Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 335/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_335/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 1. September 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Trütsch.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Bischoff,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 25. März 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________ meldete sich am 8. November 2012 unter Hinweis auf Rückenbeschwerden
bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons
Zürich tätigte Abklärungen und holte u.a. Berichte der behandelnden Ärzte ein.
Gestützt auf die Stellungnahme von Dr. med. B.________, Facharzt für
Orthopädische Chirurgie und Traumatologie, vom regionalen ärztlichen Dienst
(RAD) vom 9. Juli 2013 verneinte sie nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren
mit Verfügung vom 5. Februar 2014 den Anspruch auf Leistungen der
Invalidenversicherung.

B. 
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 25. März 2015
ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, der Entscheid vom 25. März 2015 sei aufzuheben und die Sache
zur Abklärung des Rentenanspruchs an die IV-Stelle zurückzuweisen.
Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 

1.1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz auf Rüge hin oder von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht, und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG).

Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG),
doch prüft es, unter Berücksichtigung der Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42
Abs. 1 und 2 BGG sowie Art. 106 Abs. 2 BGG), nur die geltend gemachten
Rechtsverletzungen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 280 mit Hinweisen).

1.2. Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit sind
Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.), ebenso die konkrete
Beweiswürdigung (Urteil 9C_204/2009 vom 6. Juli 2009 E. 4.1, nicht publ. in:
BGE 135 V 254, aber in: SVR 2009 IV Nr. 53 S. 164). Dagegen ist die Beachtung
des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c
ATSG sowie der Anforderungen an den Beweiswert von Arztberichten (vgl. dazu BGE
134 V 231 E. 5.1 S. 232) eine Rechtsfrage (Urteil 8C_105/2014 vom 4. Juli 2014
E. 1.2).

2. 
Die Vorinstanz hat der Stellungnahme des RAD-Arztes Dr. med. B.________ vom 9.
Juli 2013 Beweiswert zuerkannt und gestützt darauf festgestellt, bei der
Beschwerdeführerin bestehe in dem von ihm formulierten Belastungsprofil eine
volle Arbeitsfähigkeit. Der Umstand, dass Dr. med. B.________ die bisher
ausgeübte Tätigkeit nicht bekannt gewesen sei und er keine eigenen
Untersuchungen vorgenommen habe, schmälere den Beweiswert nicht. Es sei nicht
zwingend erforderlich, dass die versicherte Person untersucht werde, wenn, wie
vorliegend, die somatischen Befunde weitestgehend unbestritten und
übereinstimmend gewesen seien und er zudem seine Beurteilung auf die
Einschätzungen der behandelnden Ärzte abgestützt habe. Angesichts der
schlüssigen Einschätzung der Arbeitsfähigkeit durch den RAD-Arzt erübrige sich
eine Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit (EFL) oder eine
Begutachtung.
Dagegen wendet die Beschwerdeführerin im Wesentlichen ein, die Stellungnahme
des RAD vom 9. Juli 2013 beruhe auf einer unvollständigen Aktenlage und sei
nicht nachvollziehbar. Es seien weitere Abklärungen nötig.

3.

3.1. Die regionalen ärztlichen Dienste stehen den IV-Stellen zur Beurteilung
der medizinischen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs zur Verfügung. Sie
setzen die für die Invalidenversicherung nach Art. 6 ATSG massgebende
funktionelle Leistungsfähigkeit der Versicherten fest, eine zumutbare
Erwerbstätigkeit oder Tätigkeit im Aufgabenbereich auszuüben. Sie sind in ihrem
medizinischen Sachentscheid im Einzelfall unabhängig (Art. 59 Abs. 2bis IVG).
Sie können bei Bedarf selber ärztliche Untersuchungen von Versicherten
durchführen. Sie halten die Untersuchungsergebnisse schriftlich fest (Art. 49
Abs. 2 IVV). RAD-Berichten nach Art. 49 Abs. 2 IVV kommt ebenfalls Beweiswert
zu, sofern sie den von der Rechtsprechung umschriebenen Anforderungen an ein
ärztliches Gutachten genügen (BGE 137 V 210       E. 1.2.1 S. 219). Selbst eine
Aktenbeurteilung ohne eigene Untersuchung kann beweiskräftig sein, sofern ein
lückenloser Befund vorliegt und es im Wesentlichen nur um die fachärztliche
Beurteilung eines an sich feststehenden medizinischen Sachverhalts geht, mithin
die direkte ärztliche Befassung mit der versicherten Person in den Hintergrund
rückt. Dies gilt grundsätzlich auch in Bezug auf Berichte und Stellungnahmen
der RAD (Urteil 9C_196/2014 vom 18. Juni 2014 E. 5.1.1 mit Hinweisen).

