Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 314/2015
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_314/2015

Urteil vom 20. August 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern 3,
Beschwerdeführer,

gegen

 A.________,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
24. März 2015.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügung vom 27. Juni 2013 sprach die Ausgleichskasse Schweizerischer
Baumeisterverband (nachfolgend: Ausgleichskasse) A.________ (geb. 1949), die
gemäss Entscheid des Gerichtspräsidiums B.________ vom ... von ihrem Ehemann
(geb. 1941) gerichtlich getrennt ist, ab 1. Juli 2013 eine einfache Altersrente
in der Höhe von Fr. 2'078.- im Monat zu, woran sie auf Einsprache hin mit
Entscheid vom 26. März 2014 festhielt.

B. 
A.________ führte Beschwerde mit dem Rechtsbegehren, unter Aufhebung des
Einspracheentscheids sei ihr die maximale Vollrente der AHV zuzusprechen.
Mit Entscheid vom 24. März 2015 hob das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
den Einspracheentscheid in teilweiser Gutheissung der Beschwerde auf und sprach
der Versicherten eine volle Altersrente in der Höhe von Fr. 2'134.- (ab 1. Juli
2013) und von Fr. 2'143.- (ab 1. Januar 2015) zu.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), der vorinstanzliche Entscheid sei
aufzuheben.
Die Ausgleichskasse verzichtet auf eine Vernehmlassung. A.________ schliesst
dem Sinne nach auf Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen:

1. 
Die Vorinstanz hat die für die Berechnung der Altersrente massgebenden
Bestimmungen (Art. 29bis Abs. 1, 29ter Abs. 1 und 2 lit. a-c AHVG; Art. 29 Abs.
2 AHVG, Art. 30bis AHVG in Verbindung mit Art. 52 AHVV, Art. 29quater AHVG,
Art. 30 Abs. 1 AHVG, Art. 51bis AHVV, Art. 30 Abs. 2 AHVG, Art. 30bis AHVG in
Verbindung mit Art. 53 AHVV, Art. 29quinquies Abs. 1, 3 und 4 lit. a und b
AHVG) zutreffend wiedergegeben. Es wird darauf verwiesen.

2. 

2.1. Bei der Berechnung der Altersrente der Versicherten hat die
Ausgleichskasse für die Jahre 2006-2009 das von ihr verabgabte Erwerbseinkommen
zugrunde gelegt. Mit Bezug auf die Jahre 2010-2012 ging die Ausgleichskasse
davon aus, dass die Beschwerdegegnerin durch ihren Ehemann (geb. 1941)
mitversichert war. Einkommen aus Splitting rechnete sie nicht an, weil nur
Einkommen aus der Zeit zwischen dem 1. Januar nach Vollendung des 20.
Altersjahres und dem 31. Dezember vor Eintritt des Versicherungsfalls beim
Ehegatten, welcher zuerst rentenberechtigt wird, der Teilung und gegenseitigen
Anrechnung unterliegt (Art. 29quinquies Abs. 4 AHVG).

2.2. Das kantonale Gericht führt aus, die Versicherte beschwere sich zu Recht
darüber, dass sich ihr durchschnittliches Jahreseinkommen durch die angewandte
Berechnungsweise vermindert hat. Einkommen und Erziehungsgutschriften beider
Ehegatten seien durch die Anzahl Beitragsjahre geteilt und die beiden
Quotienten seien addiert worden. Dadurch, dass ihr zwar 3 Jahre, während derer
sie durch ihren Ehemann als mitversichert galt, bei der Beitragsdauer
angerechnet, ihr hingegen für diese Zeit, als ihr Ehemann als Altersrentner
Erwerbseinkommen erzielte, kein Einkommen durch Splitting zugeteilt wurde,
vermindere sich das durchschnittliche Jahreseinkommen substanziell; das
Einkommenstotal nehme nicht mehr zu, die Zahl der Beitragsjahre erhöhe sich
hingegen. Die Vorinstanz erkennt im Umstand, dass spezielle
Berechnungsvorschriften für den Fall der Mitversicherung ohne
Einkommenssplitting fehlen, eine Gesetzeslücke. Eine Regelung dieses
Sachverhalts sei auf Grund eines Irrtums in der Folgenabschätzung unterblieben.
Mit der Schlechterstellung des nichterwerbstätigen Ehegatten würden die Ziele
der mit der 10. AHV-Revision eingeführten Neuerungen vereitelt oder gar ins
Gegenteil verkehrt. Diese Gesetzeslücke sei dadurch zu schliessen, dass
diejenigen Jahre, in welchen die betroffene Person mitversichert im Sinne von
Art. 3 Abs. 3 lit. a AHVG war, ihr jedoch gemäss Art. 29quinquies Abs. 4 lit. a
AHVG beim Splitting kein Einkommen zugeteilt werden kann, zwar hinsichtlich der
Rentenskala als Beitragsjahre zu zählen, bei der Division des Einkommenstotals
zur Berechnung des durchschnittlichen Jahreseinkommens indessen ausser Acht zu
lassen seien. Damit würden sich die Versicherungsjahre mit einem Einkommen von
Fr. 0.- bei der Berechnung des durchschnittlichen Jahreseinkommens nicht mehr
zum Nachteil der nichterwerbstätigen Person auswirken. Gleichzeitig
resultierten auch keine Beitragslücken.
Für den vorliegenden Fall bedeute dies, dass die Jahre 2010-2012, in welchen
die Beschwerdegegnerin durch ihren erwerbstätigen Ehegatten mit
Altersrentenanspruch mitversichert war, zur Bestimmungen der Rentenskala zu
berücksichtigen seien, nicht aber für die Berechnung des massgebenden
durchschnittlichen Jahreseinkommens.

