Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 278/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_278/2015

Urteil vom 2. Februar 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Grünenfelder.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andreas Burren,
Beschwerdeführer,

gegen

REVOR Sammelstiftung 2. Säule, Mattenstrasse 8, 3073 Gümligen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Berufliche Vorsorge,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
10. März 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1977 geborene A.________ arbeitete ab März 2006 bei der B.________ AG als
Lastwagenchauffeur und war bei der REVOR Sammelstiftung 2. Säule (nachfolgend:
REVOR) berufsvorsorgeversichert. Am 31. März 2008 erfolgte die Auflösung des
Arbeitsverhältnisses und der Austritt aus der Vorsorgeeinrichtung. Im Januar
2010 meldete sich A.________ aufgrund psychischer Einschränkungen bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die medizinischen Abklärungen
ergaben insbesondere eine (rezidivierende) depressive Störung und akzentuierte
Persönlichkeitszüge (vgl. psychiatrisches Gutachten vom 11. August 2012). Die
IV-Stelle des Kantons Aargau sprach A.________ nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom 24. Oktober 2012 ab 1. Oktober 2011
eine ganze Invalidenrente zu (Invaliditätsgrad: 90 %).
Die REVOR verneinte eine Leistungspflicht, weil sie den erforderlichen (engen)
zeitlichen Zusammenhang zwischen der Arbeitsunfähigkeit während des
Vorsorgeverhältnisses und der späteren Invalidität für unterbrochen hielt
(Schreiben vom 10. Oktober 2012).

B. 
Am 15. Januar 2015 erhob A.________ Klage gegen die REVOR mit dem
Rechtsbegehren, diese habe ihm ab 1. Oktober 2011 eine BVG-Invalidenrente sowie
eine überobligatorische Rente zu entrichten. Mit Entscheid vom 10. März 2015
wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Klage ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten macht A.________
geltend, der Entscheid vom 10. März 2015 sei aufzuheben und erneuert das
vorinstanzliche Klagebegehren; eventualiter verlangt er die Rückweisung der
Streitsache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung. Sodann ersucht A.________ um
unentgeltliche Rechtspflege.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 

2.1. Die Vorinstanz hat eine Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin einerseits
mit der Begründung verneint, dass vor Ende März 2008 (Ende des
Vorsorgeverhältnisses) keine relevante Arbeitsunfähigkeit von mindestens 20 %
gegeben war, die auf einem psychischen Leiden gründete. Andererseits hat sie
erwogen, dass selbst bei Vorliegen einer relevanten Einschränkung von einem
Unterbruch des engen zeitlichen Zusammenhanges zwischen der Arbeitsunfähigkeit
während des Vorsorgeverhältnisses und der späteren Invalidität auszugehen ist,
weil der Versicherte zwischenzeitlich für angepasste Tätigkeiten zu 100 %
arbeits- und vermittlungsfähig war.

2.2. Eine Bindung der Vorsorgeeinrichtung (vgl. BGE 133 V 67 E. 4.3.2 S. 69;
130 V 270 E. 3.1 S. 273) an die Verfügung der IV-Stelle vom 24. Oktober
2012besteht unbestritten nicht.

2.3.

2.3.1. Für den Eintritt der Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 23 lit. a BVG
ist die Einbusse an funktionellem Leistungsvermögen im bisherigen Beruf
massgeblich; sie ist relevant, wenn sie mindestens 20 % beträgt und sich auf
das Arbeitsverhältnis sinnfällig auswirkt oder ausgewirkt hat (SVR 2014 BVG Nr.
1 S. 1, 9C_98/2013 E. 4.1; SVR 2011 BVG Nr. 14 S. 51, 9C_297/2010 E. 2.1).