3.2. Nach der Rechtsprechung ist es dem Sozialversicherungsgericht nicht
verwehrt, einzig oder im Wesentlichen gestützt auf die (versicherungsinterne)
Beurteilung des RAD zu entscheiden. In solchen Fällen sind an die
Beweiswürdigung jedoch strenge Anforderungen in dem Sinne zu stellen, dass bei
auch nur geringen Zweifeln an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der
ärztlichen Feststellungen ergänzende Abklärungen vorzunehmen sind (BGE 135 V
465 E. 4.4 S. 470; 122 V 157 E. 1d S. 162 f.; Urteil 9C_28/2015 vom 8. Juni
2015 E. 3.3).

4.

4.1. RAD-Arzt Dr. med. B.________ hat vorliegend keine eigenen Untersuchungen
durchgeführt, sondern eine reine Aktenbeurteilung vorgenommen. Unter Hinweis
auf die ihm vorliegenden Arztberichte hielt er in seiner Stellungnahme vom 9.
Juli 2013 fest, die attestierten Arbeitsunfähigkeiten seien bis Ende Juni 2013
insofern plausibel, als hier eine komplexe, zunächst ätiologisch ungeklärte
Symptomatik unter Einbezug der rechten Hüfte, des Iliosakralgelenkes (ISG) und
der Lendenwirbelsäule (LWS) vorgelegen habe. Inzwischen habe sich die lumbale
Schmerzsymptomatik gebessert und die Ursache für die Hüftbeschwerden sei
geklärt. Für die Zeit ab dem 1. Juli 2013 würden keine Informationen vorliegen.
In einer körperlich leichten Tätigkeit, überwiegend im Sitzen, mit der
Möglichkeit aufzustehen und kurze Strecken zu gehen, ohne Bücken, Hocken,
Kauern und Knien sowie ohne häufiges Treppensteigen oder lange Arbeitswege, sei
von einer medizinisch-theoretischen Arbeitsfähigkeit von 100 % auszugehen.

4.2. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kann nicht auf die Stellungnahme
des RAD vom 9. Juli 2013 abgestellt werden.

4.2.1. In diagnostischer Hinsicht ist zwar von einem - bis Verfügungserlass -
feststehenden medizinischen Sachverhalt auszugehen. Tatsächlich übernimmt denn
auch RAD-Arzt Dr. med. B.________ die gleichen Diagnosen, wie sie im Bericht
der Ärzte der Klinik für Rheumatologie, Spital C.________, vom 16. Mai 2013
festgehalten sind. Umgekehrt fehlt jedoch eine (andere) fachärztliche
Einschätzung der Arbeitsfähigkeit sowie eine Umschreibung des funktionellen
Leistungsvermögens (Belastungsprofil; vgl. dazu Urteil 9C_848/2014 vom 29.
April 2015 E. 4.3.1) auf der Grundlage einer (aktuellen) klinischen
Untersuchung:
PD Dr. med. E.________, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie,
Orthopädische Chirurgie D.________, nahm zwar eine klinische Untersuchung, u.a.
in Form von Bewegungsprüfungen, vor. Diese tätigte er indessen im Hinblick auf
Therapieoptionen für die rechte Hüfte. Zur funktionellen Leistungsfähigkeit der
Beschwerdeführerin machte er in seinem Bericht vom 2. April 2013 keine
Aussagen. Aus seinen festgehaltenen Beobachtungen können keine Rückschlüsse auf
ein Belastungsprofil gezogen werden. Die Berichte des Rheumatologen KD Dr. med.
F.________, Spital C.________, vom 4. März und 16. Mai 2013 beruhen nicht auf
einer klinischen Untersuchung. Eine Arbeitsunfähigkeit attestierte er nicht,
mit dem Hinweis, eine solche sei vom Hausarzt ausgestellt worden. Er führte
aber weiter aus, die Beurteilung der Einschränkung der Arbeitsfähigkeit habe
mittels fachgerechter Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit (EFL) und
genauer Untersuchung, beispielsweise im Rahmen einer Begutachtung, zu erfolgen.
Angesichts der bestehenden Hüft- und Rückenproblematik sei sicherlich von einer
Einschränkung auszugehen. Der Hausarzt Dr. med. G.________, FMH Innere Medizin,
definierte zwar ein Belastungsprofil (leicht, wechselbelastend, zeitlich
begrenzt), worauf gemäss Vorinstanz indessen nicht abgestellt werden kann.