2.3. Das BSV wendet sich in der Beschwerde gegen die vorinstanzliche
Betrachtungsweise. Es hält die Rentenberechnung des kantonalen Gerichts für
gesetzwidrig, systemfremd und inkonsistent. Eine Gesetzeslücke liege nicht vor.
In Art. 29quater in Verbindung mit Art. 30 Abs. 2 AHVG sei die sachlogische
Verknüpfung von Beitragsjahren und rentenbestimmendem Einkommen geregelt: Die
Summe der aufgewerteten Erwerbseinkommen sowie die Erziehungs- oder
Betreuungsgutschriften werden durch die Anzahl Beitragsjahre geteilt. Diese
Bestimmung sei klar und lasse für den vorliegenden Fall keine Lückenfüllung zu.
Ein anderer Divisor als die Anzahl Beitragsjahre könne mit Blick auf diese
Bestimmung im vorliegenden Fall nicht herangezogen werden. Die Versicherte habe
die fraglichen Beitragsjahre erfüllt, weshalb die Rentenskala entsprechend
steige. Gleichzeitig und im nämlichen Umfang steige auch der Divisor. Der
Gesetzgeber habe mit Art. 30bis AHVG dem Bundesrat die Kompetenz eingeräumt,
Vorschriften zur Rentenberechnung zu erlassen. So könne er vorsehen, dass
Beitragsjahre und Erwerbseinkommen für die Zeit, in der eine versicherte Person
eine Invalidenrente bezogen hat, nicht angerechnet werden. Die entsprechende
Regelung finde sich in Art. 51 AHVV. Auf eine ähnliche Ausnahmebestimmung für
Konstellationen wie im vorliegenden Fall habe der Gesetzgeber jedoch bei der
Kodifizierung von Art. 3 Abs. 4 lit. b AHVG, in Kraft seit 1. Januar 2012, in
Kenntnis der geringfügigen Auswirkungen bewusst verzichtet. Schematische
Regelungen, wie sie das AHVG in verschiedenen Fällen vorsieht (z.B. Splitting
bei einem Ehepaar erst beim zweiten Rentenfall; Teilung und Anrechnung der
Einkommen bei Ehepaaren nur bis zum 31. Dezember vor Eintritt des ersten
Versicherungsfalls; Heranziehung von Beitragsjahren, Erwerbseinkommen und
Erziehungsgutschriften für die Rentenberechnung nur bis 31. Dezember vor
Eintritt des Versicherungsfalls) stünden der Schaffung abweichender Regeln im
Hinblick auf im Einzelfall günstigere Ergebnisse entgegen. Es bestehe kein
Raum, anstelle der geltenden Berechnungsvorschriften mittels Lückenschliessung
eine spezielle Berechnungsregel zu schaffen, mit welcher eine höhere als die
von der Verwaltung verfügte Rente bewirkt würde.

3. 

3.1. Eine echte Gesetzeslücke liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts
vor, wenn der Gesetzgeber etwas zu regeln unterlassen hat, was er hätte regeln
sollen, und dem Gesetz diesbezüglich weder nach seinem Wortlaut noch nach dem
durch Auslegung zu ermittelnden Inhalt eine Vorschrift entnommen werden kann.
Von einer unechten oder rechtspolitischen Lücke ist demgegenüber die Rede, wenn
dem Gesetz zwar eine Antwort, aber keine befriedigende zu entnehmen ist. Echte
Lücken zu füllen, ist dem Richter aufgegeben, unechte zu korrigieren, ist ihm
nach traditioneller Auffassung grundsätzlich verwehrt, es sei denn, die
Berufung auf den als massgeblich erachteten Wortsinn der Norm stelle einen
Rechtsmissbrauch dar (BGE 136 III 96 E. 3.3 S. 99 mit Hinweisen; Urteil 6B_17/
2010 vom 6. Juli 2010).