2.3.2. Die Leistungspflicht einer Vorsorgeeinrichtung für eine erst nach
Beendigung des Vorsorgeverhältnisses eingetretene oder verschlimmerte
Invalidität bedingt, dass zwischen der relevanten Arbeitsunfähigkeit und der
nachfolgenden Invalidität ein enger sachlicher und zeitlicher Zusammenhang
besteht (BGE 136 V 65 E. 3.1 S. 68). Letzterer setzt voraus, dass die
versicherte Person nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit nicht während längerer
Zeit, d.h. in der Regel während mindestens dreier Monate (vgl. Art. 88a Abs. 1
IVV), wieder (annähernd) vollständig arbeitsfähig war (Urteil 9C_656/2014 vom
16. Dezember 2015 E. 5.1.1 mit Hinweis), was sich nach der Arbeits (un)
fähigkeit in einer der gesundheitlichen Beeinträchtigung angepassten zumutbaren
Tätigkeit beurteilt (BGE 134 V 20 E. 5.3 S. 27; Urteil 9C_292/2008 vom 22.
August 2008 E. 2.2.2).

2.4.

2.4.1. Entscheidungserhebliche Feststellungen der Vorinstanz zur Art des
Gesundheitsschadens (Befund, Diagnose etc.) und zur Arbeitsfähigkeit, die
Ergebnis einer Beweiswürdigung sind, binden das Bundesgericht, soweit sie nicht
offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruhen (E. 1). Dies gilt auch für den Zeitpunkt des Eintritts der
Arbeitsunfähigkeit, deren Ursache zur Invalidität geführt hat (Art. 23 lit. a
BVG; SVR 2008 BVG Nr. 31 S. 126, 9C_182/2007 E. 4.1.1). Frei zu prüfende
Rechtsfrage ist dagegen, nach welchen Gesichtspunkten die Entscheidung über den
Zeitpunkt des Eintritts einer rechtserheblichen Arbeitsunfähigkeit erfolgt (SVR
2013 BVG Nr. 49 S. 206, 9C_91/2013 E. 4.3.2 mit Hinweisen), und ob diese
Entscheidung auf einer genügenden Beweislage beruht (Urteil 9C_752/2008 vom 9.
April 2009 E. 1.2 und 2.3).

2.4.2. Eine Beweiswürdigung ist nicht bereits dann willkürlich (zum Begriff der
Willkür: BGE 140 III 16 E. 2.1 S. 18 f. mit Hinweisen), wenn eine andere Lösung
ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern erst dann,
wenn der Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in
klarem Widerspruch steht oder auf einem offenkundigen Fehler beruht (BGE 127 I
54 E. 2b S. 56, 135 V 2 E. 1.3 S. 4 f.).

3.

3.1. Die Vorinstanz hat festgestellt, aufgrund der medizinischen Akten sei zwar
belegt, dass der Versicherte von Oktober 2007 bis maximal Ende März 2008
arbeitsunfähig gewesen sei. Allerdings sei ab dann bis im Dezember 2009/Januar
2010 überhaupt keine Arbeitsunfähigkeit aufgrund der psychischen Beschwerden
dokumentiert und eine solche von Dauer sogar erst ab Oktober 2010 ausgewiesen.
Sodann ist den vorinstanzlichen Erwägungen zu entnehmen, der Versicherte habe
nach der Kündigung im November 2007 als voll Vermittlungsfähiger bis zu seiner
Abmeldung und somit während rund 19 Monaten (abgesehen von den
Zwischenverdiensten) Taggelder der Arbeitslosenkasse bezogen.

3.2. 