4.2.2. Überdies ist zu beachten, dass bei Gesundheitsschäden im Bereich der
Orthopädie eine Diagnose des Funktionsausfalles (Funktionsdiagnose), d.h. eine
qualitative und quantitative Analyse der Funktionsstörung des
Bewegungsapparates und seiner Folgen für die versicherte Person, von zentraler
Bedeutung ist. So sind etwa bei den Bewegungsprüfungen nicht die Winkelgrade
ausschlaggebend, sondern die Brauchbarkeit eines Gelenkes, die praktische
Leistungsfähigkeit bzw. die Behinderung im täglichen Leben. Diese sind deshalb
bei der Bewegungsprüfung der einzelnen Gelenke zusätzlich anzugeben. Bei
Gesundheitsschäden an der Wirbelsäule stellt zudem die klinische Untersuchung
(Inspektion) die wichtigste und feinste Prüfung dar. Aufgrund der engen
Verknüpfung der Funktion der Hüften mit der Wirbelsäule ist auch die Prüfung
der Hüftbeweglichkeit integrierender Bestandteil der Rückenuntersuchung
( ALFRED M. Debrunner,      Orthopädie. Orthopädische Chirurgie, 4. Aufl. 2002,
S. 159 f. und S. 783 f. sowie S. 788).

4.3. Im dargelegten Sinn können die Voraussetzungen für eine blosse
Aktenbeurteilung durch den RAD nicht als gegeben erachtet werden. Ein
lückenloser Befund bzw. ein feststehender medizinischer Sachverhalt - abgesehen
von der Diagnosestellung - liegt nicht vor. Hierfür fehlt es namentlich an
einer (anderen) fachärztlichen Einschätzung der Arbeitsfähigkeit und einer
Umschreibung des Belastungsprofils. Desgleichen liegen keine eingehenden
klinischen Erhebungen in Bezug auf die funktionellen Einschränkungen vor. Unter
den gegebenen Umständen durfte der RAD-Facharzt jedenfalls nicht von eigenen
Untersuchungen absehen. Indem die Vorinstanz massgeblich auf die Stellungnahme
des RAD vom 9. Juli 2013 abstellte, missachtete sie die rechtlichen
Anforderungen an den Beweiswert ärztlicher Berichte und verletzte mithin
Bundesrecht. Angesichts des unzureichend abgeklärten Sachverhalts, worin eine
Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes zu erblicken ist, wird die Sache zum
Zwecke der Einholung eines externen (orthopädischen) Gutachtens und zu neuem
Entscheid über die Rentenfrage an die IV-Stelle zurückgewiesen.

5. 
Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu weiterer Abklärung (mit noch
offenem Ausgang) gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch
der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1
sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271). Dementsprechend
sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen
(Art. 66 Abs. 1 BGG), welche der Beschwerdeführerin überdies eine
Parteientschädigung zu bezahlen hat (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichtes des Kantons Zürich vom 25. März 2015 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 5. Februar 2014 werden
aufgehoben und die Sache wird zu neuer Verfügung im Sinne der Erwägungen an
diese zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der IV-Stelle des Kantons Zürich
auferlegt.

3. 
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat die Beschwerdeführerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 1. September 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Trütsch

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