach die Beschwerdeführerin 2013 ein
jährliches Gehalt von Fr. 38'912.-, inklusive Wochenend- und
Feiertagsentschädigung, erzielt hätte. Den deklarierten Jahreslohn im
Fragebogen vom 9. September 2010 bezeichnete die ehemalige Arbeitgeberin
explizit als falsch. Die Beschwerdeführerin legt nicht dar, inwiefern die
vorinstanzliche Feststellung des Valideneinkommens (Tatfrage; BGE 132 V 393 E.
3.3 S. 399) offensichtlich unrichtig oder sonstwie bundesrechtswidrig sein
sollte (vgl. E. 3.1 hievor).

6.3.

6.3.1. Soweit die Beschwerdeführerin in Bezug auf das Invalideneinkommen
vorbringt, sie könne ihre Restarbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
nicht mehr wirtschaftlich verwerten, ist ihr entgegenzuhalten, dass weder den
Akten noch dem Gutachten vom 17. Juni 2013 Anhaltspunkte zu entnehmen sind,
inwiefern dies nicht mehr möglich sein sollte.

6.3.2. Ferner macht die Beschwerdeführerin geltend, ihr sei zu Unrecht kein
Abzug vom Tabellenlohn von 20 % gemäss BGE 126 V 75 gewährt worden. Bei ihr
würden sich die leidensbedingten Aspekte, ihr fortgeschrittenes Alter, der
reduzierte Beschäftigungsgrad mit gleichzeitig reduzierter Leistungsfähigkeit,
die lange Abwesenheit vom Arbeitsmarkt sowie die fehlende ergänzende Ausbildung
nachteilig auswirken.
Zu Recht erkannte die Vorinstanz, für einen Abzug vom Tabellenlohn fehlten die
Gründe (BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301 mit Hinweis auf BGE 126 V 75). Die
gesundheitlichen Einschränkungen der Beschwerdeführerin sind bereits im
Zumutbarkeitsprofil enthalten, weshalb eine erneute Berücksichtigung auf eine
doppelte Anrechnung hinausliefe (Urteil 8C_536/2015 vom 20. Januar 2015 E.
4.3). Auch der Umstand, dass sie zwar ganztags arbeitsfähig, aber nur reduziert
leistungsfähig ist, rechtfertigt keinen Abzug vom Tabellenlohn (Urteil 9C_796/
2013 vom 28. Januar 2014 E. 3.1.2). Gleiches gilt für ihr Alter, war sie doch
im Gutachtenszeitpunkt (17. Juni 2013), als die medizinische Zumutbarkeit einer
(Teil-) Erwerbstätigkeit feststand (vgl. dazu BGE 138 V 457), erst 56-jährig
(Urteil 9C_780/2008 vom 22. Dezember 2008 E. 3.4.2).

6.4. Das kantonale Versicherungsgericht liess die Frage offen, wie hoch die
Einschränkung in den Bereichen Haushaltsführung, Ernährung und Wohnungspflege
tatsächlich ist, da, selbst wenn eine vollständige bestünde, kein
rentenrelevanter Invaliditätsgrad resultieren würde. Was die Beschwerdeführerin
- ohne Bezugnahme auf die vorinstanzlichen Erwägungen - gegen den Bericht über
die Abklärung an Ort und Stelle vom 28. August 2013 vorbringt, erschöpft sich
in appellatorischer Kritik und kann nicht gehört werden. Ihr Verweis auf ihre
Eingaben im Vorbescheidverfahren reicht zur Begründung eines fehlerhaft
festgestellten Sachverhalts nicht aus (vgl. Urteil 9C_374/2015 vom 24.
September 2015 E. 1 mit Hinweisen).

6.5. Schliesslich bestreitet die Beschwerdeführerin eine Verbesserung des
Gesundheitszustandes. Der Frage, ob und inwieweit seit dem 1. Februar 2011 eine
solche tatsächlich eingetreten ist, kommt indessen keine entscheidwesentliche
Bedeutung zu.

6.5.1. Die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit der MEDAS-Experten beschränkt sich
auf den Zeitpunkt der Begutachtung. Hat sich, wie die Beschwerdeführerin
behauptet, keine Verbesserung des Gesundheitszustandes eingestellt, bestand
demnach schon im Februar 2011 eine 80%ige Arbeitsfähigkeit in einer angepassten
Tätigkeit mit einem eine Rente ausschliessenden Invaliditätsgrad (vgl. E. 6.1 -
6.4 vorne).

6.5.2. Eine Invaliditätsbemessung, die auf keiner nachvollziehbaren ärztlichen
Einschätzung der massgeblichen Arbeitsfähigkeit beruht, ist nicht rechtskonform
und die entsprechende Verfügung zweifellos unrichtig im
wiedererwägungsrechtlichen Sinne (vgl. statt vieler: Urteil 9C_633/2015 vom 3.
November 2015 E. 2.1). Dies ist vorliegend - soweit hier von der Anwendbarkeit
von BGE 133 V 263 E. 6.1 S. 263 ausgegangen wird - der Fall. Die medizinische
Situation gestaltete sich anfangs unübersichtlich. Die zunächst im Fokus
gestandenen Unfallfolgen wurden allmählich durch die Rückenschmerzen in den
Hintergrund gedrängt. Unklar war dabei insbesondere, wann diese Ablösung
stattgefunden hat. Fest steht jedenfalls, dass Dr. med. D.________ in seiner
Beurteilung vom 22. August 2011 zum Schluss gekommen ist, die unfallbedingte
Arbeitsunfähigkeit im angestammten Beruf betrage lediglich noch 20 %. Die auf
Krankheit zurückzuführende Einschränkung beurteilte er nicht. Der mangelnde
Einbezug von verschiedenen (krankheitsrelevanten) Defiziten führte letztlich
auf Anstoss von Dr. med. G.________ vom regionalen ärztlichen Dienst (RAD) hin
zur Einholung des MEDAS-Gutachtens. Mit anderen Worten war im Februar 2011 aus
medizinischer Sicht keine hinreichend klare Entscheidgrundlage mit einer
nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung der massgeblichen Arbeitsfähigkeit
gegeben. Damit erweist sich ein Rentenanspruch über den 1. Juni 2013 hinaus so
oder anders als unbegründet.

6.5.3. Nachdem das Bundesgericht an die Parteianträge gebunden ist (Art. 107
Abs. 1 BGG), hat es mit der befristeten Rentenzusprache sein Bewenden.

7. 
Nach dem Gesagten verletzt der angefochtene Entscheid kein Bundesrecht. Die
Beschwerde ist abzuweisen.

8. 
Ausgangsgemäss wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Freizügigkeitsstiftung, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 15. Dezember 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Trütsch

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