3.2.1. Aus der Verfügung des Amtes für Wirtschaft und Arbeit (AWA) vom 4.
Januar 2008 geht klar hervor, dass die Arbeitsunfähigkeit des Versicherten von
50 % ab 29. Oktober 2007 (vgl. hausärztliches Zeugnis vom 14. November 2007)
einzig dessen bisherige Tätigkeit als Chauffeur bei der B.________ AG betrifft.
Zwar ist dem psychiatrischen Bericht von med. pract. C.________ und Dr. med.
D.________ vom 28. Juli 2009, worauf der Beschwerdeführer Bezug nimmt, zu
entnehmen, dass die diagnostizierte depressive Störung (mittelgradige
depressive Episode [ICD-10 F32.11]) (wohl) seit 2007 andauere. Dass der
Versicherte aufgrund dieser Diagnose (für angepasste Tätigkeiten)
arbeitsunfähig gewesen wäre, ist jedoch nicht ausgewiesen. Dagegen spricht
insbesondere, dass ihm die behandelnde Psychiaterin med. pract. C.________ noch
im November 2007 keine Arbeitsunfähigkeit bescheinigte (vgl. Bericht über die
Erstkonsultation vom 12. November 2007); später attestierte sie dem
Beschwerdeführer lediglich eine kurzzeitige Einschränkung (50 %) für zwei
Wochen, was nicht genügt (vgl. Eintrag Krankengeschichte vom 2. September
2009). Eine relevante Arbeitsunfähigkeit (80 bis 100 %) findet, wie die
Vorinstanz festgestellt hat, erst ab 6. Oktober 2010 eine Stütze (vgl.
psychiatrisches Gutachten von Dr. med. E.________ vom 11. August 2012, S. 12;
Bericht von lic. phil. F.________ und Dr. med. G.________ vom 14. Dezember
2010, S. 3). Davon ging im Übrigen auch med. pract. H.________ vom Regionalen
Ärztlichen Dienst (RAD) aus (vgl. Stellungnahme vom 15. August 2012). Soweit
der Beschwerdeführer vorbringt, aus diesem Bericht könne "ohne Not" geschlossen
werden, dass bereits seit 2007 eine relevante Arbeitsunfähigkeit vorgelegen
habe, dringt er schon mit Blick auf die eingangs erwähnten Beweisgrundsätze
nicht durch (E. 2.4.2).

3.2.2. Sodann hat das kantonale Gericht auch den Umstand, dass die ab Oktober
2008 und insbesondere 2009 angenommenen Beschäftigungen (Zwischenverdienste)
des Versicherten (vgl. Auszug aus den Individuellen Konten) nur von kurzer
Dauer waren, einlässlich gewürdigt. Es hat für entscheidwesentlich befunden,
dass dieser unbestritten während langer Monate bei der Arbeitslosenversicherung
als voll vermittlungsfähig galt. Eine willkürliche Beweiswürdigung ist auch
darin nicht zu ersehen, zumal der Beschwerdeführer selber darlegt, er habe
gegenüber der Arbeitslosenversicherung (fast) durchwegs erklärt, voll
arbeitsfähig zu sein. Dass die kurzen Arbeitsverhältnisse (allein) auf seine
psychische Verfassung zurückzuführen sein sollen, ist durch nichts belegt (Art.
42 Abs. 2 BGG) und stellt eine reine Behauptung dar; Weiterungen dazu erübrigen
sich. Angesichts der klaren Aktenlage kann der Beschwerdeführer schliesslich
auch aus der Rechtsprechung zum zeitlichen Konnex zwischen Arbeitsunfähigkeit
und Invalidität bei Schubkrankheiten (vgl. Urteil 9C_126/2013 vom 13. August
2012 E. 4.1 mit Hinweisen), soweit es sich hier überhaupt um eine solche
handelt, nichts zu seinen Gunsten ableiten.

3.3. Insgesamt hat die Vorinstanz den Gegebenheiten des konkreten Einzelfalles
hinreichend Rechnung getragen und unter Berücksichtigung der relevanten
Umstände eine korrekte Beweiswürdigung durchgeführt. Die vorinstanzliche
Schlussfolgerung, wonach der enge zeitliche Zusammenhang zwischen der
Arbeitsunfähigkeit des Versicherten und seiner späteren Invalidität aufgrund
der zwischenzeitlich wiedererlangten Arbeitsfähigkeit für angepasste
Tätigkeiten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als unterbrochen zu gelten hat
(BGE 134 V 20 E. 5.3 S. 27), ist weder willkürlich noch sonstwie
bundesrechtswidrig (E. 1). Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob
während des Vorsorgeverhältnisses eine relevante Arbeitsunfähigkeit von 20 %
vorlag oder nicht und ob ein enger sachlicher Zusammenhang besteht. Nach dem
Gesagten erübrigt sich die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz. Die
Beschwerde ist unbegründet.

4. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer grundsätzlich
die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG;
BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4
BGG hingewiesen, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz
zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen, und es wird dem
Beschwerdeführer Rechtsanwalt Dr. Andreas Burren als Rechtsbeistand beigegeben.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Rechtsanwalt Dr. Andreas Burren wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 2. Februar 2016

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder

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