3.2. Wie das BSV richtig feststellt, regelt das AHVG die Berechnung der
Altersrente klar und eindeutig. Diese wird nach Massgabe des durchschnittlichen
Jahreseinkommens berechnet, das sich aus den Erwerbseinkommen, den
Erziehungsgutschriften und den Betreuungsgutschriften zusammensetzt (Art.
29quater AHVG), wobei die Summe der aufgewerteten Erwerbseinkommen sowie die
Erziehungs- oder Betreuungsgutschriften durch die Anzahl der Beitragsjahre
geteilt werden (Art. 30 Abs. 2 AHVG).

3.3. In Bezug auf den vorliegenden Fall steht fest, dass der Altersrente der
Beschwerdegegnerin für die Jahre 2006-2009 das von ihr verabgabte
Erwerbseinkommen zugrunde zu legen ist, während für die Jahre 2010-2012 kein
Einkommen anzurechnen ist. Ebenso wenig können die Jahre 2010-2012, in welchen
die Beschwerdeführerin durch ihren erwerbstätigen Ehegatten mitversichert war,
im Sinne der Schliessung einer Gesetzeslücke zur Bestimmung der anwendbaren
Rentenskala mitberücksichtigt, bei der Division des Einkommenstotals zur
Berechnung des durchschnittlichen Jahreseinkommens hingegen ausser Acht
gelassen werden. Denn angesichts der klaren und eindeutigen gesetzlichen
Normen, welche die Rentenberechnung regeln (Art. 29quater in Verbindung mit
Art. 30 Abs. 2 AHVG), kann keine echte Gesetzeslücke angenommen werden, die
zwangsläufig gerichtlich zu schliessen wäre. Der Gesetzgeber hat sich nicht
vorwerfen zu lassen, eine Frage nicht geregelt zu haben, die hätte geregelt
werden müssen. Wenn singuläre Fragen in Gesetz und Verordnung nicht
ausdrücklich normiert sind, kann daraus nicht ohne weiteres auf eine
Gesetzeslücke geschlossen werden, solange jedenfalls die sich stellende Frage
zumindest dem Grundsatz nach beantwortet ist, wie dies im vorliegenden Fall
zutrifft.
Ob es sich bei dem von der Vorinstanz thematisierten Sachverhalt - der
fehlenden Teilung der im Rentenalter erzielten Einkommen mit der Ehegattin mit
der Folge, dass für diese ein geringeres durchschnittliches Jahreseinkommen
resultiert - um einen rechtspolitischen Mangel handelt, kann offen bleiben.
Eine derartige unechte Gesetzeslücke müsste vom Gericht hingenommen werden (E.
3.1 hievor). Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass eine jüngere Ehegattin,
deren Ehemann über das Erreichen des Rentenalters hinaus erwerbstätig ist, von
dessen AHV-Beiträgen hinsichtlich ihres massgebenden durchschnittlichen
Jahreseinkommens nicht profitiert, insoweit jedoch nicht eine richterlich zu
schliessende Gesetzeslücke angenommen werden kann, weil das Gesetz die
Berechnung der Altersrente nach Massgabe von Erwerbseinkommen, Erziehungs- und
Betreuungsgutschriften sowie der Anzahl Beitragsjahre als Divisor klar regelt
und Berechnungsmethoden, die in einem Einzelfall zu einem für die versicherte
Person günstigeren Ergebnis führten, nach Gesetz nicht vorgesehen sind, wie das
BSV zu Recht geltend macht.

3.4. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber davon abgesehen
hat, den Bundesrat in einer Delegationsnorm damit zu beauftragen, für
Spezialfälle wie den vorliegenden Regelungen zu treffen. Wie schliesslich der
Botschaft des Bundesrates vom 3. Dezember 2010 zur Änderung des AHVG
(Verbesserung der Durchführung) zu entnehmen ist, wurde auch im neuen Art. 3
Abs. 4 AHVG (in Kraft seit 1. Januar 2012), in welchem ein entsprechender
Zusatz hätte eingefügt werden können, von einer entsprechenden Regelung, wie
sie die Vorinstanz vorschlägt, abgesehen (BBl 2011 543, 548 Ziff. 2.1).

4. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 24. März 2015 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid
der Ausgleichskasse Schweizerischer Baumeisterverband vom 26. März 2014
bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und der Ausgleichskasse Schweizerischer Baumeisterverband schriftlich
mitgeteilt.

Luzern, 20. August 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Widmer

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben